Vortrag von Dr. Bert Schlichtenmaier zur Buchvorstellung

Vortrag von Dr. Bert Schlichtenmaier zur Buchvorstellung: „Elementare Akkorde – Malerei von Ursula Jüngst“, Atelier Ursula Jüngst, Nürnberg, 27.02.2016
!
Sehr geehrte Damen und Herren,
!
Seit über dreißig Jahren erkundet Ursula Jüngst malerische Positionen. Innerhalb der
zeitgenössischen Kunst nimmt sie durch ihre markante Bildsprache eine besondere
Stellung ein. Ihre Gemälde sind kraftvoll in ihrer Entschiedenheit. Sie zeigen einen
kreativen Umgang mit einem breiten Spektrum intensiver Farben, die durchgehend
inneren Impulsen folgen.
!
Derzeitiges Markenzeichen der Künstlerin sind ihre in Länge und Breite sich ähnelnden
Pinselstriche. Bereits im Einzelnen und - noch deutlicher erkennbar - im Detail offenbaren
die lebhaften Pinselbewegungen die schöpferische Kraft ihrer Malerei. Durch seine
Wiederholung und seinen Rhythmus bekommt der Pinselduktus eine formale Bedeutung.
Er übernimmt den Stellenwert eines Bausteins, gewissermaßen eines Moduls, das in
Form und Funktion zusammengefügt werden oder über Schnittstellen interagieren kann.
!
Im dem 2011 erschienen Buch „Farbe meine Sprache“ hebt Christoph Schneider diesen
innovativen Beitrag hervor und spricht folgerichtig vom „Pinselduktus als Weltformel“.
!
Mit dem breiten Pinselduktus ist Ursula Jüngst ein bedeutender Schritt gelungen. Farbe
und Form sind autonom verfügbar. Im Gegensatz zu einer naturnahen Wiedergabe
stehen sie unabhängig von Zeit und einem Ort wie lebendige Farbformkörper. Damit artikulierte Empfindungswerte werden in einer bewussten Pinselbewegung kanalisiert.
!
In einer Art Farbtanzbewegung lässt sich die experimentierfreudige Malerin auf den Prozess
der Begegnung mit Farben ein. Sie untersucht die Wirkung von unterschiedlichen und sich
verändernden Farbnuancierungen und ist dabei selbst immer wieder überrascht von ihren
Entdeckungen.
!
Mit den Worten der Künstlerin spielen die Farben miteinander, steigern sich gegenseitig
oder, „was auch spannend für die Malerei“ sein kann, „sie hemmen sich und stören einander“.
Auf diese Weise ergeben sich sehr verschiedenartige Möglichkeiten der Kombination für
ganz unterschiedliche Farbklänge: „Chancen“ für die Malerin, „um viel Schönes, aber auch
Belastendes zu gestalten“. Infolgedessen erleben wir in ihren Bildwelten eine große Spannbreite
von Emotionen und Zuständen: Feier, Freude, Liebe, Streit, Verwüstung oder Tod kann ebenso
ausgedrückt werden wie Harmonie und Schrillheit.
!
Die komplexen Beziehungen zwischen Geist, Mensch und Natur sind zentrale Themen ihres
Kunstschaffens.
!
Die Farben kommen dabei vehement, provokant oder zärtlich zum Einsatz. Zahlreiche Striche
fügen sich in mehreren Schichten. Sie ordnen sich in wechselnder Richtung und Dichte des
Farbauftrags zu einem sich vielfach überschneidenden, fließenden Miteinander und erzeugen
einen Farbklang.
!
!
Oftmals enthalten die Pinselsetzungen verschiedene Spuren von sich vermischenden Farben.
Die Farbabläufe können sich verändern. Sie können sich der benachbarten Farbe annähern,
ebenso nah mit ihr verwandt sein. Sie können sich auch komplementär absetzen. In der
gewonnenen Vielfalt erzeugen sie eine sich steigernde, flirrende Wirkung.
!
!
Das Bild erhält bei Ursula Jüngst von Beginn an seinen eigenen Atem. Das Gemälde beginnt
für sie, indem sie das Bildformat auswählt, die Leinwand selbst spannt und in mehreren Schichten
eigenhändig grundiert. Behutsam nähert sie sich und von Beginn an gestaltend dem Malkörper
und bezieht die Materialbeschaffenheit des Farbträgers mit ein. Schicht um Schicht tastet sie
sich heran. Erste, noch sehr offene Strukturen werden formuliert.
