Diamanten im Kohlenhunt

Diamanten im Kohlenhunt
TITEL
Erinnerungen an klassische
Bundesbahn-Winter und eine
funktionierende Eisenbahn
Alle reden vom Wetter. Wir auch. So müsste heute die DB AG verlautbaren lassen, da der Winter vor der Tür steht, Schnee und Eis
womöglich die (neuerdings) routinierte stundenlange Einstellung
des Betriebes nach sich ziehen. Wie es dazu kommen konnte,
schildert Joachim Seyferth für die BAHNEpoche.
Wäre heute nur peinlich. Das berühmte
Werbeplakat, entworfen 1968 von der Agentur
„McCann Erickson“ und medial begleitet von Schwarzweiß-Werbespots im Fernsehen, hing überall, gewann
Preise und wurde zur geflügelten Redewendung.
Sisyphusarbeit? Kreuzungsweichen gangbar
halten, mag, wie hier in Hamburg-Altona im Februar
1956, wie eine vergebliche Arbeit gewirkt haben. Wenn
das Unterhemd durchgeschwitzt und die Füße nass waren,
konnte man von vorne anfangen. Aber was muss, dass muss.
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BAHN Epoche · Winter 2016
FOTO: walter hollnagel, werbeplakat: slg. Joachim seyferth
Winter 2016 · BAHN Epoche
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TITEL
G
rößer konnten die Kontraste kaum sein. Die weit ausladenden
Schwingen des in Sandstein gehauenen Flügelrades über dem
Eingang zur Lokleitung schienen von flankierenden Eiszapfen
zur übersteigerten Erstarrung gezwungen. Neben der Treppe
lehnten eine weißgefleckte Schneeschaufel sowie ein altes Borstenvieh von Besen, die jüngsten Fußabdrücke im Schnee waren bereits
wieder mit einem Flaum frischer Flocken befüllt. Die frostig-einsame
Atmosphäre und der Wochentag, ein Sonntag, täuschten stark verminderten Bahnbetrieb am Rande der Betriebsruhe vor, doch beim Gang
um das Gebäude zur Drehscheibe offenbarten sich in einem kurzen
Moment strahlenden Gegenlichts jene Kontraste – tiefes Schwarz
versus blendendem Weiß, siedende Hitze neben eiskalter Glätte und
fauchende Maschinen am Zügel friedlicher Menschen:
Hinter dem schneegrellen Lineal der Drehscheibenbühne und ihrer zwei gleißenden Schienen schälte sich im dunklen Rundschuppen die schwarze Silhouette einer Lokomotivfront hervor. Ein paar
Dampffetzen umspielten die Zylinder und mäanderten chaotisch
umher, optische Verlierer im Weiß des Bodens und theatralisch helle Nebeltänzer vor dem Passepartout der Remise. In dramaturgisch
gedehnter Zeit vergrößerten sich Rauchkammertür und Pufferbohle,
das Gleis hinter dem Lineal knackte und ächzte. Noch eine Kunstpause in diesem Auftritt, dann zerstörte ein jäher Pfiff, laut und kurz
wie ein unmissverständlicher militärischer Befehl, das winterliche
Weichbild dieser Szenerie.
Wärter Steinhorst fuhr heute das Karussell. Er eilte von den
Kohlenhunten zur Drehscheibe und winkte die fauchende Maschine
heran, die Bühne lag bereits verriegelt an ihrem Strahlengleis. Achse für Achse polterte auf dem Lineal auf, jener unregelmäßige eiserne Herzschlag und dennoch verlässliche metallische Rhythmus
jedes Bahnbetriebswerkes, der nicht nur Baureihe und Lokpersonal
offenbarte, sondern zugleich von Aufbruch und Heimkehr kündete.
Die Vibration der letzten Treibachse ließ einen bislang tapferen Eiszapfen am Übergang zum Tender auf das Bühnenblech krachen. Im
nunmehr vom hohen Leib der Lokomotive bedrohlich verdunkelten
Bedienstand griff Steinhorst zu einigen Hebeln und versetzte die
Unfallschutzplakat. Weichensäubern im Schneegestöber vor einer
78. Von Walter Hollnagel, dem Hamburger Direktionsfotograf, stammt
die Bildvorlage. Er machte sie in Altona im furchtbaren Winter 1946/47.
Schwebende Lasten, gefrierende Nässe. Wie sehr winterliche
Arbeitsbedingungen in Bahnbetriebswerken zur Dampflokzeit gelinde
gesagt gefahrenträchtig gewesen sein mussten, ahnt man bei diesem
Blick zu Beginn der fünfziger Jahre ins Bw Radolfzell. 18 479 ist Wendelok von Lindau, wo sie Zeit ihres Daseins (1923 bis 1956) beheimatet war;
eine örtliche 922-3 (bad. X b) könnte passgenauer am Wasserkran stehen.
