Psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützung für Flüchtlinge, Asylwerber_innen und Migrant_innen, die sich in Europa bewegen EINE ORGANISATIONSÜBERGREIFENDE ORIENTIERUNGSHILFE 1 Psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützung für Flüchtlinge, Asylwerber_innen und Migrant_innen, die sich in Europa bewegen EINE ORGANISATIONSÜBERGREIFENDE ORIENTIERUNGSHILFE, DEZEMBER 2015 Text und Koordination: Peter Ventevogel (UNHCR); Guglielmo Schinina (IOM); Alison Strang (mhpss.net); Marcio Gagliato (mhpss.net), Louise Juul Hansen (IFRC Psychosocial Centre) Titelphotos: Stephen Ryan, IFRC; Franscesco Malavolta, IOM; Maria De Laiglesia Noriega, Spanish Red Cross; Amanda Nero, IOM 2 Psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützung für Flüchtlinge, Asylwerber_innen und Migrant_innen, die sich in Europa bewegen EINE ORGANISATIONSÜBERGREIFENDE ORIENTIERUNGSHILFE Dieser kurze Leitfaden möchte Ratschläge zum Schutz und zur Unterstützung der psychischen Gesundheit und des psychosozialen Wohlbefindens von Flüchtlingen, Asylwerber_innen und Migrant_innen in Europa bieten. Er beschreibt Grundprinzipien und angemessene Interventionen, um all jene anzuleiten, die Notversorgung planen und organisieren und/oder den betroffenen Menschen direkt Hilfe leisten. Eine noch nie da gewesene Zahl von Einzelpersonen und Familien, darunter eine steigende Anzahl von Kindern, aus dem Nahen Osten, Afrika und Zentralasien hat das Mittelmeer und das Ägäische Meer überquert, um in Europa Sicherheit und Schutz zu finden. 2015 sind dabei mehr als 3.500 Menschen ertrunken oder verschwunden.1 Derzeit sind hunderttausende Frauen, Männer, Mädchen und Buben, die vom Gesetz als Flüchtlinge, Asylwerber_innen und Migrant_innen bezeichnet werden, auf ihrem Weg zu einem Zielland innerhalb europäischer Gebiete unterwegs. Unter den sehr komplexen und zahlreichen Bedürfnissen dieser Populationen kommt dem Schutz ihrer psychischen Gesundheit und ihres psychosozialen Wohlbefindens besonderer Stellenwert zu. Diesen soll daher gebührende Aufmerksamkeit geschenkt werden. 2 3 Herausforderungen für psychische Gesundheit und psychosoziales Wohlbefinden Flüchtlinge und Migrant_innen, die nach Europa kommen, erlebten in ihren Herkunftsländern oftmals Krieg, Verfolgung und extreme Notlagen. Viele waren von Vertreibung und Not in Transitländern betroffen und begaben sich auf gefährliche Reisen. Mangel an Informationen, Ungewissheit über den Einwanderungsstatus, Feindseligkeiten, sich ändernde Richtlinien, würdelose und langwierige Inhaftierungen erzeugen zusätzlichen Stress. Zwangsmigration zerstört den schützenden Rückhalt, den es vor der Migration gab – wie jenen, den die Großfamilie bietet – und kann kulturelle, religiöse und Geschlechtsidentitäten in Frage stellen. Zwangsmigration erfordert mehrere Anpassungen in kurzen Zeitspannen. Menschen – vor allem, aber nicht nur – Kinder werden anfälliger für Missbrauch und Vernachlässigung. Bereits vorhandene soziale und psychische Gesundheitsprobleme können sich verschärfen. Wichtig ist zu bedenken, dass die Art, wie Menschen empfangen und wie Schutz und Hilfe geleistet werden, Probleme hervorrufen oder verschlimmern kann; zum Beispiel, wenn Hilfestellungen die Menschenwürde untergraben, gegenseitige Unterstützung nicht fördern oder nicht wertschätzen und Abhängigkeitsverhältnisse schaffen. Ein akutes Gefühl der zeitlichen Dringlichkeit unter den Menschen, die sich durch mehrere Länder bewegen, kann sie dazu veranlassen, extreme