Divertissement oder Exercice?

14 DISKURS
Divertissement oder Exercice?
Wie sich die Musen vor den Märkten verteidigen müssen
Jürgen Oberschmidt
Vergnügen oder Übung? Dieser
Diskurs wirft einen Blick auf
den Musikunterricht und das
musikalische Lernen.
Orientierung am Nützlichen
oder am Musischen?
MUSIKUNTERRICHT aktuell – 1/2015
Gemälde von Moritz Daniel Oppenheim von 1831
B
ereits Friedrich Nietzsche machte
sich Sorgen um unsere Bildungsanstalten, die ihm einzig an den Erfordernissen des praktischen Lebens orientiert
schienen, die als Stätten zur Überwindung der
Lebensnot1 der Ausbildung dienten und ökonomischen Gesetzmäßigkeiten gehorchten.
Eine Schule, die aufgehört hat, ein Ort der Muße,
der Konzentration, der Kontemplation zu sein, hat
aufgehört, eine Schule zu sein. Sie ist eine Stätte
der Lebensnot geworden. […] Zeit zum Denken
gibt es nicht.2 Nietzsches Vortrag Über die Zu­
kunft unserer Bildungsanstalten lässt sich heute
noch trefflich als Diagnose auch unseres
Bildungssystems lesen. Könnte es nicht sein,
dass sich zwar vieles wandelt, aber ein paar Dinge
nicht oder nur unwesentlich? Und könnte es nicht
sein, dass das pädagogische Feld nur begrenzt in­
novierbar ist?3 Die Problemzonen sind gewiss
die gleichen, und doch geht es heute in der
Schule weniger denn je um individuelle
Bildungsprozesse, die sich an den Kulturen
des Wissens ausgelegt finden, sondern um
Wissensmanagement, um Wissen, das wie
ein Rohstoff produziert, gehandelt, gekauft, gema­
nagt und entsorgt4 wird. Bildungshüter testen
Kompetenzen hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Verwertbarkeit, vornehmlich naturwissenschaftliche und mathematische
Kompetenzen und eine allenfalls verkürzte Lesekompetenz. Das Handeln und Denken
der Gegenwart orientiert sich an einem einzigen
Divertissement oder Exercice?
BUNDESVERBAND
MUSIKUNTERRICHT
Parameter: dem Wirtschaftswachstum.5 An literarischer und historischer Bildung schaut
man ebenso vorbei wie an der musischen,
die geduldet, aber im Ernstfall immer verzichtbar scheint: Wie unsinnig, sich mit Balla­
den, Symphonien, Geschichten oder alten Bildern zu
beschäftigen, wie unökonomisch, ohne Aussicht auf
den großen kommerziellen Erfolg ein Instrument zu
erlernen, da es doch so viel Nützliches zu tun gäbe:
Wirtschaftsunterricht, noch mehr Informatik, Kon­
sumkunde, eine weitere Fremdsprache oder Tipps
zur richtigen Ernährung. Keine Frage: Die Musen
haben einen Feind, dem sie nicht gewachsen sind
– das Nützliche.6 Bildung wird vermessen,
Berechnungsschlüssel zu ihrer Bewertung
gleichen Industrienormen, Wissenserwerb
wird in ECTS-Punkte gepresst. Wilhelm
von Humboldt, dem man vorgeworfen
hat, sein Bildungsideal befände sich abseits
gesellschaftlicher Realitäten und sei durchdrungen von seiner eigenen aristokratisch
privilegierten Existenz, wird heute zum
Feindbild aller Bildungsreformer.7
Wie verteidigt man nun die Musen gegen
die Nützlichkeitserwartungen? Stellt man
sie systemkonform in den Wettbewerb oder
bezeugt, dass das vermeintlich Nutzlose
nicht nutzlos ist? Etwa, indem man den
Eigenwert der ästhetischen Fächer betont
oder diesen hinter ökonomisch verwertbare Transfereffekte versteckt? Orientiere ich
mich am Musischen?
Im Rahmen dieses Beitrags soll es nicht
darum gehen, den Leser in eine Richtung
zu drängen, musikdidaktische Konzepte
gegeneinander auszuspielen, sie als widersprüchlich, realitätsfern, ideologisch aufge-
laden oder geistfeindlich zu disqualifizieren
als Funktionsbegriff auf, der auf einen
und durch neue Heilslehren zu ersetzen,
Gebrauchskontext hinweist. Das Divertis­
die unter dem Deckmantel einer neuen
sement bedeutet so viel wie Ablenkung,
Phraseologie das Alte wiederbeleben, komAnnehmlichkeit, Vergnügung, Erholung,
men – und wieder gehen. Dieser Beitrag
Zerstreuung, Zeitvertreib, Amüsement und
möchte vielmehr den Blick öffnen für das,
bezeichnet damit eine zentrale Kennmarke
was in der Schule passiert. Der Musikunder aristokratischen Gesellschaft: Die zahl­
terricht selbst hat nämlich die Ökonomireichen franz. Verhaltenslehren der Zeit verwenden
sierung längst entdeckt. Das beginnt mit
das Wort als Bezeichnung für all jene zerstreuen­
der Entdeckung des Maschinenwesens, der
den Aktivitäten der Hofgesellschaft, mit denen sich
Etüde als Ausdruck bürgerlichen SelbstverAdel und König die Zeit vertreiben, sofern sie sich
ständnisses, die sich
nicht politischen oder ad­
gegen das aristokratiministrativen Geschäften
sche Divertissement
„Könnte es nicht sein, dass sich zwar
oder dem Waffendienst
absetzte. Verbunden
vieles wandelt, aber ein paar Dinge nicht
widmen.9 Ein musiist dies natürlich mit
oder nur unwesentlich? Und könnte es
kalischer Lustgarten
der Fabrik des Hrn. Ch.
