Strafprozessrecht II FS 2016 Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Nisrete Choti Die Rechtsprechung des EGMR zur Unschuldsvermutung bei der Einstellung des Strafverfahrens 1 Allgemeines und Einführung 1.1 Die rechtliche Einbettung der Unschuldsvermutung Als eines der grundlegenden Menschenrechte wird die Unschuldsvermutung in Art. 6 Ziff. 2 EMRK gewährleistet. Neben der Normierung in der EMRK, ist sie auch im UNO-Pakt II auf internationaler Ebene verankert (Art. 14 Abs. 2 UNO-Pakt II). National findet sich die Unschuldsvermutung sowohl in der Bundesverfassung (Art. 5 Abs. 4 und 32 Abs. 1 BV), als auch in der Strafprozessordnung (Art. 10 Abs. 1 StPO). Diese fundierte rechtliche Einbettung der Unschuldsvermutung untermauert ihren hohen Rang. Das Wesen von Art. 6 Ziff. 2 EMRK vermittelt, dass eine beschuldigte Person so lange als unschuldig gilt, als ihre Schuld noch nicht gesetzlich bewiesen ist. Eine nicht verurteilte Person soll auf diese Weise von einem staatlichen Schuldvorwurf geschützt werden.1 Die Geltung der Unschuldsvermutung beginnt im Strafverfahren bereits im Vorverfahren und erstreckt sich bis zur rechtskräftigen Verurteilung.2 1.2 Bedeutung der Einstellung im Strafverfahren Gemäss Erledigungsprinzip erfolgt die Beendigung des Vorverfahrens nur durch Strafbefehl, Anklage oder Einstellung (Art. 319 ff. StPO).3 Die Einstellung des Verfahrens schliesst demnach weitergehende Strafverfolgungsmassnahmen aus.4 Nach objektiven Kriterien muss feststehen, dass jedes andere Ergebnis als ein Freispruch ausgeschlossen erscheint.5 Fehlen Prozessvoraussetzungen, ist der Tatverdacht nicht erhärtet, bestehen Rechtfertigungsgründe oder ist der Straftatbestand schlichtweg nicht erfüllt, so wird das Verfahren auch eingestellt (Art. 319 Abs. 1 Bst. a-d StPO). Zwar ist eine Einstellungsverfügung zu begründen, allerdings dürfen sich in dieser Verfügung keine schuldzuweisenden Argumente vorfinden.6 1.3 Die Einstellung des Verfahrens unter Berücksichtigung der Unschuldsvermutung Die Einstellung des Verfahrens - auch wenn sie weiterhin Verdachtselemente beinhaltet verstösst grundsätzlich nicht gegen die Unschuldsvermutung.7 Der Beschuldigte hat auch keinen Anspruch darauf, bis zur Widerlegung des ihm vorgeworfenen strafbaren Handelns das Verfahren weiterzuführen.8 Zufolge der Unschuldsvermutung ist es aber verboten, in der Begründung der Einstellungsverfügung eine sog. «Verdachtsstrafe» zu verhängen.9 Die mit der Einstellung des Verfahrens verbundenen Nebenentscheide dürfen den mutmasslichen Täter nicht schuldig sprechen. Jene Nebenentscheide stellen beispielsweise Kostenauflagen dar.10 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 FROWEIN JOCHEN ABR./PEUKERT WOLFGANG, EMRK-Kommentar, 3. Aufl., Art. 6, N 263. JOSITSCH DANIEL, Grundriss StPO, 2. Aufl., N 70; DONATSCH ANDREAS/SCHWARZENEGGER CHRISTIAN/WOHLERS WOLFGANG, StPO, 2. Aufl., S. 58 f. DONATSCH/SCHWARZENEGGER/WOHLERS, S. 279. SCHMID NIKLAUS, Handbuch StPO, 2. Aufl., N 1249. BGE 137 IV 226 ff., BGE 138 IV 90, 190. BARROT JOHANNES, Die Unschuldsvermutung in der Rechtsprechung des EGMR, ZJS, 6/2010, S. 701. KÜHL KRISTIAN, Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung, S. 94. Kommissionsbericht in den Fällen Adolf c. Österreich vom 08.10.1980, Ser. B Nr. 43, S. 27, §56; Englert c. Deutschland vom 09.10.1985, Ser. A Nr. 123-A, S. 35, §48. Kommissionsbericht im Fall Minelli c. Schweiz vom 06.05.1981, Ser. B Nr. 52, S. 22, §31. TOPHINKE ESTHER, Das Grundrecht der Unschuldsvermutung, ASR-Abhandlungen zum Schweizerischen Recht, Heft 631, 2000, S. 405. 