!
Am Anfang hat sie den Gesamtcharakter des Bildes nicht vor Augen: „Weder Farbklang
noch Bewegungsformation der Striche.“ Spontan wählt sie die Farben aus, setzt Pinselstriche,
fühlt das „Zeitmaß“, mit der sie ihre Setzung macht, und entscheidet die Richtung und die
Farbmenge. Dabei ist sie „immer in Bewegung“ - „in unterschiedlichen Bewegungsrichtungen
und Geschwindigkeiten“. Änderungen in der Position vor dem Gemälde, ihre Gesten und
Setzungen bringen den gesamten Körper der Künstlerin in das Bildgeschehen ein.
Ihr jeweiliges Tun folgt keinen rational begründbaren Entscheidungen. Bildnerische Möglichkeiten entstehen vielmehr im Einklang von Intuition und Bewusstsein, d.h. dem spontanen
Schöpfungsakt, der wachsamen Versunkenheit und dem Verfügen über bildnerische Gesetzmäßigkeiten. Dazu die Worte der Künstlerin: „Nur mit einer prägnanten Farbsetzung entwickelt
sich das Bild. Ich erlebe diesen Prozess wie ein stetiges Ein- und wieder Auftauchen, mich
tragen zu lassen, dann darüber nach zu denken, zu lernen, dies noch zu steigern, wieder
von Neuem ein- und aufzutauchen, Freude an dem Unbekannten. Es ist ein Versuch,
tiefere Ausdrucksebenen zu ergründen, dem Sinn der Dinge auf den Grund zu gehen.“
!
Auf der Art Karlsruhe Anfang letzten Jahres hat Ursula Jüngst das Gemälde „Aleppo – Heilige Nacht“ von 2014 neben das rotfarbige Bild „Schöntat“ von 2012 gehängt. Die
Besonderheit der Gegenüberstellung veranschaulichen die eigene Worte der Künstlerin:
„Schöntat“ ist mit seinen warmen Rottönen bis hin zu dem vorwitzigen Magenta, dem
strahlenden Gelb und dem schwingenden Rhythmus der Pinselbewegungen eine Huldigung
an die Schönheit und Vitalität der Welt. Ganz anders die Wucht der Gefühle und Betroffenheit,
die sich unmittelbar in den Farbakkorden von „Aleppo – Heilige Nacht“ ausdrückt. Struppig,
unruhig, zerrissen ist stellenweise die Pinselsetzung, Schwere Lilatöne, zitterndes Rosa,
erschrockenes Gelb, trauriges und sehnsüchtiges Blau. Assoziationen an ein sakrales Fenster
inmitten von Verwüstung, das gerade noch stehen blieb? Wackelige Zuversicht, die jeden
Moment wieder zerstört werden kann. Die syrische Stadt Aleppo steht für mich stellvertretend
für die gegenwärtige Vernichtung großen menschlichen Kulturguts.“ Im jahr nach der Enstehung
des Gemäldes hat die bioldnerische Aussage eine bittere Realität erfahren.
!
Ganz anders sind die Eindrücke, die man vor dem Werk „Himbeerfee“ empfindet. Das Gemälde
ist, wie viele ihrer Werke in Spanien, südlich von Barcelona entstanden, wo sie im Freien
malen kann. Dort ist sie - im Gegensatz zu der gleichbleibenden Lichtsituation in ihrem
Nürnberger Atelier - den wechselnden Wetterverhältnissen ausgesetzt und erlebt über den Tag
das sich wandelnde Licht und auch die Feuchtigkeit.
!
Erlauben Sie mir mit dieser Vorbemerkung - auch hier -, aus der Publikation die Künstlerin zu
zitieren: „Mit dem letzten Sonnenlicht weht Feuchtigkeit herbei und formt meine Leinwand leicht
bauchig. Mein Maltag ist zu Ende. Nun hat das Licht zarte Töne. Rosa, liebliches Neapelgelb,
weiches Lila und ein Rest übermütiges Himmelblau schweben ein, vergleichbar einem Libellentanz
aus zartesten Farbtönen. Das Licht, welches sich auf der Feuchtigkeit bricht, versuche ich zu malen.
Ich sehe die zarten Farben schillern, zum Greifen. Ich möchte, anders als bei dem Sfumato der
Venezianer, die einzelnen Farben sichtbar machen, wie sie sich zueinander verhalten und sich
gegenseitig wie im Spiel addieren.“
!