medizinische und psychosoziale Risiken einzugehen. Viele verweilen nur sehr kurz an einem Ort und es bleibt oft nur wenig Zeit, um Dienstleistungen und Hilfestellungen für sie bereitzustellen. Häufige psychische und psychosoziale Reaktionen Flüchtlinge und Migrant_innen können sich überwältigt oder verwirrt und verzweifelt fühlen; sie können extreme Angst und Sorgen erleben sowie starke Ausbrüche von Ärger und Traurigkeit; sie können an Albträumen und andere Schlafschwierigkeiten leiden. Zu Beginn, gleich nach der Ankunft in Europa, 3 können manche euphorisch sein. Dennoch sind die meisten von zahlreichen Verlusten betroffen und trauern um nahe Bezugspersonen, Orte und das Leben, das sie zurückgelassen haben. Sie können sich ängstlich oder besorgt fühlen oder wie betäubt und ohne Zugang zu ihren Gefühlen. Manche Menschen haben Reaktionen, die ihr Funktionieren und ihre Denkfähigkeit beeinflussen. Dadurch kann ihre Fähigkeit, für sich selbst und ihre Familien zu sorgen und mit den Gefahren und Risiken auf ihrem Weg zurechtzukommen, eingeschränkt sein. Es ist sehr wichtig zu erkennen, dass viele Stressreaktionen natürliche Wege sind, mit denen Körper und Geist auf äußere Stressfaktoren reagieren, und dass diese Reaktionen unter den sehr schwierigen Umständen nicht als abnormal gesehen werden. Die Auswirkungen von Stress können durch Erfüllung der Basisbedürfnisse, Sicherheit und soziale Unterstützung gemildert werden. Beschwerden in Zusammenhang mit extremem Stress wie zum Beispiel posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), sind bei Flüchtlingen häufiger als bei Menschen, die nicht zwangsvertrieben wurden. Potenziell traumatische Ereignisse aus der Vergangenheit sind jedoch nicht die einzige und auch nicht die wichtigste Ursache für seelische Probleme. Der Großteil des seelischen Leids steht in direkter Verbindung mit den aktuellen Belastungen und Sorgen und der Unsicherheit über die Zukunft. Ein Flüchtling oder ein/e Migrant_in zu sein allein, macht die Einzelpersonen daher nicht prinzipiell anfälliger für psychische Probleme; dennoch, Flüchtlinge und Migrant_innen können verschiedenen Stressfaktoren ausgesetzt sein, die ihr psychisches Wohlbefinden beeinflussen. 4 Grundprinzipien zur Förderung von psychischer Gesundheit und des psychosozialem Wohlbefindens Es gibt nicht eine Methode oder ein Modell, um Flüchtlinge und Migrant_innen, die in Europa unterwegs sind, psychologische und psychosoziale Unterstützung zu geben – allerdings haben Organisationen, die in diesem Bereich tätig sind, folgende Prinzipien aus bewährter Praxis vereinbart, die zur Orientierung bei der Entwicklung von Interventionen und zur Vermeidung von unbeabsichtigtem Schaden dienen sollen: 1. Behandle alle Menschen mit Würde und Respekt und unterstütze Eigenverantwortlichkeit In chaotischen und überwältigenden Situationen konzentrieren sich Helfer_innen oft nur auf das, was ihrer Meinung nach getan werden muss, ohne dass sie ausreichend darauf achten, wie ihre Aktivitäten von Flüchtlingen und Migrant_innen erlebt werden. Es ist wichtig, auf würdefördernde und -erhaltende Art Hilfe zu leisten und dabei Respekt gegenüber der Eigenständigkeit und Privatsphäre der betroffenen Person zu zeigen. Jede Personengruppe, einschließlich Kindern, Menschen mit besonderen Bedürfnissen oder Minderheiten, hat das Recht, nach dem Prinzip der gerechten Verteilung und ohne Diskriminierung behandelt zu werden. Die Unterstützung sollte den Menschen soweit als möglich erlauben, selbst