1 Strafprozessrecht II FS 2016 Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Nisrete Choti Wie mit dem Spannungsfeld zwischen Verfahrenseinstellung und Art. 6 Ziff. 2 EMRK umzugehen ist, hatten die Strassburger Organe bereits mehrfach zu beurteilen. 2 Leitentscheide des EGMR zur Problematik der Unschuldsvermutung und Einstellung des Strafverfahrens 2.1 Adolf c. Österreich Mit der Frage, ob eine Einstellung des Verfahrens die Unschuldsvermutung nach Art. 6 Ziff. 2 EMRK verletzt, wurde der EGMR durch den Fall Adolf erstmals konfrontiert. Hierbei ging es um ein Bagatelldelikt eines österreichischen Steuerberaters. Im entsprechenden Einstellungsentscheid stellte das Bezirksgericht Innsbruck die Begehung der Tat als «erwiesen» dar, obwohl der Beschuldigte den Tathergang dementierte11 und zusätzlich gegenteilige Beweisanträge stellte. Der Fall wurde schliesslich ohne formelles Beweisverfahren geschlossen.12 Des Weiteren äusserte sich das Gericht in der Verfügung zur Tatschwere, indem sie sie als «geringfügig»13 qualifizierte. Diese Einschätzung erfolgte aufgrund der kurzen ärztlichen Behandlung des Opfers, welche weniger als drei Tage betrug. Zusammen mit der Prognose, dass sich der Beschuldigte in Zukunft wohlverhalten wird, erachtete das zuständige Gericht die Einstellung des Verfahrens als begründet. Der Oberste Gerichtshof relativierte zwar den Entscheid des Bezirksgerichts, indem er die ungeschickte Wortwahl und Mehrdeutigkeit der Vorinstanz monierte, zugleich stellte er aber fest, dass ein Einstellungsentscheid seinem Wesen nach, ohnehin keine Schuldzuweisungen enthalten kann.14 Entsprechend wurde die Beschwerde abgewiesen. Vor dem EGMR wurde der Fall erneut auf die Vereinbarkeit mit der Unschuldsvermutung untersucht. Entgegen der Meinung des Obersten Gerichtshofes, wertete der EGMR die Äusserungen im Einstellungsentscheid nicht länger als Verdachts-, sondern als Schuldfeststellungen. Der Einstellungsentscheid habe die Tat als erwiesen dargestellt und somit eine strafrechtliche Schuld zugewiesen. Ferner entschied der EGMR, der vom Bezirksgericht erstellte Beschluss und das Urteil des Obersten Gerichtshofes seien als Einheit anzusehen.15 Infolge dieser Betrachtungsweise wurden die Ausführungen des Obersten Gerichtshofs als «Heilung» des Einstellungsentscheids erachtet, indem der Oberste Gerichtshof die Feststellungen des Bezirksgerichts relativierte.16 Des Weiteren wurde auf die Argumentation des Obersten Gerichtshofes hingewiesen, ein Einstellungsentscheid könne seinem Wesen nach keine Schuldzuweisungen enthalten. Eine Verletzung der Unschuldsvermutung wurde im vorliegenden Sachverhalt entsprechend verneint.17 2.2 Minelli c. Schweiz Einige Jahre nach dem Fall Adolf, musste sich der EGMR erneut mit den Folgen einer