Peter Ehrlich Auf dem Weg zu einer Europäischen Öffentlichkeit. Zehn Punkte. 1) Gibt es eine Europäische Öffentlichkeit? Per Definition ja. Wir alle sind nicht nur Staatsbürger und Wähler in Deutschland oder einem anderen EU-Land, wir sind auch Unionsbürger und Wähler des Europäischen Parlaments. Vielen Menschen mag diese von Jürgen Habermas beschriebene Doppelrolle nicht klar sein. Aber diese sozusagen „doppelte Staatsbürgerschaft“ hat in der Euro-Krise und den damit verbundenen politischen Diskussionen an Bedeutung gewonnen. 2) Die nationale Öffentlichkeit spielt im Diskurs über Demokratie meist die größte Rolle. Das Verhalten der Regierungen auf europäischer Ebene orientiert sich sehr stark an diesen nationalen Öffentlichkeiten. Die nationale Öffentlichkeit wird aber möglicherweise überschätzt, auch weil sich in ihr die meisten politischen Kommunikationsprofis tummeln. Für den Bürger baut sich Öffentlichkeit wie Demokratie auf: Erst das Umfeld, dann die Region, dann der Staat, Europa und die Welt. 80 Prozent aller Themen, die in Berlin diskutiert werden, erreichen die breite Masse der Bürger und Wähler nicht, das ist nicht anders als bei den EU-Themen. 3) Schon als es noch kein Internet gab, war von „Weltöffentlichkeit“ die Rede. Die Welt ist trotz aller internationaler Organisationen kein einheitlicher demokratischer Entscheidungsraum, die EU ist es, da alle hier getroffenen Entscheidungen letztlich durch den demokratischen Souverän legitimiert sind. Die „europäische Öffentlichkeit“ ist im Vergleich zur Weltöffentlichkeit weit fortgeschritten. 4) Das Thema Zukunft des Euro wurde und wird in allen 17 Euro-Ländern und auch einigen Nachbarstaaten seit zweieinhalb Jahren fortlaufend diskutiert. Die Meinungen sind zwar unterschiedlich, aber man kennt auch Meinungen aus anderen Staaten. Einer Besucherin aus den USA ist im Juni aufgefallen: Auf der Fanmeile zur Fußball-EM in Berlin wusste fast jeder, wer der griechische Oppositionspolitiker Alexis Tsipras ist und wofür er steht. In Europa weiß jeder, der sich auch nur irgendwie für das Thema interessiert, dass Angela Merkel bei der Euro-Rettung das letzte Wort, und gemessen an all den bitteren Kommentaren in Zeitungen und von Intellektuellen ist die Kanzlerin dafür in Europa noch erstaunlich beliebt. 5) Anders als unser tägliches Verhalten als Profis und die Twitter-Nachrichten im Minutentakt erahnen lassen, muss man sich Öffentlichkeit eher als schlafend vorstellen. Sie wacht auf, wenn es um klar bestimmte Entscheidungen und klare politische Gegensätze geht. Die deutsche Gesellschaft ist derzeit nicht besonders polarisiert, wie man gerade an der Debatte über die Homo-Ehe sieht, die anders als in den USA nicht wirklich intensiv geführt wird. Die Euro-Debatte ist aber hoch emotional. Zwar sind die harten Euro-Gegner in der Minderheit (in der Mehrheit sind sie nur in den Internet-Foren und –Kommentaren), aber sehr viele Bürger wollen doch wissen, wie es weitergeht. Kein Wunder, es geht ja auch ums Geld und da ist jeder irgendwie betroffen. Die Mehrheit zweifelt nicht am Euro an sich, macht sich aber Sorgen über seine Zukunft. 6) Vor der Europawahl 2014 wird die europäische Öffentlichkeit anders sein als bei allen anderen Europawahlen bisher. Es wird mehrere Spitzenkandidaten geben, und einer von ihnen wird dann Kommissionspräsident. Dieses Amt wurde bisher immer in Hinterzimmern ausgekungelt. Nationale Stimmungen werden immer noch die größere Rolle spielen, aber vielen Wählern wird erstmals bewusst werden, dass sie über Politiker abstimmen, die nicht aus ihrem eigenen Land kommen. Die Parteifamilien müssen erstmals Kandidaten präsentieren, die einen Wahlkampf in der ganzen EU bestehen können. 7) Dafür muss sich die Kommunikation der europäischen Institutionen radikal ändern, das ist ein mühsamer Prozess. Seit Jahrzehnten wird vor den Europawahlen um die Teilnahme geworben, weil man damit Europa stärke. Aber niemand geht zur Bundestagswahl, um Deutschland zu stärken. Wähler können nur gewonnen werden, wenn sie das Gefühl haben, dass sie etwas beeinflussen können. Deswegen braucht man inhaltliche Wahlkämpfe und Auseinandersetzungen. Die permanente Große Koalition im Europäischen Parlament und die vielen Konflikte zwischen Institutionen der EU statt zwischen Parteien sind da noch abschreckend. 8) Die EU-Kommission hat ein EU-Parteienrecht erarbeitet. Es gibt die Möglichkeit eines europäischen Bürgerbegehrens. Was fehlt, ist eine Initiative von unten zu einem Thema, dass die Profis ignoriert haben. Öffentlichkeit entsteht immer auch durch Gegenöffentlichkeit. Es mag sein, dass es eine Anti-Euro-Gegenöffentlichkeit gibt, aber die wiederum hat stets nationalistische Tendenzen und daher ein Vernetzungsproblem. 9) Das geringste Interesse an einer echten europäischen Öffentlichkeit haben die Staatsund Regierungschefs und das Bundesverfassungsgericht. Bei Karlsruhe ist das ein Phänomen: Ganz Europa reagiert und kommentiert das Gericht, aber die Richter argumentieren strikt im Sinne der Deutschen als Deutsche und nicht als Unionsbürger. 10) Wir werden keinen EU-Superstaat bekommen, sondern eine Union bleiben, jedenfalls in den nächsten 10 bis 20 Jahren. Die Öffentlichkeit wandelt sich derzeit ohnehin sehr stark. Auf der Ebene der Experten und Journalisten, schaut man nur auf Twitter, gibt es diese europäische Fachöffentlichkeit bereits. Es gibt einen allgemeinen Zerfall in Fachöffentlichkeiten, der unser Thema überlagert. Die Zersplitterung der Öffentlichkeit kann eine Gefahr für die Demokratie sein, jede Fachöffentlichkeit ist aber der Nukleus für eine breitere Öffentlichkeit.
© Copyright 2025 ExpyDoc