Warum werden Menschen zu Terroristen? Ursachen des Terrorismus aus Sicht der Critical Terrorism Studies Dr. Helge Batt Institut für Sozialwissenschaften, Abt. Politikwissenschaft Universität Koblenz-Landau [email protected] https://www.youtube.com/watch?v=QAslbs2r3Cg Gliederung 1. Was ist Terrorismus? 2. Unterscheidung der Erklärungsansätze für Terrorismus 3. Mythen?! 4. Die Ursachen von Terrorismus auf der Makroebene: ‚Root Causes‘ 5. Die Verbindung von Structure und Agency zur Erklärung der Ursachen von Terrorismus 6. Warum ist es wichtig, sich über die Ursachen von Terrorismus Gedanken zu machen? 7. Was steht dahinter?: Critical Terrorism Studies (CTS) 8. Auf dieser Grundlage: Was kann man gegen Terrorismus tun? 9. Schluss 1. Was ist Terrorismus? Terrorismus ist eine Form der politisch motivierten Gewalt oder Gewaltandrohung Terrorismus ist eine Form politischer Kommunikation Propaganda der Tat (Mikhail Bakunin) Symbolische Gewalt Kommunikation als Ziel terroristischen Handelns Terrorismus ist eine Form der instrumentalisierten Gewalt zur Einschüchterung und Erzeugung von Angst Terrorismus ist eine Strategie des Handelns, kein Wesensmerkmal von Akteuren Terrorismus ist ein ontologisch instabiles, sozial konstruiertes Label 2. Unterscheidung der Erklärungsansätze für Terrorismus 3 Ebenen der Erklärung Makroebene (Root Causes): kausale Zusammenhänge zwischen Terrorismus und strukturellen Faktoren (z.B. politisches System, sozioökonomische Entwicklung, ethnische Ungleichheit) Mikroebene: Fokus auf Individuen und ihre Überzeugungen und Identitäten Mesoebene: soziale Gruppen, Organisationsstrukturen, Organisationsentwicklung soziale, politische, ökonomisch, kulturelle Missstände versus Opportunitätsstrukturen Strukturen (‚Structure‘) versus Akteur (‚Agency‘) strukturelle Erklärung des Terrorismus akteursbezogene Erklärung des Terrorismus Interaktion von Struktur und Akteur 3. Mythen über die Ursachen von Terrorismus Mythos 1: Armut macht Menschen zu TerroristInnen ABER: arme Menschen greifen nicht häufiger zum Instrument des Terrorismus als Menschen aus der Mittelschicht und mit höherem Bildungsniveau (Beispiele: RAF, Hisbollah, extremistische jüdische Siedler) Studien zeigen keinen direkten Zusammenhang zwischen Armut und (internationalem) Terrorismus (z.B. Malečková (2005)) mögliche indirekte Wirkungszusammenhänge: Verbindung von ökonomischer Ungleichheit und ethnischer Spaltung einer Gesellschaft oder fehlenden Freiheitsrechten Gründe für Mythos: Interessen der ‚Entwicklungshilfeindustrie‘ Mythen über die Ursachen von Terrorismus Mythos 2: TerroristInnen sind psychisch krank: „Die sind doch alle verrückt“ ABER: TerroristInnen sind „normale“ Individuen, keine ‚Gestörten‘, keine ‚Verrückten‘, ‚keine Monster‘ (Andrew Silke, John Horgan, Martha Crenshaw) psychologische Pathologien für TerroristInnen eher hinderlich (Motivation, Fokussierung, Belastbarkeit, rationales Handelns...) Gründe für Mythos: Attributionsfehler, Selbstentlastung Mythen über die Ursachen von Terrorismus Mythos 3: Religion macht Menschen zu TerroristInnen ABER: Religion als Kausalfaktor ‚verschleiert‘ die enge Verbindung von Religion und Politik säkulare Ideen und Ziele beeinflussen auch den sog. ‚neuen‘, vermeintlich ‚religiösen‘ Terrorismus (Bsp. Hamas, Hisbollah, IS) Terrorismus als eine Form der Artikulation von Unzufriedenheit mit dem status quo (Jessica Stern) Religion als Instrument zur Motivation, Rechtfertigung, Mobilisierung und Rekrutierung (Jessica Stern) Instrumentalisierung von Religion zum Zwecke der Machtanhäufung, der Erzeugung von Aufmerksamkeit und der