Einstellungsverfügung auseinandersetzen. Der Sachverhalt umfasste eine mutmassliche Ehrverletzung, die der Journalist Herr Minelli begangen haben soll. Aufgrund Verjährung des Verfahrens war dieses aber einzustellen. Eine wesentliche Problematik stellte in diesem Prozess die Frage dar, ob eine Kostenauflage mit der Unschuldsvermutung vereinbar ist. Nach Meinung des EGMR verstösst eine Kostenauflage bei Einstellung des Verfahrens nicht per se gegen Art. 6 11 12 13 14 15 16 17 EGMR, Urteil Adolf c. Österreich vom 26.03.1982, Ser. A Nr. 49, §12. TOPHINKE, S. 409. EGMR, Urteil Adolf c. Österreich vom 26.03.1982, Ser. A Nr. 49, §12. EGMR, Urteil Adolf c. Österreich vom 26.03.1982, Ser. A Nr. 49, §16. EGMR, Urteil Adolf c. Österreich vom 26.03.1982, Ser. A Nr. 49, §40. EGMR, Urteil Adolf c. Österreich vom 26.03.1982, Ser. A Nr. 49; Abweichende Meinung der Richter CREMONA, LIESCH und PETTITI, EuGRZ, S. 303. Erwähnenswert bleibt, dass die Entscheidung mit 4:3 Richtern gefällt wurde; vgl. Fussnote 16. 2 Strafprozessrecht II FS 2016 Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Nisrete Choti Ziff. 2 EMRK.18 In der zu entscheidenden Sachlage stützte sich die Höhe der Kostenauflage – welche 2/3 der gesamten Kosten umfasste – auf die Hypothese, der Beschuldigte wäre ohne Verjährung des Delikts «sehr wahrscheinlich» verurteilt worden. Des Weiteren hatte er noch die Kosten der Privatklägerschaft zu übernehmen.19 Die Kosten umfassten somit einen Teil der Verfahrensunkosten sowie die Auslagen der Privatklägerschaft. Diese Handhabung fand in Strassburg keinen Anklang, auch wenn das zürcherische Bezirksgericht auf eine langjährige Tradition verwies. Sofern der Kostenbeschluss den Eindruck erweckt, die beschuldigte Person sei schuldig, so ist eine Verletzung der Unschuldsvermutung gegeben.20 Durch die Gestaltung des Kostenbeschlusses und die aufgestellte Hypothese, ist der EGMR davon ausgegangen, das zürcherische Gericht hätte eine strafrechtliche Schuld des Angeklagten angenommen.21 Entgegen der Feststellungen im Fall Adolf, beurteilte der EGMR den Entscheid des Bundesgerichts jedoch nicht als «heilend». Das Bundesgericht legte die Feststellungen zur hypothetischen Strafbarkeit des zürcherischen Gerichts nicht als formelles Urteil, sondern als Beurteilung der Prozesschancen aus. Nach Überzeugung der Richter am EGMR relativierte das Bundesgericht den angefochtenen Entscheid nicht in massgebender Weise, sondern fügte nur einige «Nuancen» hinzu. Mit dem schliesslich abweisenden Entscheid hätte das Bundesgericht dem Urteil des zürcherischen Gerichts in den grundlegenden Punkten zugestimmt,22 was einem gesetzlichen Schuldspruch gleichkam. Angesichts dieser Ausführungen müsste bei einem Kosten- bzw. Haftentschädigungsentscheid, der mit einer Würdigung der Schuld verbunden ist, mit einer Verletzung der Unschuldsvermutung gerechnet werden.23 2.3 Lutz c. Deutschland und weitere Fälle Ebenso ging es im Urteil Lutz c. Deutschland vom 25. August 1987 um eine gleichgelagerte Frage, wie im Fall Minelli. Aufgrund eines Verkehrsunfalles, in welchem der Beschuldigte involviert war,24 sah sich dieser mit einer Verkehrsordnungswidrigkeitsanzeige