nicht sein, dass das pädagogische Feld
diente also vor allem
Czerny u. Comp.8, wie
nur begrenzt innovierbar ist?“
der Zerstreuung und
Roland Reichenbach3
die Manufaktur des
Ablenkung, der Verhin­
Klaviermaschinisten
derung des horror temporis
Carl Czernys in der
vacui10, der in aristoNeuen Zeitschrift für Musik spöttisch gekratischen Kreisen so gefürchteten Lannannt wurde. Hier soll nun gezeigt werden,
geweile.
wie diese Vorstellung von musikalischem
Wie sieht es mit den „musikalischen LustLernen die künstlerische Ausbildung bis
gärten“ an unseren Schulen aus? Auch im
heute trägt und wie sie sich längst durch die
Musikunterricht taucht Musik nicht autoHintertür im schulischen Musikunterricht
nom auf, sondern steht in Gebrauchskonimplementiert findet.
texten. Vordergründig muss sie verfügbar
sein; auf gesellschaftlichen Ereignissen
fungiert der Musiklehrer als öffentlichkeits„Divertissement“ als Haltung
wirksamer Zeremonienmeister. Und auch,
wenn das Divertissement im KlassenzimDas Divertissement (frz. Substantiv zum Verb
mer nicht mehr der aristokratischen oder
divertir) beschreibt nicht nur als musikalibürgerlichen Kammer untergeordnet ist,
sche Gattungsbezeichnung eine Folge von
musikalische Zerstreuungen werden im
Tänzen, sondern es tritt mit dem sprachWellnessbereich zwischen Deutsch und
lich verwandten Divertimento zugleich
Mathe gerne angenommen. Gilt es nicht
„Diese ewige Klavierspielerei ist nicht
mehr zu ertragen! […] Diese grellen
Klimpertöne ohne natürliches Verhallen, diese herzlosen Schwirrklänge, dieses erzprosaische Schollern
und Pickern, dieses Fortepiano tötet
all unser Denken und Fühlen, und
wir werden dumm, abgestumpft,
blödsinnig. Dieses Überhandnehmen
des Klavierspielens und gar die Triumpfzüge der Klaviervirtuosen sind
charakteristisch für unsere Zeit und
zeugen ganz eigentliche vom Sieg des
Maschinenwesens über den Geist. Die
technische Fertigkeit, die Präcision eines
Automaten, das Identifizieren mit dem
besaiteten Holze, die tönende Instrumentwerdung des Menschen, wird jetzt
als das Höchste gepriesen und gefeiert.“
aus: Musikalische Berichte aus Paris, in: Sämtliche Werke in 12
Bänden, hrsg. von Gustav Karpeles, Bd. 10, Leipzig o. J.,
S. 265.
Gemälde von Moritz Daniel Oppenheim von 1831
Heinrich Heine in seinen musikalischen Berichten aus Paris:
MUSIKUNTERRICHT aktuell – 1/2015
15
16 DISKURS
ter zu öffentlichkeitswirksamen Künstlern
als esercizio (ital.), exercice (frz.) oder lesson
mutieren und en passant noch ihre sozialen
(engl.) auftritt. Wurde im 17. Jahrhundert
Defizite kompensieren. Sind all dies nicht
die Verbindung von Übung (auch im Sinne
U n t e r n e h mu n g e n ,
von Ausübung) und
die in erster Linie der
Vergnügen noch sehr
„Es ist mit den Studien, die blos auf
Wiederherstellung der
betont, tritt das ZieKunstfertigkeit abzwecken, ohne das
Leistungskraft
dielorientierte und das
Kunstgefühl zugleich anzuregen, und
nen? Steckt hier in der
Üben als eine auf Efes zu beschäftigen, überall, in allen
Kehrseite nicht auch
fizienz ausgerichtete
Künsten, eine bedenkliche Sache.“
die Gefahr, mit Musik
häusliche Arbeit mehr
August Heinrich Petiscus20
in die Beliebigkeit zu
und mehr in den Vortaumeln, die letztlich
dergrund: Aus dieser
zu einer Entwertung
Situation erklärt sich, daß
des Fachs führt? Führt dies nicht in letzter
die Entstehung der Etüde sozusagen historisch fällig
Konsequenz dazu, dass sich dann Muwar: Sie ist als Maßnahme zur Arbeitsrationalisie­
sikunterricht in Fächerbündeln auch ganz
rung zu begreifen.13
zerstreuen könnte oder auch durch außerDer Literaturwissenschaftler und Me­
schulische Angebote ersetzen ließe?
