Alexander von Humboldt-Gymnasium Konstanz Ethik K1, Freiheit M 2.1 2015/2016 Chucholowski Simone Weil „Nichts kann auf der Welt das Gefühl des Menschen verhindern, für die Freiheit geboren zu sein. Niemals, was auch geschehen mag, kann er die Knechtschaft ertragen; denn er denkt. Nie hat er aufgehört, von einer grenzenlosen Freiheit zu träumen, sei es als vergangenes Glück, dessen eine Sühne ihn beraubte, sei es als künftiges Glück, das eine Art Pakt mit einer geheim40 5 nisvollen Vorsehung ihm gewährleiste. [...] Man muss sich bemühen, die vollkommene Freiheit klar zu entwerfen, nicht in der Hoffnung, sie zu erreichen, aber um eine weniger unvollkommene Freiheit zu erlangen, als sie unser gegenwärtiger Zustand gewährt. Denn das Beste ist nur durch das Vollkommene denkbar. Man kann sich auf ein Ideal allein hinbewegen. [...] 45 10 Man kann unter Freiheit etwas anderes verstehen als die Möglichkeit, mühelos zu erhalten, was einem gefällt. Es gibt einen ganz anderen Freiheitsbegriff: den heroischen Begriff der Lebensweisheit. Die wirkliche Freiheit wird nicht durch die Beziehung zwischen Wunsch und Erfüllung definiert, sondern durch die zwischen Denken und Handeln. Vollständig frei wäre der Mensch, dessen Aktionen in einer vorherigen Erkenntnis des erstrebten Zwecks sowie der50 15 Verknüpfung der für die Erreichung des Zwecks geeigneten Mittel gründeten. Es ist unwichtig, ob diese Aktionen an sich leicht oder schmerzhaft sind, es ist sogar unwichtig, ob sie erfolgreich enden. Schmerz und Misserfolg können den Menschen unglücklich machen, aber sie sind außerstande, ihn zu erniedrigen, solange er selbst über seine Fähigkeit zu handeln verfügt. Über seine eigenen Aktionen verfügen bedeutet keineswegs, willkürlich handeln. Die55 20 willkürlichen Aktionen gründen in keiner Erkenntnis und können daher eigentlich nicht als frei gelten. Jede Erkenntnis bezieht sich auf eine objektive Situation, folglich auf ein Gewebe von Notwendigkeiten. Der lebende Mensch kann keineswegs aufhören, allseitig durch eine absolut unerbittliche Notwendigkeit bedrängt zu werden. Aber da er denkt, kann er entscheiden: blind 60 dem Stachel der äußeren Notwendigkeit nachgeben oder der inneren Vorstellung darüber. 25 Hier ist der Gegensatz zwischen Knechtschaft und Freiheit. Die beiden Begriffe dieses Gegensatzes sind übrigens nur theoretische Grenzen, zwischen denen das menschliche Leben sich bewegt, ohne je eine erreichen zu können, sofern es nicht aufhören soll, Leben zu sein. Ein Mensch wäre vollständig versklavt, wenn alle seine Gesten einer anderen Quelle als seinem 65 Denken entstammten: entweder den unvernünftigen Reaktionen des Körpers oder dem 30 Denken eines anderen. Der hungrige Primitive, dessen Bewegungen die Krämpfe seines schmerzenden Leibes hervorrufen, der römische Sklave, stets auf die Befehle eines peitschenbewaffneten Aufsehers harrend, der moderne Fließbandarbeiter: Sie sind diesem elenden Zustand nahe.