konfrontiert.25 Infolge Verfolgungsverjährung kam es jedoch zur Einstellung des Verfahrens. Gleichermassen wie im Fall Minelli erkannte das Amtsgericht Heilbronn, der Beschuldigte wäre «mit hoher Wahrscheinlichkeit» verurteilt worden, wäre die Tat nicht bereits verjährt.26 Aus diesem Grund übernahm die Staatskasse nur die Kosten des Verfahrens. Die notwendigen Auslagen des Beschuldigten hatte dieser selbst zu tragen.27 Diesen Kostenentscheid rechtfertigte das Amtsgericht Heilbronn mit der erstellten Verurteilungsprognose. Die Überbürdung der gesamten Kosten sei unter den vorliegenden Umständen als «unbillig» einzustufen.28 Der anschliessende Instanzenzug bestätigte die Feststellungen des Amtsgerichts Heilbronn.29 Wider Erwarten brachte der EGMR zum Ausdruck, es würde sich in casu nur um die Feststellung von starken Verdachtsmomenten handeln. Zwar wurde erneut die Wortwahl bemängelt, allerdings stellten die in Frage stehenden Äusserungen gemäss EGMR im Kern 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 EGMR, Urteil Minelli c. Schweiz vom 25.03.1983, Ser. A Nr. 62, §35. EGMR, Urteil Minelli c. Schweiz vom 25.03.1983, Ser. A Nr. 62, §13. EGMR, Urteil Minelli c. Schweiz vom 25.03.1983, Ser. A Nr. 62, §37. EGMR, Urteil Minelli c. Schweiz vom 25.03.1983, Ser. A Nr. 62, §38. EGMR, Urteil Minelli c. Schweiz vom 25.03.1983, Ser. A Nr. 62, §40. Vgl. dazu TOPHINKE, S. 407. EGMR, Urteil Lutz c. Deutschland vom 25.08.1987, Ser. A Nr. 123-A, §12. EGMR, Urteil Lutz c. Deutschland vom 25.08.1987, Ser. A Nr. 123-A, §13. EGMR, Urteil Lutz c. Deutschland vom 25.08.1987, Ser. A Nr. 123-A, §16. EGMR, Urteil Lutz c. Deutschland vom 25.08.1987, Ser. A Nr. 123-A, §15. EGMR, Urteil Lutz c. Deutschland vom 25.08.1987, Ser. A Nr. 123-A, §16. EGMR, Urteil Lutz c. Deutschland vom 25.08.1987, Ser. A Nr. 123-A, §16 ff. 3 Strafprozessrecht II FS 2016 Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Nisrete Choti lediglich hinreichende Verdachtsfeststellungen dar.30 Ausschlaggebend für diese Sichtweise scheint die Begründung des Kostenentscheids gewesen zu sein. Anders als im Fall Minelli, wurden die Verfahrenskosten dem Beschuldigten nicht angelastet, dieser hatte lediglich seine eigenen Auslagen zu tragen. Ferner hatte Herr Lutz keine Kosten einer anderen Partei zu übernehmen.31 Befürwortet wurde diese Ansicht zudem infolge der detaillierteren und inhaltsreicheren Begründung im Fall Minelli, die schliesslich die Schwere von Schuldfeststellungen erreichte.32 Art. 6 Ziff. 2 EMRK wurde demnach nicht verletzt.33 Gleichentags befasste sich der EGMR mit den Fällen Nölkenbockhoff c. Deutschland34 und Englert c. Deutschland35, die sich in einem vergleichbaren Rahmen bewegten. In allen Angelegenheiten wurde mit ähnlicher Begründung eine Verletzung der Unschuldsvermutung verneint. Vermutlich hat der EGMR die Anforderungen an die Formulierungen gemildert.36 Eine klare Begründung, wieso in diesen Fällen anders geurteilt wurde, ist nicht ersichtlich.37 Erwähnenswert ist in diesem Fall noch die gegenteilige Meinung des Richters CREMONA. Seines Erachtens, sei auf den gewöhnlichen Gebrauch der tatsächlich verwendeten Formulierung abzustellen, was eine