Geistliche Bildung - 2. Korinther 3,17-18

Predigt 2. Kor 3, 17-18, 5.Juli (5. nach Trinitatis) 2015, Schlosskirche Bonn
Liebe Gemeinde,
ich bin kein besonders kunstsinniger Mensch. Aber manchmal geschieht es doch: Da stehe
ich im Museum oder in einer Kirche vor einem Bild und bin davon wie magisch angezogen.
Irgendwie kann es einem geschehen, dass man von einem Bild nicht nur begeistert ist, sondern geradezu in es hineingezogen wird. Bei Paul Klees geheimnisvollen Strukturen, die eine
andere Welt abzubilden scheinen, kann das der Fall sein; oder auch in Caspar David Friedrichs romantischen Darstellungen von Mensch und Natur. Man steht plötzlich mit auf dem
Berg, am Meer; man sieht einen Menschen am Fenster und schaut plötzlich im Schauen dieses Schauenden mit ihm aus dem Fenster und sieht etwas, was man nicht sieht.
Diese Bild-Erfahrung ist ein Gleichnis für das, was wir Bildung nennen: Verändert-Werden
durch prägende Eindrücke. Es ist nicht mehr allgemein bekannt, dass diese Vorstellung von
„Bildung“ zunächst aus dem religiösen, dem christlich theologischen Zusammenhang
stammt. Der Begriff „Bildung“ wurde wahrscheinlich durch den Mystiker Meister Eckehart im
Mittelalter geprägt – aber der Gedanke als solcher geht auf den Apostel Paulus zurück. Gedanken bilden, Anschauungen bilden, Bilder ziehen den Betrachter in sich hinein und machen etwas mit ihm; aber gerade so gewinnt der Mensch neue Freiheit. Paulus erläutert das
in einer kurzen, gehaltvollen und geheimnisvollen Passage im dritten Kapitel des zweiten
Korintherbriefes:
Der Herr ist der Geist; wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.
Nun aber schauen wir alle mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn wie in einem Spiegel, und wir werden verklärt in sein Bild von einer Herrlichkeit zur andern von dem
Herrn, der der Geist ist.
Paulus beschreibt hier, was man „Geistliche Bildung“ nennen kann: Veränderung des Menschen durch den Geist, durch das Bild des Herrn Jesus. Ihn können wir schauen, so Paulus;
ihn sehen wir an; sein Bild wirkt wie ein Spiegel, dessen Strahlen uns erfassen und verändern. Wenn wir dieses Bild anschauen, dann macht dieses Bild etwas mit uns – es bildet uns.
„Bildung“ im geistlichen Sinne meint also nicht das Ansammeln von Informationen und
Dogmen; geistliche Bildung ist vielmehr das Erlebnis von Freiheit im Anschauen. –
Was Paulus hier für die Bildung im Glauben beschreibt, ist wert, auf die Bildung insgesamt
bezogen zu werden. Bildung überhaupt ist das Erlebnis von Freiheit im Anschauen. Bildung,
so beschreibe ich es am liebsten, Bildung ist die produktive Begegnung mit etwas Fremdem.
Dieses Fremde muss anverwandelt werden. Ein fremder Text, ein fremder Gedanke, ein
fremdes Kunstwerk kann nie einfach aufgenommen, es kann nicht einfach rezipiert werden.
Denn es wird durch mich verändert. Es wird zu meinem Kunstwerk, zu meinem Gedanken, zu
meinen Text. Aber ebenso gilt das Umgekehrte: Ich selbst bleibe nicht der Gleiche. Das Werk
zieht mich in es hinein. Der Text zwingt mich, meine Meinung neu zu fassen. Ein Gedanke
macht diese Welt für mich zu einer anderen.
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Bei großen Werken der Literatur ist das immer wieder der Fall: Man wird hineingezogen und
leidet mit Effi Briest, man verabschiedet sich mit Wehmut von Thomas Buddenbrook und
merkt, dass man lesend in einer anderen Welt gelebt hat – und dass man nicht einfach als
derselbe in die seinige zurückkehrt.
Paulus geht es nicht um solche Bildungsprozesse – ihm geht es um das Bild und um den Geist
Jesu Christi. Diese verändern den Glaubenden grundsätzlich; Bild und Geist Jesu machen uns
zu Menschen Gottes in Freiheit. Doch es ist erstaunlich, wie genau Paulus auch die ganz allgemeines Struktur von Bildungsprozessen getroffen hat. Bildung braucht starke Bilder; Bildung braucht Freiheit; Bildung braucht Selbsterkenntnis; und bildende Selbsterkenntnis ist
vor allem ein passives Erkanntwerden, eine Passivität vor dem Fremden, dem Großen und
Packenden. So wird schließlich fassbar, was der Geist des Menschen ist: Der Geist der Freiheit, der Geist der Selbsterkenntnis und der Geist der Demut vor demjenigen, was nicht das
Eigene ist.
Man könnte also aus diesen beiden Versen aus 2. Korinther 3 gut eine allgemeine Bildungstheorie entwickeln. Aber ich will das hier nicht machen, weil es ja mit dem Ursprungsinn des
Textes um die geistliche Bildung gehen soll.
