KUNSTZEITUNG 14 Im Sein der Farbe Februar 2016 Realismus begegnet Op Art Ursula Jüngst setzt auf Synästhesie Agnieszka Kaszubowska trifft einen Nerv D er Großvater war bereits zu alt, um noch zu malen. Die Enkelin sitzt mit ihm auf einer der Streuobstwiesen. Birnbäume um sich herum, sprechen beide über Grün. Sie sind eingetaucht in die Tiefe der Farben, die wir Normalos niemals erreichen werden. Eine Sprache, die wir nie sprechen werden. Damals hat niemand das Mädchen und den Alten verstanden. Dass Ursula Jüngst später Künstlerin, Malerin wurde, habe sich so entwickelt, erzählt sie. Es scheint rückschauend zwangsläufig gewesen zu sein, dass die 1965 Geborene zur Kunst kam. Heute lebt und arbeitet die Malerin in Nürnberg und in der Nähe von Barcelona. Ihre Farbwahrnehmung beherrscht alle Sinneseindrücke. „Ich habe immer schon gezeichnet und gemalt“, sagt sie. Und die Biografien der großen Maler habe sie verschlungen. Als Siebtklässlerin radelte sie mit Freunden nach Amsterdam, um die Farben von Vincent van Gogh im Original zu sehen. Immerhin vom unterfränkischen Miltenberg aus: eine über 500 Kilometer lange Strecke. Das alles hat seinen Grund. Ihre Mitschüler von damals erinnern sich heute an sie: „Du bist doch die, die farbig denkt, nicht wahr.“ Ja, so ist das wohl. Und man sieht es in ihren Bildern, dieses intensive Empfinden. „Ich nehme alles synästhetisch wahr“, erklärt Jüngst. Sie müsse malen. Das sei wie ein Druck, aber ein Glück, das zu haben. Wenn man mit der Farbmagierin aus Nürnberg spricht, glaubt man ihr aufs Wort. Bezeichnend sind die Dimensionen einiger Werke und vor allem der Farbauftrag. „Vulkangeflüster“ malte sie 2003. Diese eruptiven Bewegungen der gebogenen, dynamisierten Farbbahnen erstrecken sich über 15,4 Meter in einer Höhe von zwei Metern. Die Farbe frisst den Betrachter. Das hat sich nicht verändert über die Jahre. Der Pinselstrich ist breiter und zugleich kürzer geworden. Die oft changierend grundierte Leinwand schaut hindurch. Es überlagern sich Farben, gehen ineinander. Rot neben Rot in Rot. Das mit 70 auf 90 Zentimeter eher kleine Format ist mit „Kuss“ betitelt. Man sieht es, dieses Kribbeln und Angenehme und Nahe. Längst bevor man den Titel gelesen hat. Wen wundert's, dass Jüngst erst nach Beenden des Bildes an die Titelei geht. Ursula Jüngst in ihrem Atelier Auch hier assoziiert, „synästhetisiert“ sie. Ursula Jüngst ist davon überzeugt, dass herkömmliche Farbtheorien nicht genügen, selbst wenn sie so elaboriert sind wie die von Philipp Otto Runge: „Die Farbkugel reicht nicht. Es gibt weitere Dimensionen von Farbe. Die Foto: Künstlerin Erde und der Kosmos sind groß.“ Die Malerin macht einem Nicht-Künstler deutlich, wie anders das Leben mit Farbe ist, wenn es aus ihr kein Entkommen gibt: wie essentiell, wie intensiv, wie existenziell. Matthias Kampmann Granatapfelkerne, die Schatten werfen Vorform von Victor Vasarely aussehen. und wie Edelsteine wirken. Fette Frau- Realismus trifft Op Art. Weise benennt die „feinsten Pinen, die zerfließen wie Dalí-Uhren. So zu finden bei der in München lebenden seln“ abverlangten Einzelschritte einer polnischen Künstlerin Agnieszka Kas- aufwendigen Technik: „Auftragen der zubowska. Kann man die Wirklichkeit verschiedenen Farbschichten, Lasuren, überbieten mit realistischen Gemälden? wasserlösliche Ölfarbe, TrocknungsÜberraschende Facetten zumindest las- prozess, Korrekturen, nochmals Lasen sich der Erscheinungswelt in jeder suren, bis sich das Licht so entfaltet, Künstlergeneration abgewinnen, auch wie es die Künstlerin in diesem einen nach Klapheck und Co. Kaszubowska Augenblick sah, als die Lichtstrahlen muss einen Nerv treffen. Unlängst war die Wölbungen der Wasserflaschen am eine Ausstellung noch intensivsten trafen.