Verletzung der Unschuldsvermutung bejahen würde. Gemäss TOPHINKE sei die entsprechende Ausdrucksweise so zu entnehmen, wie sie die geschützte Person oder die Öffentlichkeit zu verstehen hat.38 So könnten Mehrdeutigkeiten und Missverständnisse besser umgangen werden. Auch in den später folgenden Fällen ist keine Gegentendenz erkennbar. Der EGMR verfolgt auch in den neueren Entscheiden die gleiche Spruchpraxis wie bei Lutz c. Deutschland.39 Es sind Formulierungen wie «[es] war mit weit überwiegender Wahrscheinlichkeit mit der Verurteilung zu rechnen»40, die die Rechtsprechung des Falls Lutz bestätigen. 2.4 Schlussfolgerungen Die Jurisdiktion des EGMR zur Unschuldsvermutung bei Einstellung des Verfahrens lässt keine eindeutigen Schlüsse zu. Nach genauerer Untersuchung der Strassburger Rechtsprechung ergeben sich diverse Merkmale, die bei der Beurteilung einer Verletzung der Unschuldsvermutung bei Einstellung des Verfahrens relevant sind. Primär ist der Unterscheidung zwischen Verdachts- und Schuldfeststellungen Rechnung zu tragen.41 Ausserdem spielen noch Prognosen über die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung und der Strafcharakter der Kostenauflage eine bedeutende Rolle. Die Begründung des letztinstanzlichen staatlichen Entscheids erfuhr besonders im Fall Adolf grosse Beachtung. Freilich muss noch eine Gesamtwürdigung des Einzelfalls erfolgen, wobei sämtliche wesentlichen Umstände zu berücksichtigen sind. Nach dem Urteil Minelli setzte die Schweiz die Bemängelung in konventionsrechtlicher Hinsicht in seinen späteren Entscheiden um. Im Gegensatz zum EGMR konnte das Bundesgericht seine Rechtsprechung präzisieren und wertete Schuldfeststellungen gemäss Minelli-Rechtsprechung 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 EGMR, Urteil Lutz c. Deutschland vom 25.08.1987, Ser. A Nr. 123-A, §62. EGMR, Urteil Lutz c. Deutschland vom 25.08.1987, Ser. A Nr. 123-A, §63. EGMR, Urteil Lutz c. Deutschland vom 25.08.1987, Ser. A Nr. 123-A, §62. EGMR, Urteil Lutz c. Deutschland vom 25.08.1987, Ser. A Nr. 123-A, §64. EGMR, Urteil Englert c. Deutschland vom 25.08.1987, Ser. A Nr. 123-B, §17. EGMR, Urteil Nölkenbockhoff c. Deutschland vom 25.08.1987, Ser. A Nr. 123-C, §17. TOPHINKE, S. 412. DEMKO DANIELA, Zur Unschuldsvermutung nach Art. 6 Abs. 2 EMRK bei Einstellung des Strafverfahrens und damit verknüpften Nebenfolgen, Online-Zeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung im Strafrecht HRRS, Juli 2007, S. 286 ff., http://www.hrr-strafrecht.de/hrr/archiv/0707/index.php?sz=1#273, S. 286, (zuletzt besucht am 10.03.2016). TOPHINKE, S. 415. DEMKO, S. 290. EGMR, Urteil A. L. c. Deutschland vom 28.04.2005, Nr. 72758/01, §35. DEMKO, S. 288 ff. 4 Strafprozessrecht II FS 2016 Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Nisrete Choti strenger.42 Dieser Linie wird trotz der mittlerweile gegenteiligen Urteile des EGMR weiterhin gefolgt. 