Die Neuen vom Waschlappen-Viertel

56 wohnen
F R A N K F U R T E R A L L G E M E I N E S O N N TA G S Z E I T U N G , 2 5 . O K T O B E R 2 0 1 5 , N R . 4 3
WOHNEN IN TÜBINGEN
Die Neuen vom Waschlappen-Viertel
Wohnungsmarkt
Tübingen
Preis für eine Eigentumswohnung
in Euro pro Quadratmeter
NeuhaldeLustnau-
Ammer
2950
Lustnau
Zentrum Österberg
2880
Universität
2800
Alte Weberei
Weststadt
+21%
2560
Waldhäuser
Ost
2440
Wanne
ping und die regionale Limonade „Heldenpause“. „Schön, dass Du da bist“ steht
mit Kreide auf einer Schiefertafel geschrieben. Der Laden sieht von innen aus
wie ein Comicheft, und es gibt einen Secondhandshop. Außerdem kann man sich
eine Picknickdecke leihen – für den Botanischen Garten nebenan, der im Sommer
zum Sonnenbaden einlädt.
Die Feierlaune lassen sich die Studenten trotz der hohen Mieten nicht vermiesen: Montagabends trifft man sich zum
Karaoke im „Schwarzen Schaf“ in der
Pfleghofstraße, vormals hieß die Lokalität viele Jahre lang Tangente Night. Gespart wird am Donnerstag mit billigem
Bier im Clubhaus – der Eintritt ist frei.
Selbst bei Wind und Wetter radelt der
Tübinger unbeirrt die kleinen Hügel hinauf und hinab, die das Stadtbild prägen.
Tübingen ist eine Fahrradstadt: Der Radverkehr macht fast ein Viertel am Gesamtverkehr aus. Etwa ein Drittel der rund
85 000 Einwohner studieren, entsprechend jugendlich mutet die Große Kreisstadt im Schwäbischen an, das Durchschnittsalter liegt um die 40 Jahre. Dafür
ist die Fluktuation sehr hoch – alle zehn
Jahre tauscht sich ein erheblicher Teil der
Bevölkerung komplett aus.
2011 2012 2013 2014 2015
B27 Neuvertragsmieten für eine
B28
Wohnung in Euro pro Quadratmeter
Hauptbahnhof
B28
Loretto
+7,7%
Südstadt
Französisches
MühlenViertel
viertel
Quelle: F+B/F.A.Z.-Grafik Levinger
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.
9,80
9,60
9,60
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h
nlac
Derendingen
9,20
S tei
9,10
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E
s ist zu schön, um wahr zu sein.
Wer vom Tübinger Hauptbahnhof gen Zentrum schlendert,
dem bietet sich ein Postkartenmotiv: die bunt bevölkerte Neckarmauer,
darüber malerische Fachwerkfronten, die
Stiftskirche, links der Hölderlinturm, in
dem der Dichter 36 Jahre lang bis zu seinem Tod den ersten Stock bewohnte. Unten umfließt der Fluss gemächlich die Neckarinsel. Im Sommer fahren Stocherkähne, gerade turteln zwei Schwäne miteinander und stecken die Schnäbel zusammen.
Verwinkelte, schmale Gassen und steile
Stiegen führen durch die Altstadt, bis hinauf zum Schloss Hohentübingen.
Doch die Idylle trügt. Denn auf dem
Tübinger Wohnungsmarkt geht es gar
nicht beschaulich zu. Die Lage ist angespannt, besonders für Studienanfänger.
Sie müssen regelmäßig zu Semesterbeginn in Notunterkünften im größten Studentendorf Waldhäuser Ost untergebracht werden, weil sie keine passende
Bleibe gefunden haben. „Hier herrscht
einfach Wohnungsnot“, sind sich fünf
Pädagogikstudentinnen einig, die gerade
aus einer Vorlesung kommen. Auf Ausschreibungen von WG-Zimmern trudeln
schon am ersten Tag 80 Bewerbungen
ein, erzählen sie, 350 bis 400 Euro sei das
Minimum für ein Zimmer. Es läuft alles
über Bekannte und Freunde – ohne Kontakte keine Chance.