dientheoretiker Friedrich Kittler beschreibt
in einem Handbuchartikel über „künstlerische Techniken“ das Musizieren in AnlehExercice
nung an das Maschinenwesen: Seit 1830
begreifen Komponisten wie Berlioz – frei nach
Gegen diese aristokratische Lebensweise
Descartes – Orchester nicht mehr als Spielergrup­
richtete sich dann im 18. Jahrhundert die
pe, die aus toten Tieren sanfte Töne lockt, sondern
bürgerliche Aufbruchsbewegung: Sie setzte
als einen Maschinenpark, der aus Holz und Blech,
dem Divertissement als Lebenshaltung den neuen
Stahl und Messing gleichwohl homogene Klang­
Arbeitsbegriff entgegen, der im Calvinismus als
teppiche webt.14 Das Klavier als „modernes
dem eigentlichen Gegenspieler des Absolutismus
Allerweltsinstrument“ (Hugo Riemann)
bereits lange zuvor angelegt war. Jede Form von
nahm dabei eine zentrale Stellung ein. Das
Müßiggang und Zerstreuung galt als sittlich ver­
Ziel war ein auf solider handwerklicher
werflich, Zeitvergeudung als die erste und prinzipiell
Basis ausgebildeter Pianist, sein Spiel geht
schwerste aller Sünden.12 Dieses Streben nach
aus technischer Arbeit hervor: Die Etüden
ökonomischer Wirksamkeit findet seinen
sind nur zur häuslichen Arbeit bestimmt; sie sol­
musikalischen Ausdruck in der Etüde, die
len den Schüler mit Schwierigkeiten aller Art ver­
je nach muttersprachlicher Färbung auch
traut machen, wie er sie später in den Sonaten und
Konzerten der bedeutendsten Meister antrifft; man
bemüht sich keineswegs darum, sie dem Ohr ange­
nehm zu gestalten.15 Und bis heute dürfen sich
Klavierschüler an dem protestantischen
Arbeits­ethos abarbeiten und an den Etüden Carl Czernys erleben, dass ihr Üben
im industriellen Zeitalter auch ganz gut
ohne Kunst auskommen kann.
Heute wird Czernys kompositorisches und
pädagogisches Werk auf das eines Etüdenkomponisten reduziert, der für den musikalischen Treibstoff zu einer manuell-technischen Ausbildung zum Tastenartisten
sorgte. Vergessen wird, dass er anderen
Fähigkeiten, wie Blatt- und Partiturspiel,
Transponieren und Improvisieren, auch
das Stimmen des Instruments, ganze Bände seiner großen Klavierschule gewidmet
hat.16 In seinen Musikalischen Haus- und Le­
bensregeln mühte sich Robert Schumann um
kreative Zugänge und kritisiert alle Formen
Gemälde von Ferdinand Max Bredt (1860–1921)
immer wieder für eine autonome Musik
in der Schule einzutreten? Nicht als Beiprogramm des heiligen Triumvirats der
Kernfächer oder Kompensation verlorener
reformpädagogischer Utopien, sondern
als ein zweckfreies, zusammenhängendes
ästhetisches Fach, das sich auch Momente
von Freiheit gegen den bildungsökonomischen Diktaten des Zeitgeistes bewahrt?
Findet man Musikunterricht dort im
Schonraum für besonders empfindsame
Seelen, die sich nach verrichteter Arbeit
im beschleunigten Vormittagsbetrieb nun
im Nachmittagsangebot ihrem musischen
Amüsement widmen? Häufig wird gerade diese Wellness-Funktion von außen an
den Musikunterricht herangetragen. Und
wenn schon selbsternannte Bildungsexperten propagieren, dass alle Kinder mit
Begabungen und Talenten gesegnet seien,
die nur durch die institutionellen Rahmungen unserer Bildungsmaschinerie flächendeckend vernichtet würden, dann sollten
sich zumindest die ästhetischen Fächer hier
quer stellen: Ein hohes Maß an Kreativität und
Eigensinn, sosehr es von einzelnen Lehrern geschätzt
werden mag, ist weitgehend systeminkompatibel mit
unseren Schulen.11 Dies liest sich wie ein Appell an die ästhetischen Fächer, der dazu
aufruft, sich mit einer kontemplativen Beschaulichkeit gegen das pädagogische Urmaß des 45-Minuten-Intervalls zu stellen.
Dies ruft nach einem Musikunterricht, der
Lernende in Projekte verstrickt, in denen
sie dann zum Vergnügen ihrer Lernbeglei-
Müßiggang – heute kaum noch zu erleben.
MUSIKUNTERRICHT aktuell – 1/2015
Divertissement oder Exercice?