“ Den am Eröffnungsabend aus„außerordentlich ernstSammler verkauft. haften Umgang mit ihrem Zu ihrem „Kosmosin Verbindung delektieren sich Werk“ mit der „scheinbaren wasserkasten“ von 2015 Leichtigkeit“, mit der sie inspirierte sie ein polnian ihren ihr Sujet umsetzt, dürfte sches Gebinde Flaschen, in dessen Griffmulde, so Bilder-Rätseln. ihr Publikum allgemein goutieren. Kaszubowska ihr Chemnitzer Galerist Bernd Weise „sich das Licht besonders wurde 2011 Meisterschülerin bei Anke schön bricht“. Wie das Licht, das durch Doberauer, hatte zwei Jahre später ihr Kirchenfenster ihrer Heimat fällt. Et- zweites Malerei-Diplom in der Tasche. was Luzides haben solche Bilder dank In Krakau bekam sie schon früher eins der Beschaffenheit einer Flasche na- im Fachbereich Ausstellungskunst. turgemäß. Das kommt Kaszubowskas Dieses Jahr feiert sie ihren 40. GeburtsAbsage ans Mimetische und hin zu tag und sollte bis dahin ihre Website Perspektive und Lichtsensation ent- aktualisieren. Bislang ist sie in drei gegen. Sammler delektieren sich an Firmensammlungen vertreten, Museen Bilder-Rätseln mit Kaleidoskop-Effekt, haben sie noch nicht entdeckt. Dabei der Verschleierung durch Blickwin- nagelt man so einen Wasserkasten gerkelwechsel. In hyperrealistischer Auf- ne an die Wand. sicht mag ein Wasserkasten wie eine Dorothee Baer-Bogenschütz Fallenstellerin Jenny Michel erobert mit ihrer filigranen Kunst den Raum Werkstoff setzt Jenny Michel überraschend vielfältig ein. In der Städtischen Galerie Wolfsburg zeigt sie bis zum 2. April Cut-outs wissenschaftlicher Darstellungen aus verschiedenen Jahrhunderten. Überzogen mit Kupferdraht, installiert sie diese zu filigranen „Fallen“. Die ursprünglichen Informationen sind, aus dem Kontext gelöst, zu spannenden Hieroglyphen geworden. Sie fangen sogar Signale des Raumes auf und verwandeln sie in Sound. Ein dezentes Surren umfängt den Betrachter. Dieser ungewöhnliche Versuch, un s ichtbaren Phänomenen auf die Spur zu kommen, stammt von einer bemerkenswerten Künstlerin. Die Pfälzerin versteht es, die Sinne zu fesseln. Bereits zweimal irritierte sie mit ihren Interventionen im Wolfsburger Schloss. Immer im Fokus: der Trümmerberg der Geschichte – Historie, Wissenschaft und Mythologie. „Wissenschaft ist eine Falle“, findet die Newcomerin. Als feinsinnige Forscherin stellt sie gängige Konzepte von Raum, Zeit und Fortschritt in Frage. So ließ sie Textbahnen aus alten Berichten über das Leben auf Schloss Wolfsburg von der Decke baumeln oder bespielte die Kamine mit fragilen Gespinsten aus Gebäudegrundrissen und Konstruktionszeichnungen. Typisch für das Schaffen von Michel sind ihre Cut-outs, die sie in ausgefeilte Collagen verwebt oder zu rätselhaften Skulpturen und Installationen formt. Mit Pinsel und Schere arbeitet die Künstlerin, die als Zeichnerin begann, meist mehrere Wochen, oft Monate an einem ihrer komplexen Werke. Seit 2011 wird die 40-Jährige von der Galerie FeldbuschWiesner in Berlin vertreten. Dort präsentierte die in der Hauptstadt lebende Künstlerin soeben ihre dritte Soloschau. In „Maps and Legends“ beschäftigte die HAP-Grieshaber-Preisträgerin unsere überbordende H A SC H U LT AQUA PICTURES Die Natur pinselt sich selbst 16. Januar bis 12. März 2016 Konrad Winter: Terminals Art Karlsruhe 2016 – Halle 2, A 05 Galerie Schrade · Karlsruhe Zirkel 34-40 76133 Karlsruhe Fon 0721/1518774 www.galerie-schrade.de www.davisklemmgallery.de Schult_Kunstzeitung_Jan16.indd 1 13.01.16 12:31 Zeichen-Welt. Imposante Papierskulpturen mit eingeschriebenen Infos wie das „Fortschrittsskelett“ trafen auf Collagen aus Seekarten. Dazu fiepte es geheimnisvoll aus den zu Lautsprechern verarbeiteten Cut-outs ihrer neuesten Serie. „Ich war schon länger daran interessiert, das unsichtbare Feld des Raumes einzufangen“, erläutert Jenny Michel die kleinen Funkempfänger, die elektromagnetische Felder wiedergeben. So kompliziert das klingt, ihre Werke faszinieren. Denn ihre Gedankentiefe kommt nicht verkopft daher. Andrea Hilgenstock
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