"Geistlich gesinnt"

"Geistlich gesinnt"
Predigt von Pfrn. Caroline Schröder Field zu Römer 8,1-11
Letzter Sonntag nach Epiphanias - 17. Januar 2016
Basler Münster
"So gibt es nun keine Verdammnis für die, die in Christus Jesus sind. Denn das
Gesetz des Geistes, der lebendig macht in Christus Jesus, hat dich frei gemacht
von dem Gesetz der Sünde und des Todes. Denn was dem Gesetz unmöglich
war, weil es durch das Fleisch geschwächt war, das tat Gott: Er sandte seinen
Sohn in der Gestalt des sündigen Fleisches und um der Sünde willen und
verdammte die Sünde im Fleisch, damit die Gerechtigkeit, vom Gesetz gefordert,
in uns erfüllt würde, die wir nun nicht nach dem Fleisch leben, sondern nach dem
Geist. Denn die da fleischlich sind, die sind fleischlich gesinnt; die aber geistlich
sind, die sind geistlich gesinnt. Aber fleischlich gesinnt sein ist der Tod, und
geistlich gesinnt sein ist Leben und Friede. Denn fleischlich gesinnt sein ist
Feindschaft gegen Gott, weil das Fleisch dem Gesetz Gottes nicht untertan ist;
denn es vermag's auch nicht. Die aber fleischlich sind, können Gott nicht
gefallen. Ihr aber seid nicht fleischlich, sondern geistlich, wenn denn Gottes Geist
in euch wohnt. Wer aber Christi Geist nicht hat, der ist nicht sein. Wenn aber
Christus in euch ist, so ist der Leib zwar tot um der Sünde willen, der Geist aber
ist Leben um der Gerechtigkeit willen. Wenn nun der Geist dessen, der Jesus von
den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, so wird er, der Christus von den Toten
auferweckt hat, auch eure sterblichen Leiber lebendig machen durch seinen
Geist, der in euch wohnt."
Gottfried Keller blickt in seinem Roman "Der grüne Heinrich" auf seine
Konfirmation zurück. Diese fand im Jahre 1834 an Weihnachten statt. Er erinnert
sich, wie er sich erfolgreich dagegen zur Wehr setzte, Hut und Frack zu tragen.
Stattdessen kleidete er sich mit einem "hübschen kurzen Rock aus grünem
Tuch". Doch nicht seine Auflehnung gegen die bürgerliche Kleiderordnung soll
uns hier interessieren, sondern wie die Predigt bei ihm haften blieb. Gottfried
Keller erinnert sich in der Person des grünen Heinrichs: "Die Ansprache des
Geistlichen gefiel mir sehr wohl; ihr Hauptinhalt war, dass von nun an ein neues
Leben für uns beginne, das alle bisherigen Vergehungen vergeben und vergessen
sein sollten, hingegen die künftigen mit einem strengern Masse gemessen
würden."
Was dem jungen Gottfried Keller Eindruck machte, war vielleicht beides:
einerseits dass da wirklich ein kraftvolles "Schwamm drüber" über alle
vergangenen Sünden gelten sollte. Und andererseits, dass die künftigen Sünden
umso mehr Beachtung finden würden. So kann man Gnade verstehen, und so
hat es der junge Gottfried Keller wohl auch zu hören bekommen: Dir wird ein
Neuanfang geschenkt! Das Alte ist vergangen, lass es hinter dir wie die Schule,
aus der du verwiesen wurdest, wie dein Elternhaus und die Strassenzüge deiner
Kindheit. Brich zu Neuem auf, ja, sei gewiss, dass alles Gewicht und alle
Bedeutung auf diesem Neuen ruhen!
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Für junge Menschen mag diese Perspektive ein verlockendes Versprechen sein.
Alles hängt davon ab, wie sie jetzt Schritt für Schritt weitergehen. Befreit sind sie
von der lästigen Vergangenheit und werfen sich der Zukunft in die Arme, als
könne diese nie zu einer Last werden. Wer dagegen schon öfter erlebt hat, wie
sich Zukunft unmerklich in Vergangenheit verwandelt, indem sie durch das
Nadelöhr der Gegenwart gleitet, der ahnt, dass wir Menschen einer Gnade
bedürfen, die uns nicht nur von vergangener Sünde freispricht, sondern gerade
auch von der künftigen. Denn entgehen können wir ihr nicht.