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leerer Motorik. Das mechanische Üben sei
ungefähr so, als bemühe man sich, täglich das ABC
möglichst schnell und immer schneller auszuspre­
chen.17 Ähnlich äußert sich Ferruccio Busoni, der sich zwar für schnelle Autos und
Geschwindigkeitsrekorde interessierte, die
Kunst aber nicht auf das technische Geschick des Ingenieurwesens reduziert wissen wollte: Die Routine wandelt den Tempel der
Kunst um in eine Fabrik. Sie zerstört das Schaffen.
Denn Schaffen heißt, aus nichts erzeugen. Sie ist die
Poesie, die sich kommandieren lässt.18 Bis heute
wird dem Virtuosen, der sein handwerkliches Können zum Selbstzweck erhebt, mit
abschätzigen Blicken begegnet: Das Virtuose,
der Virtuose und die Virtuosität haben in gestren­
gen Diskursen über Musik eine auffällig schlechte
Presse.19
Welche Perspektiven ergeben sich aus diesen Ausführungen über Divertissement
und Exercice für den Musikunterricht an
allgemeinbildenden Schulen? Der geneigte
Leser mag bereits jetzt darüber nachsinnen, ob sich sein Musikunterricht mehr der
technischen Ausbildung handwerklicher
Fähigkeiten stellt oder sich mehr im Schonraum der Zerstreuung bewegt. Gleichen
mit Boomwhacker bepackte Schülerinnen
und Schüler, die oft bis zur Unkenntlichkeit entstellte Mitspielsätze musizieren, den
Maschinisten an ihren Spielmaschinen, die
sich stumpf in die Maschinerie einfügen,
nichts über das Zustandekommen ihrer
Kunst wissen müssen und als Hörer ohnehin auf der Strecke bleiben? Es ist mit den
„Hunde werden abgerichtet, nicht Kinder.
Wer Kinder abrichtet, […] unterwirft sie
damit seinem Willen, formt sie nach seinen
Vorstellungen, ohne ihre Selbsttätigkeit zur
Geltung zu bringen.“ Johannes Giesinger25
Studien, die blos auf Kunstfertigkeit abzwecken,
ohne das Kunstgefühl zugleich anzuregen, und es
zu beschäftigen, überall, in allen Künsten, eine
bedenkliche Sache.20 Was hier zu Beginn des
19. Jahrhunderts über musikalische Lehrbücher gesagt wird, scheint heute noch
aktuell. Hat für manch eine „Tätigkeit“
im Unterricht (von einer „Handlung“, die
eine selbstbestimmte und zielgerichtete
Aktion bezeichnet und einen Lernenden
voraussetzt, der einen Willen besitzt und
seine Wünsche und Ziele reflektiert, sollte
hier wohl nicht gesprochen werden) die
ästhetische Qualität eines auf diese Weise
„gewobenen Klangteppichs“ überhaupt
irgendeine Relevanz entfaltet? Hier gilt
es, sich zunächst an elementarisierten, oft
ausschließlich rhythmischen, Etüden zu
erproben, die in häuslicher Arbeit […] den
Schüler mit Schwierigkeiten aller Art21 vertraut
machen. Erst gilt es diese Kompetenzen
zu entwickeln, bevor dann langsam – und
zwar Schritt für Schritt – der Parnass echter und wahrer Kunst bestiegen werden
kann. Bleibt hier nicht manch ein Unterricht in dem Versuch stecken, das Alphabet
aufzusagen? Ist Musikunterricht vielleicht
gar eine einzige Etüde, die einzelne „Gänge“ des Übens bereithält, die sich phänomenologischen Begegnungen mit einem
Kunstwerk gar in den Weg stellen? Oder
kann es auch einen Musikunterricht geben,
der sich mit einer ausgewiesen ästhetischen
Haltung ganz elementaren musikalischen
Phänomenen widmet? Gibt es so etwas wie
„Kunst von Anfang an“?
MUSIKUNTERRICHT aktuell – 1/2015
17
18 DISKURS
Imitation – Lernen
durch Osmose?
Was die Möglichkeiten wissenschaftlicher Durch­
dringung betrifft, ist etwa in der Literaturwissen­
schaft ein wesentlich genaueres Methodenbewusst­
sein zu erfahren. Es mag damit zu tun haben, dass
Musik stärker ans ‚Machen‘ gebunden ist, dass
auch das Denken und Verstehen von Musik stärker
ans ‚Handwerkliche‘ gebunden ist als in den an­
deren Künsten. Die Schwierigkeit stellt sich aller­
dings dann ein, wenn vor lauter Handwerkswissen
der Blick auf das spezifische ‚Mehr‘ der Emergenz
verstellt wird.22 Blicken wir mit diesen Gedanken auf Musikunterricht und schließen
uns den Gedanken von Richard Sennett
an, der sich mit der Weitergabe und dem
Erwerb des ‚Handwerklichen‘ im Wechselspiel von Vor- und Nachmachen näher
beschäftigt: Oft wird erwartet, der Lehrling ver­
innerliche die Lektion des Meisters gleichsam durch
Osmose. Der Meister führt vor, wie man eine Sache
erfolgreich macht, und der Lehrling muss heraus­
finden, wo der Schlüssel dafür liegt. Beim Lehren
durch Vorführen fällt die Last dem Lernenden zu.