Erlangung von Finanzmitteln Gründe für Mythos: Ignoranz gegenüber Missständen und politische Forderungen von Terroristen 4. Die Ursachen von Terrorismus auf der Makroebene: ‚Root Causes‘ politische Root Causes sozioökonomische Root Causes soziale Root Causes geopolitische Root Causes Demokratisierung Exklusion Repression Legitimitätsmangel Historisches Erbe schwache Zivilgesellschaft Failed States Ungleichheit schnelle, ungleiche Entwicklung Modernisierung mangelnde soziale Unterstützung Arbeitslosigkeit Bildungsmangel interne und externe Migration Globalisierung westliche Außenpolitik Migration NGOs transnationale Kriminalität 5. Die Verbindung von Structure und Agency zur Erklärung der Ursachen von Terrorismus Akteur Prägung durch situationale Prädispositionen · · · · · · ‚sich schlecht fühlen, schlecht handeln’ Provokation Frustration Wut Angst Rache Prägung durch langfristige Prädispositionen · · · · · · · Gewalterfahrungen Demütigungserfahrungen Ohnmachtserfahrungen Armutserfahrungen Kriegserfahrungen Gewalt als „sacred value“ (Scott Atran) posttraumatische Belastungsstörungen Struktur Opportunitätsstrukturen (Robert Merton) Strukturen , die als Kontextbedingungen individuellen Verhaltens die Handlungsmöglichkeiten von Akteuren gestalten, begrenzen, erweitern...) · · · · kulturelle Strukturen (Identitäten, Zugehörigkeiten, Ziele, Normen, Werte, Ideen, Ideale , Ideologien, Religionen) Geschichte soziale, (außen-)politische, ökonomische Kontextbedingungen Organisationsstrukturen sozialer Gruppen o materielle Ressourcen o Unterstützung o Organisationsstrukturen o Rekrutierung o Führungspersonal o Attraktivität o kulturelle Ressourcen (Erfahrungen und Erlebnisse der Anhänger, Ideologie (Religion) https://www.youtube.com/watch?v=jHXLaio8G3I 6. Warum ist es wichtig, sich über die Ursachen von Terrorismus Gedanken zu machen? Gefahr der Depolitisierung des Terrorismus (siehe Mythen!) Zusammenhang zwischen Ursachenerklärung und Antiterrorpolitik wahrnehmen Gefahr der Legitimation gewaltsamer und militärischer, letztendlich aber wirkungsloser oder sogar kontraproduktiver Antiterrorpolitik Verdrängung der Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit den möglicherweise gerechtfertigten Forderungen von TerroristInnen Gefahr der Gewaltbekämpfung ohne Beseitigung der strukturellen Ursachen des Terrorismus Verdrängung von politischen Ursachen des Terrorismus Dämonisierung von TerroristInnen Verdrängung der Verantwortung des WIR für den status quo und den Terrorismus 7. Was steht dahinter?: Critical Terrorism Studies (CTS) CTS: wissenschaftliche Beschäftigung mit Terrorismus aus der Tradition der Gegenhegemonie, der Kritischen Theorie und der Critical Security Studies Entstehung: 00er Jahre Hauptvertreter: Richard Jackson, Jeroen Gunning, Marie Breen Smith, Lee Jarvis, Jack Holland Terrorismus als soziale Konstruktion oder Labelling gewaltsamer Handlungen durch politische, rechtliche und wissenschaftliche Praktiken und Prozesse Verstehen und Kritik dominanter Formen der Terrorismusbekämpfung („War on Terror“) Schlüsselbegriffe der CTS ontologische Grundlagen (Was ist Terrorismus?) • • • • Terrorismus als kontextgebunde historische, soziale und diskursive Konstruktion Terrorismus entsteht durch soziale Bedeutungszumessung ontologische Instabilität statt Objektivität nicht-staatlicher und staatlicher T. methodologische Grundlage (Wie können wir Terrorismus untersuchen?) • • • • • Feldstudien Primärquellen Verstehen Interpretation Narrative Analyse epistemologische Grundlagen (Was können wir über Terrorismus wissen?) • • • • critical theory