“ (Simone Weil, 1909-1943, französische Philosophin) 35 + Sie sollen in einer anschließenden Gruppenarbeit den anderen Gruppenmitgliedern erklären, wie Weil Freiheit definiert und ihre Auffassung von Freiheit begründet! Dafür ist es notwendig, dass Sie den Gedankengang, bzw. die Argumentation nachvollziehen. Fassen Sie deshalb Weils Argumentation jeweils am Rand zusammen und sprechen Sie sich mit den anderen ab. Alexander von Humboldt-Gymnasium Konstanz Ethik K1, Freiheit M 2.2 2015/2016 Chucholowski John Locke „Um jedoch zu unserer Untersuchung der Freiheit zurückzukehren, so heißt meines Erachtens die richtige Fragestellung nicht: Ist der Wille frei?, sondern ist der Mensch frei? Hierüber denke ich Folgendes: Erstens: Der Mensch ist so weit frei, als er durch Bestimmung oder Wahl seines Geistes, indem 5 er die Existenz irgendeiner Aktion [Tätigkeit] der Nichtexistenz jener Aktion vorzieht und40 umgekehrt, diese Aktion zu bewirken oder nicht zu bewirken vermag. Denn wenn ich durch einen Gedanken, der [die] Bewegung meines Fingers [bestimmt], den bislang ruhenden Finger zur Bewegung veranlassen kann oder umgekehrt, dann ist es klar, dass ich in dieser Beziehung frei bin; wenn ich durch einen ähnlichen Gedanken meines Geistes, der das eine dem andern 45 10 vorzieht, Worte erzeugen oder Stillschweigen bewirken kann, so habe ich die Freiheit zu reden oder zu schweigen. So weit nun diese Kraft reicht, zu handeln oder nicht zu handeln, je nachdem, ob die Entscheidung seines Denkens die eine oder die andere Möglichkeit bevorzugt, so weit ist ein Mensch frei. Denn wie könnten wir uns jemand freier denken, als wenn er die Kraft hat zu tun, was er will? So weit nun jemand dadurch, dass er ein Handeln dem50 15 Unterlassen, die Ruhe einem Handeln vorzieht, solches Handeln oder solche Ruhe zu bewirken vermag, so weit kann er tun, was er will. Denn in solcher Weise eine Handlung ihrer Unterlassung vorzuziehen heißt, sie zu wollen, und es lässt sich schwerlich angeben, wie wir uns ein Wesen noch freier vorstellen können, als es dann ist, wenn es fähig ist zu tun, was es will. Demnach erscheint also ein Mensch hinsichtlich von Handlungen innerhalb des Bereichs55 20 einer solchen Kraft in ihm so frei, wie die Freiheit ihn nur frei machen kann. Zweitens: Da das Wollen oder die Willensäußerung ein Handeln ist und die Freiheit in der Kraft besteht zu handeln oder nicht zu handeln, so kann der Mensch hinsichtlich des Wollens [oder des Aktes der Willensäußerung] nicht frei sein, sobald sich eine in seiner Macht stehende 60 Handlung seinem Denken als notwendig dargestellt hat. Der Grund dafür liegt klar zutage. Es 25 ist unvermeidlich, dass eine von unserm Willen abhängige Handlung entweder geschehe oder nicht geschehe; da das eine wie das andere sich ganz und gar nach der Entscheidung und Bevorzugung unseres Willens richtet, so können wir schlechterdings nicht umhin, eins von beiden zu wollen, d. h. eins dem andern vorzuziehen, weil eins von beiden notwendig eintreten 65 muss und dasjenige, was dann auf die Wahl und Entscheidung unseres Geistes hin erfolgt, d. h. 30 daraufhin, dass wir es wollen; denn wenn wir es nicht wollten, würde es nicht geschehen. Hinsichtlich des Willensaktes ist der Mensch somit nicht frei. Denn die Freiheit besteht in der Kraft zu handeln oder nicht zu handeln, die der Mensch hinsichtlich der Willensäußerung nicht hat.