Außerdem wird vorausgesetzt, dass hier eine direkte
Nachahmung möglich ist. Natürlich funktioniert das
oft, aber ebenso oft funktioniert es nicht. So fällt es
den Lehrern in Musikkonservatorien oft schwer, sich
in die Situation der Schüler zurückzuversetzen, so
dass sie nicht den Fehler zeigen können, sondern nur,
wie man es richtig macht!23
Lernen durch „abrichten“?
Der Aufbau von Selbstständigkeit ist in der
Schule, in der die Lernenden von Vorgaben, Lehrplänen oder Benotungskriterien
umstellt sind, stets mit einem Paradox behaftet, das aufgrund der festen institutionellen Rahmungen nicht aufgelöst werden
kann. Im Musikunterricht wird das durch
Lehrende potenziert, die sich einzig am
Meister-Schüler-Verhältnis instrumentaler
Vermittlungssituationen orientieren. Ludwig Wittgenstein führt in seinen Philoso­
phischen Untersuchungen hier den Begriff des
Abrichtens ein24: Hunde werden abgerichtet,
nicht Kinder. Wer Kinder abrichtet, […] unter­
wirft sie damit seinem Willen, formt sie nach seinen
Vorstellungen, ohne ihre Selbsttätigkeit zur Geltung
zu bringen.25 Wer den Begriff „Abrichtung“
im pädagogischen Kontext gebraucht,
müsste eigentlich mit Abwehrreaktionen
rechnen, doch wer ein Mozartkonzert stu-
MUSIKUNTERRICHT aktuell – 1/2015
diert und damit Wettbewerbe gewinnen
möchte, stellt sich diesem Mechanismus.
Als Lernende eines Instruments sind Musiker ganz der Tradition folgend rezeptiv,
empfangend, hinnehmend, als Lehrende
sind sie es wie ein Chor- oder Orchesterleiter gewohnt, in direkter Instruktion alles
selbst in die Hand nehmen zu müssen. Die
Musizierenden folgen dem, was ihr Anleiter ihnen zeigt, das Berufsorgan eines Orchesterleiters ist der Zeigefinger. Aufgrund
dieser eigenen musikalischen Sozialisa­tion
fühlen sich Musiker daher weniger als
Lernbegleiter, sondern übernehmen eher
die Rolle als Ausbilder im Instruktionsmodus. Sie müssen gestalten, optimieren,
kontrollieren – und können Lernprozesse
nicht einfach geschehen lassen. Ein Blick
in Lehrmaterialien verdeutlicht dies: Vorgeschlagene Tanz- oder Bewegungschoreografien sollen meist einstudiert, aber selten
gemeinsam mit den Lernenden entwickelt
In unserer mechanisierten, auf
quantifizierbare Größen ausge­
richteten Gesellschaft, nehmen wir
nicht mehr das Ganze in den Blick,
sondern die Teile.
werden. Unterricht ist hier weniger prozess- als produktorientiert und muss sich an
seinem möglichst effizienten Output messen. Kolleginnen und Kollegen aus dem
benachbarten Kunst- und Theaterbereich
gehen mit offenen Lernsituationen weitaus
entspannter um: Sie schleppen weniger
ihren Adorno im Gepäck. Ihnen geht es
vielmehr darum, junge Menschen in ihrer Kreativität zu fördern und individuelle
ästhetische Fähigkeiten auszubilden, was
im Umkehrschluss nicht heißen soll, dass
sich die Geheimnisse der Kunst wie des Lebens ganz von selbst erforschen: Wäre Bil­
dung Leben im Sinne des unmittelbaren Lebensvor­
gangs, so könnte sie dem Leben überlassen bleiben.26
Arbeitsteilung
In unserer mechanisierten, auf quantifizierbare Größen ausgerichteten Gesellschaft, nehmen wir nicht mehr das Ganze in den Blick, sondern die Teile. Adam
Smith glaubte schon im 18. Jahrhundert,
dass die geisttötende Arbeit der Fabrikarbeiter effizienter sei als die Handarbeit
nach vorindustriellem Muster27, auch die
professionelle Musikausbildung folgt mit
durchaus gutem Recht diesem Effizienzdenken. Aus der Arbeitsteilung zwischen
Interpret und Komponist, zwischen Schaffenden und (nur) Nachschaffenden, resultiert eine Gewaltenteilung, die uns durch
die Trennung zwischen künstlerischer Unterweisung am Instrument und den theoretischen Begleitfächern geläufig erscheint.
Sofern sich ein Musiker nicht ausdrücklich
als Komponist verstand, wurde der musikalische
Adept vorrangig als reproduktiver Instrumentalist
ausgebildet, während die ursprünglich praktisch
ausgeübten Komposi­tionsfächer entweder zu theo­
retischen ‚Nebenfächern‘ (auch ‚Pflichtfächer‘ ge­
nannt) mutierten oder – im Falle der Improvisation
– ganz wegfielen.28 Diese Trennung bestand
im 18. Jahrhundert noch nicht. Carl Philipp Emanuel Bach hält in seinem Versuch
über die wahre Art das Clavier zu spielen noch
Ausführungen Von der freyen Fantasie bereit.