zu entscheiden, wie sie Dinge tun möchten, wodurch sie ein Gefühl persönlicher Kontrolle beibehalten. Dabei ist wichtig, mit Flüchtlingen und Migrant_innen in Bezug auf ihre Bedürfnisse und Fähigkeiten in Dialog zu treten und Unterstützungsangebote auf Grundlage ihrer Ideen und Anregungen weiter zu entwickeln. Dies ist eine Voraussetzung für wirksame psychosoziale Unterstützung, allerdings besonders schwierig umzusetzen, wenn Menschen nicht lange an einem Ort bleiben. IASC Guidelines on Mental Health and Psychosocial Support in Emergency Settings – (IASC, 2007). Dieses Dokument wird von mehr als 35 Organisationen, die in der humanitären Hilfe tätig sind, anerkannt. Es enthält wesentliche Richtlinien für multisektorale Interventionen, um den Schutz und die Verbesserung psychischer Gesundheit und des psychosozialen Wohlbefindens von Menschen in Notsituationen zu garantieren. 2. Reagiere auf Menschen in Not auf menschliche und unterstützende Art und Weise Jeder/jede, der/die Flüchtlinge und Migrant_innen unterstützt, sollte wissen, wie man Menschen in akuten Notsituationen beistehen und ihre Belastung, soweit möglich, lindern kann. Psychische Erste Hilfe (PEH) beschreibt eine Reihe von einfachen Prinzipien und Maßnahmen, die von jedem/jeder (Laien und Professionellen) angewendet werden können, um auf Menschen in Not zu reagieren. Halbtägige oder mehrtägige PEH-Training-Workshops anzubieten, kann eine wirkungsvolle Maßnahme sein, um spezifische soziale Kompetenzen bei Menschen im Kontakt mit Flüchtlingen und Migrant_innen (einschließlich Freiwilligen, Staatsbediensteten, Polizeibeamt_innen oder Grenzpersonal) zu fördern. Psychological First Aid. Guide for Field Workers (WHO, World Vision und War Trauma 4 Foundation, 2011) – Handbuch mit einfachen Anleitungen, wie für Erwachsenen und Kinder, die von schweren Krisen betroffen sind, menschliche, unterstützende und praktische Hilfe geleistet werden kann. Eine Reihe von Übersetzungen dieses Dokuments sind auf der dieser Website verfügbar. Psychological First Aid. Pocket Guide – Wichtige Grundprinzipien auf einer Seite Psychological First Aid for Children – (Save the Children, 2013) möchte Fähigkeiten und Kompetenzen vermitteln, um die akute Notlage von Kindern, die gerade besonders belastenden Ereignissen ausgesetzt waren, zu mildern. 3. Gib Informationen über Dienstleistungen, Unterstützungen und gesetzliche Rechte und Pflichten Eine Hauptquelle der Belastung für Menschen unterwegs ist der Mangel an Informationen. Die Versorgung mit aktuellen Sachinformationen darüber, wo und wie man Hilfe bekommen kann, kann die Verzweiflung in einer sich ständig ändernden Situation wesentlich mildern. Derartige Informationen können mittels Anlaufstellen, Broschüren, Radio, TV und Telefon sowie durch das Internet bereitgestellt werden. Helfer_innen müssen in der Lage sein, abgesicherte Fakten zur Verfügung zu stellen und Menschen an Orte zu verweisen, wo sie Informationen erhalten können. Zugang zu Informationstechnologie, Telefonen und Möglichkeiten zum Aufladen von Telefonen ist unerlässlich, damit den Menschen dabei geholfen wird, selbst Auskünfte einzuholen und Bezugspersonen zu kontaktieren. Die Informationen müssen für alle unterschiedlichen Gruppen, die unterwegs sind, verständlich sein, wie zum Beispiel für Kinder, Menschen mit Behinderungen, Menschen die nicht lesen können oder für ältere Menschen. UNHCR Mittelmeer-Portal (auf Englisch) – für aktuelle Informationen über die Flüchtlings- und Migrant_innen-Situation