!
Schon früh beschäftigte sich Ursula Jüngst mit dem monumentalen Format. Erinnert sei an das
15 Meter breite, 2007 im Kunstmuseum Erlangen ausgestellte Gemälde „Vulkangeflüster“ von
2003 sowie an den fünf Jahre später entstandenen Zyklus „Sternengeburt“, aus dem einige
Arbeiten in der Kirche St. Klara in Nürnberg ausgestellt waren.
!
2013 und 2014 greift sie im Rahmen ihrer Spanienaufenthalte die Auseinandersetzung mit dem
großen Format wieder auf. Die Panoramagemälde „das Himmelsriff“ und „Goya tanzt Lava“,
beide aus dem Jahr 2014, sowie das hier im Atelier gezeigte Werk „Sonnensommer“ von 2015
sind die derzeitigen Höhepunkte einer erneuten Beschäftigung mit dem monumentalen Format.
Jedes der Gemälde ist überwiegend in einer der drei Grundfarben Rot, Blau und Gelb gehalten.
Charakteristische Merkmale dieser Arbeiten sind - neben ihrer Maße (1,65 x 7,25 Meter) - das
„Mitten im Bild-Sein“.
!
Die Wahrnehmung der aufgetragenen Pinselstriche als räumlich erlebbaren, schwebenden oder
in der Tiefe versinkenden Farbkörper wird durch den plastischen, förmlich reliefhaften Auftrag
der Ölfarben noch gefördert.
!
Obgleich rhythmische Bildgesten die Komposition tragen, gibt es kein Oben und Unten,
kein Rechts und Links, kein durchgängiges Vorne und Hinten. Es existiert keine hierarchische
Grundordnung. Das Erleben des Bildes ist frei von Zeitablauf und räumlicher Verortung.
!
Bei dem Gemälde „Sonnensommer“ werden ganz unterschiedliche, durchaus auch flüchtige
Augenblicke, die die Künstlerin berührt und sie beschäftigt haben, wieder erlebt und weitergegeben, wie z.B. das Mittagslicht in seinen verschiedenartigen Nuancen von grell, glutvoll
und blendend, die weiche Abendsonne, Licht- und Schattenspiele, das Säuseln des Windes,
fallende Blüten oder Blätter sowie das Taumelnde der Schmetterlinge.
!
Hierzu ein Auszug des Kommentars der Künstlerin zu dem Gemälde: „Gelb, Großes Gelb.
Sonnensommer, Lichtertanz. Sonnenglitzer. Überall beschwingtes Gelb. Warmes Maisgelb
verbindet sich mit reifem Indischgelb zu goldenem Klingen. Darüber helles Kadmiumgelb.
Freches Zitrongelb neckt, bringt Leichtigkeit und fordert zum Spiel. Gelbgrün, grünes Gelb.
Gelbes Grün. Kobaltblau lugt unter Gelb hervor. Neapelgelb zaubert hold mit süßem Orange.
Vorwitziges Azurblau flirtet mit frischem Sonnengelb.“
!
Eine Vielzahl von Gelbtönen, darunter auch Goldgelb, Sandgelb und Brillantgelb, fängt
gemeinsam an zu schwingen mit: Orange, Ocker, Saftgrün-, Azurblau-, Kobaltviolett-,
Grau-, Braun-, Aubergine-, Rosa- und zahlreichen Rottönen, wie Englisch- oder Zinnoberrot.
!
In der Nahsicht offenbaren sich kostbare Details aus Licht- und Farbwirkungen. An keiner Stelle
auf dem Gemälde „Sonnensommer“ gíbt es einen identischen Farbauftrag. Jeder Pinselstrich ist
anders, nicht nur durch unterschiedliche Farbtöne und durch die Farbvermischungen, sondern
auch durch die Art der lebhaften Pinselführung, die flüchtig oder energisch sein kann. Wichtig
für Ursula Jüngst ist ihre Striche „kontrolliert zu setzen beziehungsweise zu überarbeiten“,
wenn sie „zu dünn oder unklar formuliert“ sind, damit sie sich der gesamten Wirkung
eingliedern und sich gemeinsam zu einem Farbraum wandeln.
!