Schneeräumen, hier unter tatkräftiger Hilfe belgischer Soldaten, am
Westkopf des Rangierbahnhof Gremberg im Südosten Kölns (um 1955).
Umgebung in Bewegung, das Lineal rasselte und vibrierte, hinter
den beschlagenen Scheiben schmatzte ungerührt die Speisepumpe des ausrückenden Protagonisten. Doch es waren nur drei Gleise Fahrt, der Verriegelungsbolzen fand während der ruckelnden
Endjustierung der Bühne sein Ziel, Steinhorst ließ die unwürdige Schnarre ertönen. Neben ihm zischte Dampf auf, majestätisch
langsam bewegten sich Stangen und Speichen, die Laufachse eröffnete das vertraute Schlagwerk seiner Arbeitsheimat. Noch vier
Mal polterte der Tender, dann griff Steinhorst zur Vesper, setzte
sich auf seinen Stuhl und sah mit der tropfenden Schneespur auf
dem Bühnengeländer seiner Dienstschicht beim Schmelzen zu.
Drei Lokomotiven und drei Karussellfahrten später war Steinhorst wieder bei der Lokbehandlung und den Kohlenhunten. An
Sonntagen war er Mädchen für alles, die Männer der Schneewache
hatten draußen auf den Bahnhöfen genug zu tun. Zu seinen Füßen
hielt er mit Schaufel und Sand die Bohlenübergänge in den Gleisen
und die Stufen zu den Schlackengruben trittfest, unterbrochen vom
Anpfiff der nächsten Lokomotive, die auf die Bühne wollte. Immer
die gleichen Wege, immer vorbei an diesen tiefschwarzen Wägelchen, deren hohe Kohlenladung sich unter der weißen Neuschnee-
Die Winterhärten, etwa von 1956 oder 1962/63, wurden vor allem durch
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BAHN Epoche · Winter 2016
Plakat: Slg. Seyferth, FOTOs: bd köln/LWL-industriemuseum, DB/Slg. heinemann
decke zu tarnen versuchte. Und immer wenn die tiefstehende Sonne
kurz zwischen den Winterwolken hervorblitzte, begann dieser sich
in Augenhöhe befindliche Überzug zu strahlen und zu funkeln, ganz
so, als ob die verbeulten Behälter nicht mit schnöder Steinkohle,
sondern mit dem reinstem Kohlenstoff der Welt befüllt wären.
Das war im letzten Jahrhundert, Ende 1953, vier Jahre nach Gründung der Deutschen Bundesbahn und auch Marilyn Monroe hauchte
mit „Diamonds are a girl‘s best friend“ in diesem Jahr erstmals ihre
Hommage an die funkelnden Edelsteine. Vielleicht sogar an jene
in den Kohlenhunten, denn die Eisenbahn war noch nicht zu einem
austauschbaren Verkehrsmittel verkommen, sondern Rückgrat des
Wiederaufbaus und der mühselig prosperierenden Wirtschaft. Ein
begehrter Arbeitsplatz, ein nicht im Entferntesten hinterfragter Bestandteil der Alltagskultur, innig vernetzt in den Köpfen und Herzen.
Und während Marilyn allen Mädchen dieser Welt beste Freunde
bescherte und sogar Wärter Steinhorst bei Schnee und blendendem Gegenlicht nicht aus dem Sinn ging, hatte es irgend jemand
damals versäumt, auch dem Winter und der Eisenbahn ein Hohelied zu singen, denn in Wirklichkeit waren die mitunter widrige
Jahreszeit und der eiserne Weg keine Feinde, keine Widersacher,
sondern Freunde! Denn der Winter versetzte die Eisenbahn in die
zumeist bravourös gemeisterte Herausforderung, ihre Systemvorteile und Leistungsstärke vollends auszuspielen und zu beweisen.
Er machte sie erst recht unverzichtbar und verhalf ihr neben dem
Kollaps anderer Verkehrssysteme zur Geltung. Gepaart mit einer
noch selbstbewussten und willensstarken Mentalität der Eisenbahner war der Winter eine einzige Leistungsschau, jedwede Kapitulation völlig undenkbar. Der Winter, als Väterchen Frost ein mitunter
eisiger, aber unter allen Schneekristallen insgeheim warmherziger
Verwandter und Freund der Eisenbahn!
die Muskelwärme des „Personalapparates“ kompensiert.
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