in Europa MHPSS.net Online-Gruppe für die Migrationskrise im Mittelmeer (auf Englisch) – Webspace, um sich mit Menschen und Ressourcen zum Thema zu verknüpfen ACAPS Briefing MIGRATIONCRISIS – Krisenüberblick REACH – Online-Crisis-Mapping-Tool, Krisenüberblick Interinstitutionelles Portal zum Informationsaustausch: Syria Regional Refugee Response (auf Englisch) für aktuelle Informationen zur syrischen Flüchtlingskrise 4. Biete relevante Psychoedukation an und verwende eine geeignete Sprache Es kann wichtig sein, Flüchtlingen und Migrant_innen dabei zu helfen, die manchmal überwältigenden Gefühle zu verstehen, die normalerweise auf Grund der vielen Stressfaktoren, mit denen sie konfrontiert sind, entstehen. Zum Beispiel können Menschen Veränderungen in ihren Schlaf- und Ernährungsgewohnheiten durchmachen oder rasch in Tränen ausbrechen oder leicht gereizt sein. Es kann hilfreich sein, den Menschen zu versichern, dass viele dieser Reaktionen normal sind, und ihnen einfache Wege zur Bewältigung von Verzweiflung und negativen Gefühlen zu zeigen. Angesichts der hohen Mobilität dieser Population ist es hilfreich, kurze und praktische Informationen in Sprachen anzubieten, die Menschen in dieser Situation verstehen können. Die Informationen sollten Alltagssprache verwenden und klinische Begriffe außerhalb von klinischen Situationen vermeiden. Am wichtigsten ist es, keine Wörter wie ,traumatisiert‘, ,Psychotrauma‘, ,PTBS‘ zur Beschreibung einer gesamten Population zu verwenden. Self-help book for men facing crisis and displacement (IOM, 2015) – eine Broschüre, die syrischen Männern dabei helfen soll, die Gedanken, Gefühle und Emotionen in einer Zeit der Krise zu verstehen und mit ihnen zurechtzukommen (arabische Version) 5. Räume der psychosozialen Unterstützung für Kinder Priorität ein, vor allem für Kinder, die getrennt und unbegleitet sind und besondere Bedürfnisse haben Unbegleitete Kinder und Jugendliche, jene, die von ihrer Familie oder ihren Betreuer_innen während der Reise getrennt wurden, und Minderjährige, die ihre Reise unbegleitet begonnen haben, derzeit aber mit Menschen reisen, sowie Minderjährige mit besonderen Bedürfnissen wie Behinderungen können Missbrauch, Gewalt und Ausbeutung ausgesetzt sein. Die Identifikation und Registrierung von Kindern und Jugendlichen kann Schutz ermöglichen und Leben retten. Durch Hilfeleistung, die an die speziellen 5 Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen angepasst ist, wie etwa Hilfe bei der Kontaktaufnahme mit der Familie, Beratung in Bezug auf ihre Möglichkeiten, Rechtsberatung und angemessene Unterkunft, werden unbegleitete oder getrennte Kinder und Jugendliche dazu angeregt, sich zu registrieren. Kinder- und Familienzentren können diese Art der Unterstützung gemeinsam mit Nahrung, Wasser, Erholung und Spiel sowie warmer Kleidung zur Verfügung stellen. Inter-agency guiding principles on unaccompanied and separated children (2004) Working with the unaccompanied child, (CONNECT Project, 2014) – ein Hilfsmittel für Erziehungsberechtigte und andere Akteure, die für das Wohl des Kindes arbeiten Alternative Care in Emergencies Toolkit (Interagency Working Group on Unaccompanied and Separated Children, 2013) - Arbeitsmaterialien für Notsituationen 6. Stärke die Familienunterstützung Dabei helfen, dass Familien zusammenbleiben. Wo Familien getrennt wurden, den Kontakt zwischen ihnen und dem Familiensuchdienst herstellen. Es ist wichtig sicherzustellen, dass Kinder nicht im Zuge von