Fast 30 000 Studenten gibt es in der
Stadt, aber in den mehr als 30 Studentenwohnheimen stehen nur etwa 5500 Plätze
zur Verfügung. Auch die private Mitwohnzentrale auf der Wilhelmstraße, der
Unimeile der Stadt, macht wenig Mut:
möbliertes Dachgeschosszimmer, 25 Quadratmeter, für 490 Euro warm – ab 1. Mai
2016. Eine 40 Quadratmeterwohnung für
770 Euro alles inklusive – aber nur zur
Zwischenmiete. Und so geht es weiter.
Die Studenten wohnen gerne in der
Tübinger Altstadt mit ihren urigen Fachwerkhäusern, auch wenn die Preise gesalzen sind. Professoren, Ärzte und andere
Besserverdiener residieren hoch über der
Stadt, in einer Jugendstilvilla auf dem
Österberg oder im Schönblick und im
Rotbad in nördlicher Halbhöhenlage.
Weiter oben, auf dem Waldhäuser Ost,
finden normalverdienende Familien noch
bezahlbaren Wohnraum – in Hoch- und
Mehrfamilienhäusern aus den sechziger
und siebziger Jahren.
„In Tübingen trifft ein deutlich begrenztes Angebot auf eine extrem hohe
und immer weiter steigende Nachfrage“,
sagt Dietmar Helmle vom Maklerhaus
Engel & Völkers Immobilien Tübingen.
„Der Maßstab ist zwar kleiner, aber die
Lage ist auf jeden Fall vergleichbar mit
der in den Großstädten.“ Das führe zu
deutlich steigenden Neubaupreisen für
Wohnungen, deren Kaufpreise laut
Helmle bei Erstbezug derzeit zwischen
4600 und 5000 Euro pro Quadratmeter
liegen, vor fünf Jahren seien es im Schnitt
noch 3600 Euro pro Quadratmeter gewesen. Wer in eine Neubauwohnung zur
Miete einzieht, müsse je nach Lage mit
Kaltmieten von 13 bis 15 Euro pro Quadratmeter rechnen. „Selbst die für Tübinger Verhältnisse sehr hohe Bautätigkeit in
den vergangenen Jahren hat durch die parallel steigende Nachfrage zu gar keiner
Entspannung am Markt geführt.“
Auf den Schreck braucht der Wohnungssuchende eine Stärkung. Im Studentencafé „Willi“ gibt es selbstgebackene
Cupcakes mit Himbeer-Amarettini-Top-
Ne
c
Das schwäbische
Tübingen gilt als
Mekka der Ökospießer. Studenten
und Baugruppen
prägen das Stadtbild.
Von Anne-Christin
Sievers
B27
Datenerhebung im zweiten Quartal des
Jahres, bezogen auf eine
75-Quadratmeter große Wohnung,
10 Jahre alt, normale Ausstattung.
Wer bleibt, sind die Familien. Auch für
sie ist es schwer, eine geeignete Bleibe zu
finden: Denn sie konkurrieren mit Studenten-WGs um 4-Zimmer-Wohnungen.
Deshalb schließen sich Familien häufig
zu Baugemeinschaften zusammen. Vorreiter war das Französische Viertel im Süden, das der Stadt den Ruf als Eldorado
für Ökospießer eingebracht hat. Anfang
der neunziger Jahre, als die französische
Armee dort ihre Kasernen verließ, entwickelte der damalige Leiter des Stadtsanierungsamtes, Andreas Feldtkeller, ein neues Konzept: Es sollte eine „kleine Stadt
der kurzen Wege“ sein, ein Gegenmodell
zur Schlafstadt; ein dichtes, belebtes Viertel, das Gewerbe und Wohnen miteinander verbindet.