Geistliche Bildung ist Bildung im und durch den Heiligen Geist. Der Geist Gottes, des Vaters
und des Sohnes, macht etwas mit uns. Der Geist Gottes gibt unserem Geist die Einsicht, wir
sind Gottes Kinder, so formuliert es Paulus im Römer 8. Geistliche Bildung ist dabei vor allem
ein Geschehen in Freiheit. Hier steht das wunderbare Motto protestantischen Christseins:
„Der Herr ist der Geist – wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.“
Der Geist Gottes will den ganzen, den selbstständig entscheidenden Menschen. Der Geist
Gottes kann sich mit der Gewohnheit und mit der Tradition nicht zufrieden geben. Gesucht
ist vielmehr das schlagende Herz des Menschen, das Zentrum der Wünsche und Emotionen –
der Mensch in aller seiner Freiheit. Nur in dieser ist der Geist Gottes – und nicht nur der
Geist bestimmter religiöser Autoritäten. Der freie Mensch wird gesucht vom Geist Gottes,
der freie Gedanke, das offene Herz, die verantwortete Tat. Darunter macht es Gottes Geist
nicht. Du bist gefragt – Du kannst und du musst dich nicht entschuldigen – du musst nur Du
sein vor dem Bild Gottes. Denn wenn du von ganzem Herzen glaubst und mit dem Munde
bekennst, dass Jesus der Herr ist, so wirst du gerettet – so formuliert es Paulus dann später
im Römerbrief (10,9f.).
Paulus umschreibt die christliche Freiheit nun noch mit zwei sehr eindrücklichen Vergleichen
– mit dem Angesicht und dem Spiegel. Damit wird das wachgerufen, was wir heute die
„Identität“ nennen. Wie kann ich mich selbst anschauen? Worauf blicke ich im Spiegel?
Psychologen sagen uns, dass die Angesichts-Erfahrung für das In-der-Welt-Sein entscheidend
ist – denn wir lernen dies in der frühesten Kindheit, wenn wir freundlich angeblickt werden
und wenn wir mit Vertrauen in die Welt sehen. Und das wird immer wieder erinnert, wenn
wir gesegnet werden: „Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig.“
Hier nun geht es aber um unser eigenes Angesicht, das sich spiegelt im Bild Jesu Christi. Die
Freiheit bedeutet: „wir schauen mit aufgedeckten Angesicht die Herrlichkeit des Herrn.“ Mose, so berichtet das Buch Exodus im 34. Kapitel, Mose legte eine Decke vor sein Angesicht,
wenn er vom Herrn kam und mit dem Volke redete – wir aber brauchen keine Decke, weil
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unser Herz vor Gott steht, unser Angesicht in Freiheit – ohne Maske, ohne Verstellung, ohne
Angst – von Angesicht zu Angesicht stehen wir vor ihm wie einst das Kleinkind im Arm Auge
der Mutter. Die Schau des Herrn Jesus braucht keine Decke, keine Deckung, keine Verdeckung. Die Freiheit gibt es nicht ein bisschen – es gibt sie nur ganz.
Warum ist das so? Das liegt an diesem ganz besonderen Spiegel, in denen wir blicken. Der
Spiegel ist das Angesicht Jesu, des Menschensohnes. Wenn wir da hineinschauen, wird unsere Freiheit eine produktive, eine verändernde. Wir schauen und im Schauen schauen wir,
dass wir angeschaut werden. Das ist uns ja bekannt vom Blick in den Spiegel; nur begegnet
uns hier nicht das eigene Bild sondern das fremde Bild des Herrn – ein lebendiger Spiegel,
der etwas mit uns macht.
Was also ist „Geistliche Bildung“? Sich selbst anschauen, als jemand der angeschaut ist und
so ein anderer wird. „Nun aber schauen wir alle mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit
des Herrn wie in einem Spiegel, und wir werden verklärt in sein Bild von einer Herrlichkeit zur
andern von dem Herrn, der der Geist ist.“
Bemerkenswert ist, dass Paulus hier das Bild des Spiegels anders verwendet als am Schluss
des Hohen Liedes der Liebe in 1. Korinther 13. Dort steht der Spiegel für das Vorläufige: Jetzt
erkennen wir nur gebrochen, stückweise, mit einer Ahnung von Glaube, Hoffnung und Liebe;
und erst einst werden wir ganz erkennen.
Hier aber redet Paulus pneumatisch. Im Geist, im Herrn, da schauen wir schon jetzt, was wir
einst schauen werden. Bemerkenswert ist hier noch die mediale Verbform des Wortes
„schauen“: Wir vertiefen uns in das eigene Spiegelbild, das vom Herrn geworfen wird. Wir
werden unserer selbst als anderer Menschen bewusst, wenn wir uns in dieses Spiegelbild
vertiefen. Ich bin ein anderer, als der ich mich kenne, ich erkenne mich als den, als der ich
erkannt bin, als der Mensch Gottes. In der Vulgata wird das Verb als „speculari“ übersetzt –
aber eben nicht mit speculare. Es geht nicht um das Spekulieren, sondern darum ein
„speculum“ zu werden ein Spiegelbild, das sich bildet im Bilde des Herrn, der der Geist ist.
Das Mediale ist also das Entscheidende bei der geistlichen Bildung, eine aktivische Passivität,
in der wir so aktiv werden, dass wir unsere Passivität zulassen; indem unsere Passivität uns
mehr verändert als jede Aktivität. So aber entwickelt sich die menschliche Freiheit; so
kommt unser Geist zu sich selbst im Herrn, der der Geist ist.
Eine letzte Bemerkung: das gilt nicht nur für religiöse Mystiker oder für medial besonders
begabte fromme Virtuosen. „Nun aber schauen wir alle“, schreibt Paulus. Es geht um unser
aller Logik der Freiheit. Die Freiheit besteht darin, sein zu dürfen wer man ist – aber nicht
bleiben zu müssen, wer man ist – „denn der Herr ist der Geist, wo aber der Geist des Herrn
ist, da ist Freiheit.“ Ja, dort ist jene Freiheit, der wir nicht entkommen, die Freiheit, die uns
allen zugetraut und zugemutet ist.
Amen.
Prof. Dr. Michael Meyer-Blanck
[email protected]
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