Von der Fiktion zur Realität: Drei Tage Unternehmenswirklichkeit

Von der Fiktion zur Realität: Drei Tage Unternehmenswirklichkeit pur!
(Ein Erfahrungsbericht von Corina Thiel)
Kann man mit einem fiktiven Unternehmen das Gefühl erzeugen, dass man
Mitarbeiter eines realen Unternehmens ist und den Unternehmensalltag mit seinen
schönen und schlechten Seiten selbst erlebt?
Man kann. Als Beispiel dafür dient das Organisationslaboratorium ASPERITAS,
an welchem ich im Wintersemester 2001/2002 teilnahm.
Ziel von ASPERITAS ist es, mittels vorgegebener Prozesse, Regeln und
Strukturen eine fiktive Unternehmung mit seinen sozialen Beziehungsgefügen zu
schaffen, um Studenten den Unternehmensalltag erlebbar zu machen.
Ich sollte also als neue Mitarbeiterin für dieses Unternehmen arbeiten. Gleich zu
Beginn meines ersten „Arbeitstages“ wurde ein Handbuch ausgeteilt, welches die
im Unternehmen geltenden Regeln, die Organisationsstruktur, die Formulare für
die Prozessabwicklung, Urlaubs- und Abwesenheitsregelungen enthielt. Auch ein
konträres Zielsystem der Unternehmung fehlte im „Orgahandbuch“ natürlich nicht.
Schon an dieser Stelle beschlich mich das heimliche Gefühl, näher an der
Unternehmensrealität zu sein, als ich es mir von einem fiktiven Laboratorium
erhofft hatte. Ist es nicht so, dass auch in realen Unternehmen scheinbar
unübersichtliche Orgahandbücher, mit diffizilen Regelungen auf neue Mitarbeiter
einstürmen? Versucht man als neuer Mitarbeiter nicht auch, innerhalb kürzester
Zeit diese Regelungen in sich „aufzusaugen“, mit dem Ergebnis, dass man sich
noch hilfloser fühlt, als man sich ohne dieses „Orgahandbuch“ gefühlt hätte?
Wie dem auch sei. Ich hatte mich auf eine Abteilungsleiterstelle beworben und
musste nun damit zurechtkommen. Auf einer Versammlung lernte ich meine
Mitarbeiter und Kollegen kennen, welche offensichtlich auch noch mit ihren
übernommenen Rollen zu kämpfen hatten. Die Versammlung währte nicht lange
und schon ging es an die Arbeit. Meine Abteilung „produzierte“ die Lösungen für
Kreuzworträtsel. Als Abteilungsleiterin hatte ich die Aufgabe, die Mitarbeiter bei
dieser Aufgabe zu unterstützen. Da sich meine Mitarbeiter schon kannten, fühlte
ich mich als einzig „Neue“ in der Abteilung wieder einmal näher an der Realität, als
mir lieb war.
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Im Laufe der Zeit wurde unsere Abteilung mit typischen Situationen konfrontiert,
wie sie auch in der Produktion vorkommen können: unser Zulieferer leistete nicht
pünktlich, die Produktion stand oder die Zusammenarbeit mit anderen Abteilungen
erfolgte nicht ohne Reibungsverluste. Zusätzliche Besprechungen, an denen ich
teilnahm und welche das Ziel hatten, das im Unternehmen herrschende Chaos
durch Koordinierungsmaßnahmen abzubauen, verursachten stattdessen noch
mehr Verwirrungen und Durcheinander. Auf den Sitzungen kam es zu heftigsten
Kontroversen, so dass ich den Eindruck hatte, dass schon nach einem Tag aus
dem „Spiel“ Ernst wurde. Man konnte beispielsweise auch Mobbing zwischen
Arbeitnehmern und zwischen Abteilungen beobachten. Dennoch: die Mitarbeiter
kämpften gemeinsam zäh um das Überleben des Unternehmens. Dabei brodelte
natürlich auch die Gerüchteküche. Ein Gerücht im Management war zum Beispiel,
dass die Produktionsabteilungen streiken wollen, weil sie mit den Arbeitsbedingungen nicht zufrieden waren. Und dies in einer Situation, in der das
Unternehmen kurz vor dem Konkurs stand (schon am 1. von drei Spieltagen!) Es
dauerte auch nicht lange und es bildeten sich Gruppen heraus. Die im Unternehmen ablaufenden sozialen Prozesse hatten eine Eigendynamik entwickelt. Ich
fühlte mich nicht mehr als Studentin, sondern als Arbeitnehmerin in einem sehr
komplexen und dynamischen Unternehmen.
Kurzum: aus der Fiktion wurde Realität. Auch wenn ich zu Beginn des
Laboratoriums noch skeptisch war: realer konnte selbst die Unternehmensrealität nicht sein. Aus den zuerst noch abstrakten Regeln, Normen und
Prozessen entwickelte sich durch uns Arbeitnehmer eine eigene Organisationskultur. Noch heute frage ich mich, wie konnte es passieren, dass aus dem „Spiel“
Ernst wurde?? Aber diese Frage stellten sich schon die Wissenschaftler bei
anderen Laboratorien und Experimenten (z.B. Milgram Experiment).
Die Antwort ist einfach: Der Mensch wird nicht durch sich allein zum Mensch,
sondern durch das Zusammentreffen mit anderen Menschen.
Meine Beurteilung des Laboratoriums: „Wer daran nicht teilnimmt, ist selber
schuld“.
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