Wie die Flötenschule von Johann Joachim
Quantz und Leopold Mozarts Versuch einer
gründlichen Violinschule ­versteht sich auch
Bachs Klavierschule als eine anwendungsbezogene Zusammenschau von Kompositions- und Aufführungspraxis. Modern
gesprochen: Bach, Quantz und Mozart
hatten ein Musizieren im Sinn, das die
Reflexion einschließt, eine instrumentale
Ausbildung, die nicht im Musikmachen
steckenbleibt. Das stillschweigende Wissen
jedoch, das heute ein Musiker im Rahmen
eines einseitigen künstlerischen Studiums
im Instrumentalunterricht aufgesogen hat,
dient ihm nun im schulischen Musikunterricht als Anker. Längst hat er ein Verhalten
entwickelt, das durch bewusste Überlegungen nur leichte Korrekturen erfährt: Der
Musikstudent, der mit welchen Motiven auch immer
den Lehramtsstudiengang mit dem Fach Musik stu­
diert hat, findet sich in einer über Jahre gewonnenen
Haltung des Musikalisch-Künstlerischen im Refe­
rendariat wieder. Kann er seinen auf Selbstverwirk­
lichung und Selbstbezug ausgerichteten Umgang mit
Musik nun in eine nach außen gerichtete Tätigkeit
des Pädagogischen umsetzen?29 Die gewonnene
Haltung des Musikalisch-Künstlerischen,
die ein Lehrender mit der Muttermilch
seiner eigenen musikalischen Sozialisation
aufgesogen hat und die nun – vielleicht allzu leichtfertig – auf schulische Lernprozesse übertragen wird, wiegt oft mehr als das,
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MUSIKUNTERRICHT
was ihm dann in der zweiten Ausbildungsverpönt. Und gelten für die Tastenlöwen
phase begegnet. Dies gilt gerade, wenn
des 19. Jahrhunderts die gleichen GesetKenntnisse in Musikwissenschaft und
ze wie für junge Heranwachsende, die
Musiktheorie nur als
sich im Rahmen ihSekundärtugenden
res Musikunterrichts
„Die Neuzeit hat im 17. Jahrhundert
gelten und musikdidmit der schönsten
damit begonnen, theoretisch die Arbeit
aktische
Seminare
Hauptsache der Welt
zu verherrlichen und sie hat zu Beginn
allenfalls ein Rahbeschäftigen wollen?
unseres Jahrhunderts damit geendet, die
menprogramm für ein
Wenn ein privater InGesellschaft im Ganzen in eine Arbeits­
künstlerisch ausgerichstrumentalunterricht
tetes Studium bilden.
gesellschaft zu verwandeln.“
die
Voraussetzung
Seine Vorstellungen
Hannah Arendt37
für eine Abiturprüvon
musikalischem
fung mit obligatoLernen sind in den alrisch fachpraktischem
lermeisten Fällen Produkt eines zielorienAnteil bildet, darf man diesen Eindruck
tierten und durch ökonomische Wirksamgewinnen. Die eigentliche Aneignung von
keit geprägten Instrumentalunterrichts, der
Musik findet dann ohne Mitwirkung der
sich wie in seiner „musikalischen Fabrik“
Schule statt, die im Vorhof eines Musik(Busoni) nur einem Teilbereich der Mustudiums einen großen Teil der Schülersik, eben der Ausbildung musikpraktischer
schaft aussperrt oder in die genügsameren
und anwendungsbezogener Kompetenzen,
Grundkurse versteckt, in denen sie dann
widmet und kreative, auf entdeckendes
als interessierte Musikhörer noch willkomund selbstentdeckendes Lernen ausgerichmen sind. Das Problem ist nicht neu. Ein
tete Zugänge dabei nahezu gänzlich ausbBlick in die Schatzkammern alter Klavierlendet.
schulen zeigt, dass hier eine Haltung historisch gewachsen ist, die die Virtuosenausbildung zur allgemeinen Messlatte für alle
Hat das Lernen in der Schule
musikalischen Bildungsprozesse bestimmt.
Nach vier Stunden üben am Vormittag, eiseine eigenen Gesetze?
ner Pause für Speise und Verdauung, soll
Die Ausbildung des „technischen Gehier ein Blick auf das ebenso umfangreiche
schicks“ soll hier keinen fahlen BeiNachmittagsprogramm geworfen werden:
geschmack erhalten, der womöglich
Erst ermüde ich meine rechte Hand nach und nach
vergessen lässt, dass dieses handwerklichdurch viele musikalische Gänge, die ich langsam
künstlerische Vermögen für einen Musianfange, und immer geschwinder mache, bis die
ker unumgänglich ist. Es bedarf eben der
Hand nicht mehr kann; nun lasse ich sie ausruhen,
Ausbildung technisch-virtuoser Fähig- und
und verrichte das nämliche mit der linken Hand.