Wir erkennen dabei neben den unterschiedlichen Geschwindigkeiten des Farbauftrages,
Farbkantenstege, überstehende Farbspitzen, zarte Berührungen und Überlagerungen bis hin
zu gegenläufigen Pinselhieben, wie z.B. der - im rechten Teil des Bildes sichtbare - nahezu
senkrechte saftgrüne Strich, der aus einem lichten Himmelblau herausschreckt. An einigen
!
Stellen wird der Blick auch freigegeben auf die noch offene Leinwand, die - in matter Kreide
gestaltet - den lebendigen Grund darstellt für die fesselnde Pracht der Ölfarben.
!
Der Betrachter kann nicht mehr auf einmal das Panoramagemälde erschließen. Er ist
herausgefordert, verschiedene Standorte einzunehmen und wird in das Bildgeschehen
mit einbezogen. Lichte und warme Augenblicke existieren neben dramatischen
Situationen: Gefühlen von Ausgesetztsein und Konflikte. Begeben wir uns einfach einmal auf die Reise in das sinnlich wahrgenommene Farborchester mit der Farbe Blau: In der Mitte des Bildes fliegen wir über einen großen gelben
Bildraum, rechts davon, in den zarten Blautönen, oszillieren wir zwischen den vorderen
und hinteren Gelbtönen. Ganz links außen befinden wir uns in einem Kosmos ganz weit
hinter dem Gelb. Eine geballte Spannung blutroter Pinselhiebe lassen hier das Blau noch
mehr in eine unfassbaren Sphäre gleiten. Gleichzeitig sind für uns die Rottöne Möglichkeiten,
wieder in den warmen, goldgelben Lichtraum zu gelangen und uns wieder neu in den Tanz
der Farben-klänge einzulassen, Farbreisen mit Rosa, Orange und rötlichem Braun zu machen.
Unsere Gefühle zu erkunden und Fragen auszuloten.
Wie auch bei kleineren Formaten rückt der Betrachter in die Welt des Bildes. Die wahrgenommenen Kompositionen ziehen uns in ihren Bann. Sie ermöglichen uns das Spiel mit
unseren eigenen Erfahrungen. Mit den Worten der Kunstwissenschaftlerin Inge Ludescher
kann der Betrachter aus dem vielschichtigen Formgefüge „Mythen aus dem Unbewussten
assoziieren“.
!
Abschließend ist zu bemerken: Kennzeichnend für die Malerei von Ursula Jüngst ist die
Intensität ihres Welt-Erlebens. Die Künstlerin setzt sich mit dem Licht, den Energien und den
Kräften der Natur sowie mit den gesellschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten auseinander.
Ihre Werke thematisieren Grundbefindlichkeiten des Menschseins und geben darüber hinaus
dem modernen Lebensgefühl der Gegenwart Ausdruck.
!
Gleichzeitig erschließen sich durch ihre Reflexion und künstlerische Innovationskraft neue
Form- und Bedeutungsebenen von Farben, deren Ausdruckskraft unser Dasein bereichert.
!
Ihre ausdrucksstarken Werke können mit dem Bezug zu dem Titel des heute vorgestellten
Buches als „Elementare Akkorde“ verstanden werden.
!
Ganz am Ende seien mir noch zwei Hinweise erlaubt: Geradewegs und ohne Umwege möchte
ich Sie motivieren, nicht nur in dem im modo-Verlag erschienenen Buch zu blättern, sondern
sich unter anderem auch von der - von Ursula Jüngst vorgenommenen - Gestaltung des Leineneinbandes überraschen zu lassen. Nimmt man den Schutzumschlag weg, der ein Detail des
Gemäldes „Sonnensommers“ zeigt, erschließt sich uns die Wirkung des besonderen Materials
und einer phantasievollen Farbgebung. Die Farbe des Leineneinbandes steht in einer besonderen
Beziehung zu der Farbe des Vorsatzblattes. Es ist das komplementäre Spiel des strahlenden
Grüns der Blätter mit dem sonnigen Orange der Apfelsinen, aus dem die azurblaue Schrift
des gestanzten Titelschildes hervorleuchtet.
!
Und nun komme ich zur zweiten Empfehlung: Scheuen Sie sich bitte nicht, das Buch von
der Künstlerin signieren zu lassen, falls Sie es schon haben oder zu kaufen beabsichtigen.
!
Haben Sie herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und erleben Sie viel Freude mit dem
sprühenden Geist der ausgestellten Gemälde.
!
!