Unterstützungsangeboten von ihren Eltern getrennt werden. Die Familie und sozialer Rückhalt sind der beste Schutz im Zuge von erfahrenem Leid, und die Verbindung zu einem fürsorglichen Erwachsenen ist ein zentraler Schutzfaktor für Kinder. Wo eine Familienzusammenführung nicht möglich ist, sollten alternative Betreuungsformen im besten Interesse des Kindes/Jugendlichen gefunden werden, wobei der Möglichkeit einer Rückkehr zur Familie oder Großfamilie Priorität eingeräumt werden soll. Falls Familienangehörige auf dem Weg versterben, sollten würdevolle Begräbnisse ermöglicht und Menschen mit demselben religiösen Hintergrund dazu ermutigt werden, an den Begräbnissen teilzunehmen und die Familien zu unterstützen. Trace the face – Migranten in Europa. Familienverbindungen wiederherstellen IKRK (auf Englisch) – Familiensuchdienst für Menschen, die in Verbindung mit Konflikten, Naturkatastrophen oder Migration abgängig sind Broken Links: Psychosocial support for people separated from family members, IFRC, Unterstützung für Menschen die von ihren Familienangehörigen getrennt sind 7. Identifiziere Menschen mit besonderen Bedürfnissen und schütze diese Auch während kurzer Aufenthalte sollten Menschen, die wesentlich stärker gefährdet sind als andere, identifiziert werden und Weitervermittlung zu Einrichtungen für ihren besonderen Schutz und soziale Unterstützung sollte angeboten werden (ohne Stigmatisierung Vorschub zu leisten). Dies kann, in bestimmten Fällen, lebensrettend sein. Zu den Menschen, die besonders gefährdet sein können, zählen allein reisende Kinder und Jugendliche, ältere Menschen, Menschen mit Behinderungen, schwangere Frauen, Folteropfer, Opfer von Menschenhandel, Überlebende sexueller und geschlechtsbezogener Gewalt sowie Personen mit anderer sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität. Es sollte Rückmeldung von den Betroffenen zu Interventionen eingeholt werden und es sollte besonders darauf geachtet werden, gefährdeten Gruppen die Möglichkeit zu geben, ihre Meinungen zu äußern und gehört zu werden. Rapid Assessment Guide for Psychosocial Support and Violence Prevention in Emergencies and Recovery (IFRC 2015) - Assessment Instrument um vulnerable Gruppen zu identifizieren Mental health and psychosocial support for conflict-related sexual violence: 10 myths (WHO, UNFPA, UNICEF, UNAction, & UNHCR 2012) - 10 Mythen über konfliktbezogene sexuelle Gewalt 8. Passe Interventionen an den kulturellen Hintergrund an und stelle angemessene Interpretationen sicher Die Versorgung im Bereich psychischer Gesundheit und psychosozialer Unterstützung muss auf die Bedürfnisse der Menschen zugeschnitten sein, denen sie dient. Helfer_innen im Bereich psychischer Gesundheit und psychosozialer Unterstützung sollten sich daher mit dem kulturellen Hintergrund der Menschen, mit denen sie arbeiten, vertraut machen. Soweit möglich, sollten Interventionen in Abstimmung mit den direkt von der Situation betroffenen Menschen geplant werden. Der Einsatz von Gemeinschafts- oder von Familienmitgliedern als Dolmetscher_innen wird am besten vermieden, es sollten ausgebildete Dolmetscher_innen verwendet werden, idealerweise aus den 6 Herkunftsländern der Migrant_innen. Durch Ausbildung und Betreuung können manche Dolmetscher_innen eine umfassendere Aufgabe als Kulturvermittler_innen übernehmen. Ein/eine Kulturvermittler_in dient als Vermittler_in zwischen einer Person und einer Dienstleistung und verwendet dabei Wissen über Werte, Meinungen und Praktiken innerhalb der