Fertigkeiten, um Kunst als solche überhaupt in Erscheinung treten zu lassen:
Wenn es zu Leerlauf und Flachheit kommt – sei es
kompositorisch, sei es in der Wiedergabe von ­Musik
–, dann liegt es zu allerletzt an der Virtuosität und
zuallererst daran, dass sie fehlt. Brillanz und Raf­
finesse gehören zu ihr, vollständige Beherrschung der
klanglichen und formalen Gestaltung. […] Die im
deutschsprachigen Raum so häufig ins Zwielicht ge­
setzte Virtuosität ist ohne das der Musik über­gestülpte
Moralisieren nicht zu begreifen, hinter dem sich nicht
selten ein Lob des Dilettantismus verbirgt.30
Die Beherrschung eines Instruments erfordert Selbstdisziplin, Übung und Wiederholung. All dies hat in unserer pädagogischen
Kultur, in der es um schnelle und unmittelbare Bedürfnisbefriedigungen geht,
eine schlechte Presse. Das Nachahmen,
Unumgänglich für einen Musiker – handwerkdas Immer-wieder-neu-Versuchen gilt als
lich-künstlerische Fähigkeiten.
Divertissement oder Exercice?
[…] Oft kann der fleißige Anfänger vor Freude über
das neue für den folgenden Tag bestimmte Studium
kaum einschlafen.31 Bei optimaler Zeitausnutzung und unter Berücksichtigung des
Biorhythmus wird hier jeder Tag streng
durchorganisiert, Pausen dienen der Wiederherstellung der Arbeitskraft, bereits für
die fleißigen Anfänger sind alle Maßnahmen auf Instandhaltung und Perfektionierung der Motorik gerichtet. Wer nun
als Lehrender in der Schule seinen Schülerinnen und Schülern mit dieser Haltung
begegnet und diese lediglich als unvollkommene Musiker betrachtet, dem entgeht das
Einzigartige und Besondere, was sein Beruf ihm schenken kann. Er unterrichtet an
ihren einmaligen und oft beeindruckenden
kreativen Zugängen vorbei, ihm entgeht,
wie Musik auch auf andere Art und Weise
bedeutsam sein kann und im Lebenskontext der Lernenden ihre ganz eigene Re­
levanz entfalten kann.
Welcome to the machine
Begriffe wie Kompetenz- und Output-Orientierung, Qualitätsmanagement,
Zielvereinbarungen und Kennzahlen prägen seit Jahren die Bildungspolitik und fordern von allen Beteiligten, sich beständig
selbst zu optimieren und auch die letzten
Ressourcen ökonomistisch zu mobilisieren.
Die Geigerin Julia Fischer hat genau dieses
outputorientierte Lernen im Blick, wenn
sie derartige Investitionen kritisch beleuchtet: Man hat angefangen, Schulen als Ausbildungs­
stätten zu sehen. Aber sie sollten für Bildung sorgen.
Das bezieht sich nicht nur auf den Musikunterricht,
sondern auf alle Fächer.32 Dabei sollte sich Bildungszeit nicht mit ökonomischer Rendite verrechnen, sondern eigentlich ein Ort
schöpferischer Muße sein. Unsere Schule
(lat. schola) ist von ihrem ursprünglichen
Wortsinn, der eigentlich ein „Innehalten in
der Arbeit“ meinte, weit entfernt, sie trägt
heute nichts mehr von dieser Ursprungsbedeutung freie Zeit33: Die zeitlichen Zwänge,
die wir heute erleben, die sich als Belastungs- und
Überlastungsfaktoren auswirken können, sind Aus­
druck der abstrakt-linearen Zeitordnung, die die
Individuen zu einem zweckrationalen, kalkulatori­
schen und ökonomischen Zugriff auf Zeit drängt.34
Der Begriff „Lernfabrik“ ist dabei keineswegs immer negativ konnotiert, was ein
Seitenblick in den gewerblich-technischen
MUSIKUNTERRICHT aktuell – 1/2015
19
20 DISKURS
deres. Es verwehrt uns jedes Für-sich-Sein. Damit
Bereich zeigt: Lernfabriken sind komplexe tech­
nimmt man jungen Menschen nicht nur die Chance,
nisch-organisatorische Lernumgebungen, in denen
sich der Erfahrung des Schönen hinzugeben, son­
effektiv und effizient Kompetenzen für unterschiedli­
dern auch die Möglichkeit, sich und andere in ihrem
che Individuen und Zusammenhänge vermittelt wer­
Eigenwert wahrnehmen zu können.38
den können. Ihre Stärke liegt in der großen Authen­
tizität, ihre bisherige Schwäche in der Komplexität
und damit einhergehend geringen Konkretisierung
Musizieren: ein Wechselspiel
ihrer Vermittlungsziele.35
Und auch unser Freizeitverhalten ist heutzwischen Leib und Geist
zutage straff durchorganisiert: „Just-inIn Anlehnung an den Kantleser Richard
Time“ hetzen wir von Termin zu Termin,