Als Christinnen und Christen empfangen wir nicht etwa bloss das Geschenk eines
einzigen Neuanfangs, festgelegt auf das Datum der Taufe, der Konfirmation oder
einer persönlichen Bekehrung. Wir erleben viele Neuanfänge. Sie reihen sich
aneinander wie die Tage eines Kalenderjahres. Jedes Mal wenn die Sonne
aufgeht, bannt sie unsere schweren Träume und Gedanken in die Kammer der
vergangenen Nacht. "Er weckt mich alle Morgen", dichtete Jochen Klepper im
Jahre 1938, in einer politisch besonders finsteren Zeit (RG 574). Und mit jedem
neuen Morgen ist die "Nacht auch meiner Sünden" im Vergehen (RG 566). Das
ganze Leben ist ein einziger, wiederkehrender Neuanfang. Auch wenn wir das
Gefühl haben, die Mühe lohne sich nicht, weil wir ja doch nicht über unseren
Schatten springen können, weil wir uns immer selbst mitnehmen und immer in
die selben Löcher fallen, so kann uns doch das Glück, neu anfangen zu dürfen,
niemand mehr streitig machen. Es gibt keine Verdammnis. Auch wo wir künftig
versagen, droht uns nicht das Gericht. Es gibt keine Verdammnis für die, die in
Christus Jesus sind. Und dies ist gerade keine billige Gnade.
Billig wäre sie, wenn wir sagten: dieses ganze Gerede davon, dass wir unter
Gottes Gericht stehen, sei Unsinn von gestern. Wenn wir sagten: so haben
frühere Generationen geglaubt. Wir dagegen würden weder in dieser noch in
jener Welt von einer anderen Macht gerichtet als von uns selbst, und daher gäbe
es keine Verdammnis ausser der, mit der wir uns selbst verdammen. So könnten
wir sprechen. Doch was hätten wir damit gewonnen? Wir sind die Verdammnis
los um den Preis einer grossen Einsamkeit. Und ist es nicht so, dass sich die
Einsamkeit immer mehr ausbreitet, obwohl wir Menschen immer zahlreicher
werden und uns immer effizienter vernetzen? Ich meine nicht nur die soziale
Einsamkeit in unseren westlichen Gesellschaften, sondern auch die vertikale, die
geistliche Einsamkeit: die Einsamkeit des Menschen in der Gottesleere des
Universums.
In unserem geistigen Horizont ist kein Wort mehr, das Fleisch werden könnte,
sondern nur noch zerlegbare, manipulierbare Materie, aus der wir selbst
bestehen und in die wir wieder zerfallen. Da ist kein Himmel mehr, auf dessen
Wolken der Menschensohn zum Gericht erscheinen könnte. In keinem Buch mehr
werden die Namen der Menschen festgehalten. Ihre Taten finden nirgendwo
Erwähnung ausser in den sozialen Medien, die sie selber bespielen. Ihre Leiden
erwartet kein Trost. Ihre Freiheit war schon immer eine Selbsttäuschung, und
wer stirbt, stirbt ohne Grund und Sinn. Es gibt keinen Kläger und keine Anklage,
nur ein grosses, dumpfes Schweigen. Doch niemand muss es lange hören, da
sowohl Kriegs- als auch Friedenszeiten ihren eigenen Lärm produzieren. Der
Geist hat keinen Raum in einer Welt, in der wir die Verdammnis auf billige Weise
losgeworden sind.
Doch wenn wir Paulus lesen, hören wir: Auf billige Weise sind wir die
Verdammnis nicht losgeworden. "Gott sandte seinen Sohn in der Gestalt des
sündigen Fleisches und verdammte die Sünde im Fleisch." Nicht weil von
Verdammnis keine Rede mehr sein kann, sind wir sie los. Nicht weil dies immer
schon ein untragbares Konzept gewesen wäre. Sondern weil da einer mit uns ist,
der ist Gott lieb und teuer. Gott sandte seinen Sohn. Und dieser trug alles, was
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wir hätten tragen müssen. Ein hoher Preis, und dass nicht wir ihn zahlen
müssen, macht ihn nicht ungeschehen.
Es ist darum - vor Gott ! - von Gewicht, wenn wir "in Christus Jesus" sind. Wir
sind als Menschen nur darum der vertikalen Einsamkeit enthoben, weil wir in ihm
gefunden werden. Gott weiss das längst. Es ist ja seine Tat. Er wird uns darum
nicht woanders suchen. Wir aber suchen uns woanders und sind erst "geistlich
gesinnt", wenn wir uns in Christus gefunden haben. Genau darin besteht das,
was Paulus "geistliche Gesinnung" nennt, und ohne "geistliche Gesinnung"
können wir vom Menschen nicht reden, wenigstens nicht hoffnungsvoll.