statt problem-solving theory Subjektivität der Erkenntnis Wissen und Macht: „theory is always for somebody and some purpose“ (Robert Cox), Wissen als soziale Konstruktion ethisch-normative Grundlagen (Welche ethisch-normativen Ziele haben CTS?) • • • • Emanzipation als Ziel und Mittel um dieses Ziel zu erreichen Human Security statt State Security Fokus auf Individuum Vermeidung von Leid 8. Auf dieser Grundlage: Was kann man gegen Terrorismus tun? Konstruktion bürgerschaftlicher, verfassungsstaatlicher, liberaler, pluralistischer und toleranter Identitäten und Werte als Aufgabe für Staat und Gesellschaft: „Europa statt Raqqa als Bezugspunkt“ Antirassismus, Antidiskriminierung und Chancengleichheit bottom-up De-Radikalisierungsprogramme und Prävention gegen Radikalisierung von Islamisten in muslimischen und nicht-muslimischen Staaten ‚empathischer‘ Blick auf die Individuen mit Idealen, Hoffnungen und Humanität: auch TerroristInnen sind Menschen „verstehen“, warum Menschen glauben, zu Gewalt greifen zu müssen, um Gewalt und Unterdrückung zu beseitigen hard power und Gewalt als Antwort auf Terrorismus vermeiden, denn: Gewalt erzeugt Gegengewalt; statt dessen: soft power mit TerroristInnen verhandeln (Bsp. Nordirland, Kolumbien) Kontextualisierung von Terrorismus: politische, historische, psychologische und sozialen Hintergrund von Terrorismus wahr- und ernstnehmen Politisierung statt Depolitisierung von Terrorismus: politische Forderungen von TerroristInnen wahrund ernstnehmen Was kann man gegen Terrorismus tun?...die strukturelle Ebene Demokratie, bürgerliche Freiheiten und Herrschaft des Rechts funktionierende Staatlichkeit angemessene Geschwindigkeit der Modernisierung Machtverteilung Kampf gegen die Korruption keine Unterstützung illegitimer oder korrupter Regierungen Abkehr von Besatzung und neokolonialer Herrschaft keine ethische oder religiöse Diskriminierung Integration sozialer, ethnischer, religiöser Gruppen soziale Gerechtigkeit Mäßigung staatlichen Verhaltens, kein Staatsterrorismus 9. Schluss 1. ‚Ursachen des Terrorismus‘ als problematischer, zu stark vereinfachender Begriff 2. ‚Root Causes‘ weder ‚Henne noch Ei‘ bei der Suche nach den ‚Ursachen‘ des Terrorismus 3. strukturelle Variablen nur eine notwendige, aber keine hinreichende Erklärung für Terrorismus 4. Erklärung von Terrorismus durch komplexe Mischung von Politik, Sozialem, Kultur, Ökonomie und Psychologie 5. Vorsicht vor monokausalen Erklärungen, ‚objektiven‘ Gesetzmäßigkeiten, stattdessen Kontextgebundenheit, Subjektivität und soziale Konstruktion des Phänomens ‚Terrorismus‘ im Auge behalten 6. „verstehende“ Beschäftigung mit Terrorismus: „Verstehen ohne Verständnis“, Einfühlungsvermögen ohne Rechtfertigung von Gewalt Leseempfehlungen Stern, Jessica (2003): Terror in the Name of God. Why Religious Militants Kill. New York. Stern, Jessica/Berger, J.M. (2015): ISIS. The State of Terror. New York. Atran, Scott (2010): Talking to the Enemy. Faith, Brotherhood, and the (un)mkaing of Terrorists. New York. Gunning, Jeroen (2007): A Case for Critical Terrorism Studies?, in: Government and Opposition 2007, Bd.42, Nr.3, S.363-393. Breen Smyth, Marie u.a. (2008): Critical Terrorism Studies – an introduction, in: Critical Studies on Terrorism 2008, Bd.1, Nr.1, S.1-4. Jackson, Richard/Breen-Smyth, Marie/Gunning, Jeroen/Jervis, Lee (2011): Terrorism. A Critical Introduction. Houndsmills, Basingstoke, Hampshire. Jackson, Richard (2014): Confessions of a Terrorist. A Novel. London/New York. Richard Jackson auf Twitter: @RJacksonterror.
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