Professionelle Bauträger schreckten zurück, es fanden sich Wagemutige aus dem
alternativen Milieu, die das Bauen selbst
in die Hand nahmen. Mittlerweile hat
das Baugruppen-Modell in Tübingen
Schule gemacht. Es folgten das LorettoViertel, das Mühlenviertel – und nun als
viertes das neue Quartier Alte Weberei
im dörflichen Stadtteil Lustnau. Das hat
auch mit dem politischen Willen des grünen Oberbürgermeisters Boris Palmer zu
tun, der seit 2007 die Geschicke der Stadt
nach seiner ökologischen Vision lenkt.
Palmer will keine Neubaugebiete für Einfamilienhäuser nach klassischem Strickmuster. Nicht nach außen zersiedeln, sondern nach innen verdichten, lautet seine
Maxime.
In der Mitte des großen Platzes spielen
Kinder auf dem Klettergerüst, daneben
steht das alte Egeria-Gebäude. Einst wurden in der Lustnauer Weberei unter der
gleichnamigen Marke hochwertige Frottierwaren gefertigt, nun bewirtet ein italienisches Restaurant seine Gäste. Drumherum gruppieren sich sechs Höfe mit
Mehrfamilienhäusern und gemeinschaftlichen Gärten, wild bepflanzt, Zäune gibt
es nicht. Im Erdgeschoss hat sich oft Gewerbe eingemietet, das ist im Viertel auch
so vorgesehen: Der Carré-Markt, Physiotherapeuten, ein Coaching-Büro. Und
das Projektcafé „Viertel vor“, in dem es
neben Kaffee und Kuchen regelmäßig
ein Nähcafé, einen Babytreff am Morgen
oder Tanzabende für die Bewohner des
Viertels gibt – außerdem kann man den
Laden mieten. 700 Menschen sind mittlerweile eingezogen, vor allem junge Familien mit Kindern aus der akademischalternativen Mittelschicht.
„Um den Zuschlag zu bekommen,
mussten sich die Baugruppen bei der
Stadt mit einem Projekt bewerben, das
dem ganzen Viertel etwas bringt und zur
Vielfalt beiträgt“, sagt Lucia Landenberger. Sie hat als Projektsteuerin zwei Baugemeinschaften auf dem Gelände betreut: Die Gruppe „Licht und Luft“, die
ein Plus-Energie-Haus gebaut hat. Und
die Gruppe „En Famille“, die bezahlbaren Wohnraum für junge Familien schaffen wollte. Beim Bau verzichtete die
Gruppe auf einen Aufzug und einen Fußboden – gehärteter Estrich genügte. „So
haben wir bei ,En Famille‘ einen Preis
von 2300 Euro pro Quadratmeter geschafft“, berichtet Landenberger. Durchschnittlich habe der Preis im Viertel bei
etwa 2800 Euro pro Quadratmeter gelegen.
In dem roséfarbenen Gebäude wohnen
nun acht Familien mit insgesamt 19 Kindern. Auch Sonja Wenzelburger lebt hier.
Die 35 Jahre alte Künstlerin hat drei Kinder und betreibt im Erdgeschoss das „Alawari“, eine Keramikwerkstatt und einen
Laden für Selbstgemachtes. „Für uns war
es attraktiv, dass im Haus nur Familien als
Eigentümer leben, die sich auch in die
Gemeinschaft einbringen wollen“, sagt
Wenzelburger. „Außerdem sah ich die
Chance, mich mit dem Laden selbständig
zu machen.“
Zusammen mit anderen Bewohnern
hat sie im Mai ein Viertelfest zur Einweihung organisiert. Sogar einige alteingesessene
Lustnauer,
traditionsbewusste
Schwaben mit Einfamilienhaus, die ihre
neuen Nachbarn liebevoll-spöttisch als
„Waschlappen-Viertel“ bezeichnen, waren gern mit von der Partie. Selbst wenn
sie bei den verglasten Häuserfronten
noch ab und zu den Kopf schütteln und
schwäbeln: „Ha, do kosch ja neigucke.“