Gewiss, es ist nicht leicht, den Menschen auf einen Begriff zu bringen. Noch
schwieriger ist es, den Menschen auf zwei Begriffe zu bringen. Paulus hämmert
uns die Worte "Fleisch" und "Geist" ein, und wir meinen zu verstehen und
verstehen gar nichts. Vielleicht übersetzen wir diese Begriffe insgeheim und
denken: "Wenn der Leib stirbt, dann wird die Seele freigesetzt und kehrt in ihre
himmlische Heimat zurück." Diese Vorstellung ist immer noch äusserst beliebt,
obwohl viele unter uns ganzheitlich vom Menschen sprechen möchten. Aber
spätestens am Grab, wenn ein fünfjähriges Kind fragt: "Wo ist denn der Opa
jetzt?", greifen wir auf die vertraute Unterscheidung von Seele und Leib zurück.
Für
einen
Augenblick
lassen
selbst
hartgesottene
Agnostiker
ihr
naturwissenschaftlich-kohärentes Weltbild links liegen und sagen leise, doch
nicht ganz ohne Hoffnung: "Opas Körper ist jetzt in der Erde, aber seine Seele,
die ist da oben im Himmel." Und unversehens leuchtet in uns etwas von der
Überzeugung früherer Generationen auf, dass nämlich das Wesentliche unsere
immaterielle Seele sei, weil sie einer anderen Sphäre angehört als unser Leib mit
seiner verführerischen und zum Verlöschen bestimmten Sinnlichkeit. Und kaum
ist diese Überzeugung in uns aufgeblitzt, schütteln wir sie wieder ab und gehen
auf Distanz zu der Undankbarkeit unserer Vorfahren gegenüber allem
Körperlichen, als habe sich je eine Seele frei von ihrem Leib entwickelt.
Wenn wir also die Worte des Paulus aus Römer 8 hören, dann könnten wir
meinen,
Paulus
schlage
in
dieselbe
Kerbe
einer
beklagenswerten
Leibfeindlichkeit, da er doch das "Fleisch" so schlecht wegkommen lässt und nur
den "Geist" auf Gottes Seite sieht. Doch die Begriffe des Paulus sind nicht unsere
Begriffe. "Fleisch" und "Geist" sind nicht dasselbe wie Leib und Seele. "Fleisch"
und "Geist" sind vielmehr zwei Haltungen, zwischen denen der Mensch nicht
wählen kann, denn es steht ihm fataler Weise immer nur eine zur Verfügung.
Geist zu sein ist dem Menschen unerschwinglich. Geistlich gesinnt zu sein,
ebenso. Und wenn Paulus den Menschen auf die andere Haltung festgelegt sieht,
auf die Haltung, die er "Fleisch" nennt, dann heisst das nicht, dass der Mensch
Leib sei und sonst nichts. Nein, gerade in seinem Denken, in seinem Fühlen und
Handeln ist der Mensch "Fleisch": gerade da, wo sich er, wo sie sich als geistiges
Wesen erfährt, als Person mit Ressourcen, als Subjekt ihres Handelns, gerade
da, wo sich der Mensch vom Tier vornehm unterschieden glaubt, gerade da er in
sich nicht nur Instinkte und Triebe, sondern auch Freiheit, Verantwortung und
Würde findet, gerade da ist er "Fleisch". Gerade da vergeht er. Gerade da ist er
des Todes. Gerade da wirft er Gott ab, als habe es Gott nie gegeben.
Darum erreicht niemand eine geistliche Gesinnung, wenn er etwa seinen Leib
missachtet, seine Sinnlichkeit leugnet, die Sexualität verteufelt oder die Gefühle
der Vernunft unterwirft. Nicht dass wir unsere Seelenkräfte in eine gottgewollte
Ordnung bringen und unseren trägen Leib unter Kontrolle halten, ist der Weg zur
Erlösung. Dies sollten wir uns gleich schon einmal merken, sofern wir vorhaben,
in der nächsten Passionszeit zu fasten. Wir können bestenfalls unseren Leib
beherrschen. Aber über unser "Fleisch"-Sein kommen wir nicht hinaus. Wir
kämen nie darüber hinaus, wenn wir es nicht bereits wären.