eigenen Kulturgruppe in Verbindung mit Wissen über unterschiedliche Betreuungssysteme im Kontext des Aufnahmelandes. Kulturvermittler_innen wurden in europäischen Ländern wirksam zur Flüchtlings- und Migrant_innenbetreuung eingesetzt und können durch bestehende Berufsverbände und Netzwerke in Anspruch genommen werden. ‘Culture, context and the mental health and psychosocial wellbeing of Syrians’ (UNHCR, 2015) – Informationen über Kultur und Wohlbefinden von Syrer_innen, die vom Krieg betroffen sind 9. Stelle Behandlung für Menschen mit schweren psychischen Störungen zur Verfügung Psychologische/psychotherapeutische/psychiatrische Behandlungen sollen nur von anerkannten Fachpersonen und in Übereinstimmung mit nationalen Bestimmungen durchgeführt werden. Soweit dies möglich ist, sind Menschen mit schweren psychischen Störungen an die geeignete Sekundärversorgungseinrichtung zu überweisen. Dies kann Rückfälle oder Krisen bei Menschen mit bereits vorhandenen Störungen einschließen, Menschen mit psychotischen Symptomen, Menschen die nicht mehr arbeitsfähig sind oder jene, die gefährdet sind, sich selbst oder andere zu verletzen, sowie Suchtmittelkonsument_innen, die aufgrund der Krise abstinent sind. Wenn eine Überweisung nicht möglich ist und eine sofortige Behandlung durchgeführt werden muss, sollte berücksichtigt werden, dass Medikamente verschrieben werden, die wahrscheinlich auch in anderen Ländern erhältlich sind, wie etwa jene auf der WHO-Liste der essentiellen Medikamente. Es ist wichtig, eine Liste der essentiellen Medikamente an Gesundheitsstellen in Ankunfts- und Transitbereichen bereitzustellen. Ein Rezept sollte nicht nur den Namen des Arzneimittels, sondern auch seine pharmakologische Zusammensetzung beinhalten, um die Identifizierung einfacher zu machen. Allen Patient_innen sollte ein schriftliches Rezept gegeben werden, das bei Grenzkontrollen vorgewiesen werden kann. Es sollten einfache Gesundheitskarten verwendet werden, damit Flüchtlinge und Migrant_innen Informationen über ihre medizinischen Probleme und die notwendige Behandlung mit sich führen können. mhGAP Humanitarian Intervention Guide – (WHO& UNHCR, 2015) Klinisches Management psychischer Störungen in Notfallsituationen WHO Model List of Essential Medicines (WHO, 2015) WHO Liste der essentiellen Medikamente Personal Health Record handbook – um Gesundheitspersonal bei der Zusammenstellung von Informationen über den Gesundheitszustand, die -bedürfnisse und Medikamentengeschichte der Migrant_innen zu unterstützen (IOM & EU) 10. Beginne keine psychotherapeutischen Maßnahmen, die einer Verlaufskontrolle bedürfen, wenn diese höchstwahrscheinlich nicht möglich ist Ein Haupthindernis für die meisten konventionellen psychotherapeutischen Interventionen für Menschen ,unterwegs‘ ist, dass diese häufig mehrere Sitzungen benötigen. Daher müssen therapeutische Verfahren an die Tatsache angepasst werden, dass das erste Mal, an dem man eine Person sieht, das letzte Mal sein kann. Der Person nicht unbeabsichtigt schaden, indem man sie dazu ermutigt, außerhalb eines stabilen, klinischen Umfeldes über schwierige Erfahrungen zu sprechen. Keine auf Trauma fokussierten Einzelsitzungen als Intervention anwenden, einschließlich (aber nicht beschränkt) auf Debriefing.5 Im Allgemeinen sollten Psychotherapien mit mehrfachen Sitzungen nur in Erwägung gezogen werden, wenn sich die Person in einer stabilen Situation befindet. 