3 Persönliche Würdigung In den vorangegangenen Ausführungen wird mehrfach erkennbar, dass der EGMR nicht wirklich eine klare, unmissverständliche und letztlich nachvollziehbare Rechtsprechung hinsichtlich der ausgeführten Problematik verfolgt.43 In der Literatur werden verschiedene mögliche Erklärungen für die Abkehr der Rechtsprechung im Fall Minelli abgegeben. Die angebrachte Kritik widmet sich überwiegend der obskuren Unterteilung von Verdachts- und Schuldfeststellungen. Meines Erachtens ist dieser ablehnenden Haltung zu folgen. Aus den Feststellungen in den entsprechenden höchstrichterlichen Urteilen wird nicht ersichtlich, aus welchen Gründen quasi identische Formulierungen, gegenteilige rechtliche Qualifikationen hervorrufen. Wieso beispielsweise in den Fällen Adolf und Minelli der Anschein der Formulierung entscheidend ist, in den deutschen Urteilen aber die ursprüngliche Intention der nationalen Gerichte mehr Anklang findet.44 Dem Anschein nach möchte der Gerichtshof die Anforderungen an die Schuldfeststellungen erhöhen.45 Dies bedeutet wiederum eine Einschränkung der Garantie in Art. 6 Ziff. 2 EMRK,46 was bei einer der «vornehmsten Verfahrensgarantien»47, wie der Unschuldsvermutung, sicherlich nicht erstrebenswert ist. Ferner wird kritisiert, der EGMR versuche eigentliche Schuldfeststellungen als Verdachtsmomente zu verbergen.48 Die spätere Rechtsprechung in Lutz, Englert und Nölkenbockhoff c. Deutschland verweist, wie im Fall Adolf, jedoch ohne nachvollziehbare Begründung, erneut auf die heilende Wirkung der nationalen letzten Instanz. In den deutschen Fällen wird nach den Fällen Minelli und Adolf hilfsweise das Kriterium der strafähnlichen Massnahmen beigezogen. Es wird nicht nur auf die Formulierung der Feststellungen geachtet, sondern auch darauf, ob die Kostenentscheide einen Strafgehalt aufweisen.49 Wie auch Richter CREMONA zutreffend festhält, kann eine Verletzung der Unschuldsvermutung auch ohne einen solchen Strafcharakter vorliegen.50 Der Ruf nach mehr Deutlichkeit ist angesichts dieser Rechtslage begreiflich. Ein abschliessendes Fazit lässt sich mit den Worten von KÜHL beschreiben, der mit der Rechtsprechung des EGMR eine Entzauberung sowie einen Rückschlag der Unschuldsvermutung folgert.51 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 Vgl. dazu BGE 109 Ia 160; 114 Ia 299; 116 Ia 162 und BGer 6B_315/2007 vom 12.11.2007 E. 4.3 f. Bestätigt durch BARROT, S. 706 sowie DEMKO, S. 291. DEMKO, S. 288. DEMKO, S. 290. MEYER-LADEWIG JENS, EMRK, Handkommentar, 3. Aufl. Art. 6 Ziff. 2, N 86a. BARROT, S. 701. DEMKO, S. 290. TOPHINKE, S. 417. EGMR, Urteil Lutz c. Deutschland vom 25.08.1987, Ser. A Nr. 123-A; Abweichende Meinung des Richters CREMONA, EuGRZ, S. 404 f. KÜHL KRISTIAN, Rückschlag für die Unschuldsvermutung aus Strassburg: Die neuste Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 6 II MRK, NJW 1988, S. 3233 ff. 5 Strafprozessrecht II FS 2016 Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Nisrete Choti Eigenständigkeitserklärung Hiermit erkläre ich, dass ich die vorliegende schriftliche Arbeit selbstständig und nur unter Zuhilfenahme der in den Anmerkungen genannten Quellen angefertigt habe. Ich versichere zudem, diese Arbeit nicht anderweitig als Leistungsnachweis verwendet zu haben. Eine Überprüfung der Arbeit auf Plagiate unter Einsatz entsprechender Software darf vorgenommen werden. Zürich, 10. März 2016 Nisrete Choti 6
© Copyright 2024 ExpyDoc