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Und genau dies hat Paulus der Gemeinde in Rom zugesprochen. "Ihr aber seid
nicht fleischlich, sondern geistlich, wenn denn Gottes Geist in euch wohnt." Nur
als Zuspruch ist dieser Satz wahr. Ich kann ihn mir nicht selber sagen. Ich kann
nicht an mir selber feststellen, dass ich "geistlich gesinnt" bin. Woran sollte ich
das auch bemerken? Geistlich gesinnt zu sein, ist mir unerschwinglich, weil ich
diese Haltung gar nicht wählen kann. Der Geist, der hier entscheidet, das bin
nicht ich. Der Geist, der hier entscheidet, ist Gottes Geist, der meiner wird, und
dennoch nie ein Teil von mir oder gar mein persönliches Charisma.
Und gerade darum, weil der Geist, der in mir wohnt, Gottes Geist ist und nicht
ein Teil meiner schrulligen Persönlichkeit, gerade darum darf ich mich auf diese
neue Lebensmöglichkeit verlassen. Sie allein ist überhaupt Lebensmöglichkeit.
Alle anderen Möglichkeiten, die ich selbstwählend ergreife, fallen unter die
Kategorie "Fleisch" und sind des Todes.
Und der Tod soll nicht verschwiegen werden. Er zeichnet das Leben, auch wenn
es sich geistlich ausrichtet. Vielleicht wird gerade bei den "geistlich Gesinnten"
besonders deutlich, wie sehr sie vom Tode gezeichnet sind und doch das Leben
in sich tragen. Paulus findet an anderer Stelle Worte, die die Spannung zwischen
dem Tod, der uns zeichnet, und dem Leben, zu dem wir bestimmt sind,
aufnehmen. Seine Worte beschönigen die Todesspuren nicht und tragen doch die
Kraft neuen Lebens in sich: "In allem sind wir bedrängt, aber nicht in die Enge
getrieben, ratlos, aber nicht verzweifelt, verfolgt, aber nicht verlassen, zu Boden
geworfen, aber nicht am Boden zerstört. Allezeit tragen wir das Sterben Jesu an
unserem Leib, damit auch das Leben Jesu an unserem Leib offenbar werde." (2
Korinther 4,8-10)
Liebe Gemeinde, nicht der vermeintliche Seelenfunke, der unseren vergänglichen
Leib unverletzt übersteht, ist der Ursprung unserer geistlichen Gesinnung, wenn
wir denn je eine haben. Der Ursprung unserer geistlichen Gesinnung ist Christus,
sein Sterben und sein neues Leben. "Geistlich gesinnt" sind wir, indem uns ein
anderer zu Gleichnissen seines Todes und darum künftig auch zu Gleichnissen
seiner Auferstehung einsetzt. (Karl Barth, Kirchliche Dogmatik, IV, 4, 217). Ob
der grüne Heinrich das ahnte, als er der Konfirmationspredigt seines Pfarrers am
Weihnachtstag innerlich applaudierte?
Gott, herrlich ist dein Name überall auf der Erde,
überall, wo Menschen leben,
lässt du deine Herrlichkeit durchblicken
durch die Wolkendecke bedrängender Sorgen,
durch die Risse im wohl gepflegten Image.
Dank und Lob sei dir dafür in Jesus Christus,
der an deiner Herrlichkeit teilhat wie kein anderer Mensch,
und sie aufstrahlen liess in heilsamen Worten
im Leben und Leiden,
von der Krippe bis zum Kreuz.
Durch ihn treten wir ein im Gebet für alle,
deren letzte Hoffnung vielleicht gerade unsere Fürbitte ist.
Wache über jenen, deren Leben aus dem Tritt geriet durch Not oder Gewalt, durch
Krankheit und Verlust, durch Ursachen, die uns verborgen sind.
Lass ihnen Kräfte zuwachsen, das Leiden zu tragen, das Leben auszuhalten, das Gute
wieder neu zu entdecken und deinen Segen noch einmal zu empfangen.
Wenn wir vor den Nachrichten erschrecken, die uns erreichen, lass uns nicht erstarren.
Hilf uns, dir anvertrauen, was uns aufrichtig und tief betrifft.
Baue uns auf durch manche gute Nachricht und lehre uns hoffen für die Schöpfung, die
du selbst bewahren willst, und für die Menschheit, der du unverdrossen Leben und
Frieden in Aussicht stellst.
Amen.
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