11. Beobachte und manage des Wohlbefindens von Mitarbeiter_innen und Freiwilligen Mitarbeiter_innen und Freiwillige, die Flüchtlingen und Migrant_innen unterwegs helfen, werden wiederholt Erzählungen über Gewalt und persönlichen Tragödien ausgesetzt. Sie können unter körperlich anspruchsvollen und unangenehmen Arbeitsbedingungen leben und arbeiten, die durch große Arbeitsbelastung, Überstunden, einen Mangel an Privatsphäre und persönliche Distanz gekennzeichnet sind. Helfer_innen können aufgrund der Entscheidungen, die sie zu treffen haben, in moralische Dilemmata geraten. Diese Stressfaktoren können negative Folgen wie etwa Angst und depressive Gefühle, psychosomatische Beschwerden, übermäßige Identifizierung mit den Hilfeempfänger_innen, Gefühlskälte, Teilnahmslosigkeit, selbstzerstörerisches Verhalten (wie zum Beispiel Alkohol- oder anderer 7 Suchtmittelmissbrauch) und zwischenmenschliche Konflikte mit sich bringen. Humanitäre Helfer_innen sollten wachsam sein gegenüber Zeichen von Stress bei sich selbst und ihren Kolleg_innen. Teamleiter_innen sollten ihre Mitarbeiter_innen beobachten in Bezug auf ihre Stressbelastung, mittels teilnehmender Beobachtung und regelmäßiger Routinebefragung oder durch Organisation von informellen oder offiziellen Gruppensitzungen. Ein unterstützendes, alle einschließendes und transparentes Organisationsklima schützt die Mitarbeiter_innen und Freiwilligen. Managing stress in humanitarian workers (Antares Foundation, 2012) – guidelines for good practice, Richtlinien für gute Praxis Psychological First Aid for Children – (Save the Children, 2013) Section C – One day training on stress management for staff, 1 Tages Training Stress Management 12. Arbeite nicht isoliert: Achte immer auf Abstimmung und Zusammenarbeit mit anderen Viele Menschen beteiligen sich an der Erbringung von Hilfeleistungen für Flüchtlinge und Migrant_innen unterwegs. Manche sind Teil großer Organisationen, andere arbeiten allein oder in kleinen informellen Netzwerken. Es ist wichtig, dass die Helfer_innen/ Organisationen miteinander Kontakt aufnehmen und von der Arbeit, die andere bereits leisten, lernen. Dadurch wird verhindert, dass sich Angebote ihre Arbeit überschneiden oder große Lücken offen bleiben. Auf dem Gebiet der psychischen Gesundheit beruflich tätige Personen (wie Psycholog_innen, Psychiater_innen, Psychotherapeut_innen, Berater_innen, die Flüchtlingen und Migrant_innen helfen, die in Europa unterwegs sind,) sollten sich mit bestehenden Organisationen in Verbindung setzen und keine professionelle Arbeit im Bereich psychischer Gesundheit und psychosozialer Unterstützung außerhalb eines unterstützenden Organisationsumfeldes und von den zuständigen Behörden und Organisationen getragenen Strukturen anbieten. MHPSS.net – Netzwerk für psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützung (auf Englisch) – um sich mit Menschen und Ressourcen zu vernetzen Fußnoten: 1: http://data.unhcr.org/mediterranean/regional.php. (Accessed 22 Nov 2015). 2015. 2: IASC Guidelines on Mental Health and Psychosocial Support in Emergency Settings. Geneva: Inter-Agency Standing Committee. 2007 3: Child Protection Working Group. Minimum standards for child protection in humanitarian action: CPWG, 2012. 4: World Health Organisation Regional Bureau for Europe. Policy brief on migration and health: mental health care for refugees. Copenhagen: WHO-EURO, 2015. 5: Rose, S., Bisson, J., & Wessely, S. Psychological debriefing for preventing post-traumatic stress disorder (PTSD). 2002 8
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