“ (John Locke, 1632-1704, englischer Philosoph) 35 + Sie sollen in einer anschließenden Gruppenarbeit Ihren Gruppenmitgliedern erklären, wie Locke Freiheit definiert und seine Auffassung von Freiheit begründet! Dafür ist es notwendig, dass Sie den Gedankengang, bzw. die Argumentation nachvollziehen. Fassen Sie deshalb Lockes Argumentation jeweils am Rand zusammen. Achten Sie dazu auf Konjunktionen, die Argumente einleiten (‚da’; ‚denn’, ‚weil’; …). Alexander von Humboldt-Gymnasium Konstanz Ethik K1, Freiheit M 2.3 2015/2016 Chucholowski Jean-Jacques Rousseau „Kein materielles Wesen ist durch sich selbst tätig, ich aber bin es. Man kann es mir bestreiten, ich fühle es, und dieses Gefühl, das zu mir spricht, ist stärker als die Vernunft, die es bestreitet. Ich habe einen Körper, auf den die anderen ebenso einwirken wie er auf sie. Diese Wechselwirkung ist nicht zu bezweifeln; aber mein Wille ist unabhängig von meinen Sinnen. Ob35 5 ich zustimme oder widerstehe, unterliege oder siege, ich fühle ganz deutlich in mir, ob ich getan habe, was ich tun wollte, oder ob ich meinen Leidenschaften nur nachgebe. Immer habe ich die Macht zu wollen, nicht immer die Kraft auszuführen. Wenn ich mich versuchen lasse, handle ich auf Antrieb von außen. Wenn ich mir diese Schwäche vorwerfe, höre ich nur auf 40 meinen Willen. Ich bin Sklave durch meine Laster, aber frei durch mein Gewissen. Das Gefühl 10 meiner Freiheit erlischt in mir nur, wenn ich verlottere und wenn ich die innere Stimme hindere, sich gegen das Gesetz des Körpers zu erheben. [...] Wenn der Mensch aktiv und frei ist, so handelt er aus freiem Antrieb. Alles, was er aus freiem Entschluss macht, gehört nicht in das geordnete System der Vorsehung und kann ihr nicht zur45 Last gelegt werden. Sie will das Böse nicht, das der Mensch tut, indem er die Freiheit 15 missbraucht, die sie ihm gegeben hat. Aber sie hindert ihn nicht daran, es zu tun, entweder weil es in ihren Augen nichts ist, was ein so schwaches Wesen verübt, oder weil sie es nicht verhindern kann, ohne seine Freiheit zu beeinträchtigen und ein größeres Übel zu bewirken, indem sie seine Natur herabwürdigt. Sie hat ihn frei gemacht, damit er aus freier Wahl das50 Gute tue und nicht das Böse. Sie hat ihn instand gesetzt, diese Wahl zu treffen, wenn er die 20 Kräfte richtig gebraucht, die sie ihm gegeben hat. Aber sie hat seine Kraft so weit beschränkt, dass der Missbrauch der Freiheit, die sie ihm gelassen hat, die allgemeine Ordnung nicht stören kann. Das Böse, das der Mensch tut, fällt auf ihn zurück, ohne etwas am System der Welt zu 55 ändern und ohne zu verhindern, dass das Menschengeschlecht sich selbst erhält, ob es will oder nicht. Wer darüber murrt, dass Gott uns nicht hindert, das Böse zu tun, murrt darüber, 25 dass er unsere Natur mit solchen Vorzügen ausgestattet hat, dass er seinen Handlungen die Moralität verlieh, die sie veredelt, und dass er ihm das Recht auf Tugend gab. Das höchste Glück liegt darin, mit sich selbst zufrieden zu sein. Um diese Zufriedenheit zu erwerben, sind 60 wir auf Erden und mit Freiheit begabt, von Leidenschaften versucht und vom Gewissen zurückgehalten.“ 30 (Jean-Jacques Rousseau, Emile oder über die Erziehung) + Sie sollen in einer anschließenden Gruppenarbeit den anderen Gruppenmitgliedern erklären, wie Rousseau Freiheit definiert und seine Auffassung von Freiheit begründet! Dafür ist es notwendig, dass Sie den Gedankengang, bzw. die Argumentation nachvollziehen. Fassen Sie deshalb Rousseaus Argumentation jeweils am Rand zusammen und sprechen Sie sich mit den anderen ab.
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