es leben nicht nur unsere Schülerinnen und
Sennett ist die musizierende Hand das Fens­
Schüler in einer ökonomisierten Freizeitgeter zum Geist.39 Dieses Fenster öffnet sich
sellschaft, in der sie sich „mobil“ vernetzt
aber nur, wenn Schülerinnen und Schüler
zwischen selbstgemachtem Aktivitäts- und
sich der Musik nicht wie einer seelenlosen
Kontaktstress bewegen. Dass sich dies auch
Fabrikarbeit widmen, sondern wenn sie
in ihrem Hörverhalten widerspiegelt, mag
auf ihr Tun hören und dieses in gebotener
niemanden verwundern. Man sollte sich um
Weise auch reflektieren: Man hat bei einiger
eine Erziehung/Ausbildung in Schulen kümmern,
Beherrschung des Instruments die Chance, in das
um zu erreichen, dass ein erwachsener Mensch in
Medium selbst einzutauchen und es nicht nur zu
der Lage ist, einem Musikstück zu folgen, das län­
hören, sondern am eigenen Leib zu erfahren. Selbst
ger als fünf Minuten dauert36, fordert daher die
musizieren bedeutet, sich auf das Wechselspiel von
Geigerin Julia Fischer. Diese Gesellschaft kennt
Leiblichkeit und Geistigkeit, von vollem ‚Darinkaum noch vom Hörensagen die höheren und sinn­
Sein‘ und kontrollierend-distanziertem ‚Draußenvolleren Tätigkeiten, um deretwillen die Befreiung
Sein‘ einzulassen.40
37
sich lohnen würde.
Diese hier geforderte Gleichzeitigkeit im
Nun dürfen wir froh sein, dass wir uns
Wechselspiel von vollem ‚Darin-Sein‘ und
nicht mehr in jenen aristokratischen Zirkontrollierend-distanziertem ‚Draußen-Sein‘ bleibt
keln bewegen, in deim Musikunternen Kunst nur den
richt oft auf der
wenigen vorbehalten
Jeder, der einmal Lernende bei ihren ersten
Strecke. Nicht,
ist, die sich mit ihr
Schritten mit einem Instrument begleitet hat,
weil die jeweils
zerstreuen und vor
weiß, wie schwer hier oft fällt, sich beim
andere
Seite
Langeweile
schütSpielen selbst zuzuhören, erst recht, wenn das
der
Medaille
zen. Und auch der
eigene Spiel in die Klangsuche von dreißig
aus dem Untergriechischen AhnenMitspielern fällt.
richt ausgesperrt
galerie konnte das
würde, sondern
Philosophieren
in
eher, weil dieses
Muße nur gelingen,
Wechselspiel alweil ihre tägliche Arbeit von Sklaven verles andere als ein Selbstläufer ist. Jeder, der
richtet wurde. Unsere Gesellschaft fordert
einmal Lernende bei ihren ersten Schritzu Recht eine Orientierung am Nützliten mit einem Instrument begleitet hat,
chen. Das heißt im Umkehrschluss jedoch
weiß, wie schwer hier oft fällt, sich beim
nicht, dass wir im Ringen um den BeSpielen selbst zuzuhören, erst recht, wenn
standsschutz der künstlerischen Fächer in
das eigene Spiel in die Klangsuche von
manchmal vorauseilender Weise das Feld
dreißig Mitspielern fällt. Und manch eine
nach Maßgaben bewirtschaften müssen,
konzeptionelle musikdidaktische Überledie von außen an uns herangetragen wergung resigniert vor diesem eingeforderten
den. Vielmehr führt es uns gerade in eine
Miteinander und möchte ganz bewusst
Fächerdämmerung, wenn wir nicht auf die
das trennen, was die „Mode“ der akadeBedeutung der Kunst um ihrer selbst wilmischen Ausbildung ohnehin „streng gelen insistieren und sie einzig in den Dienst
teilt“: Vielleicht bieten sich eingeschobene Phasen
ihrer vermuteten Transfereffekte oder ökoan, in denen man in kompakter Form und mit ef­
nomischen Fremdbestimmungen unserer
fektivsten Lernmethoden Wissensbestände aufbaut.
verwertungsorientierten Gesellschaft stelWichtig dabei ist, sich darüber im Klaren zu sein,
len: Nützlichkeit bedeutet immer: Sein für ein An­
dass das so gespeicherte Wissen, nämlich vorran­
MUSIKUNTERRICHT aktuell – 1/2015
gig Wissen über musikalische Parameter, Formen,
Kompositionsverfahren, geschichtliche Daten usw.,
nicht unabdingbare Voraussetzung für ästhetischmusikalische Erfahrungen ist, sondern zunächst
mal der besseren intersubjektiven Verständigung im
Musikunterricht dienen soll.41 Leise drängt sich
hier der Verdacht auf, dass das Reden über
Musik auf eine organisatorische Verständigung innerhalb der Musiziersituationen
reduziert werden soll, auch wenn gleichzeitig betont wird, dass der Musikunterricht
auch weiterhin die Aufgabe [hat], bestimmte musik­
bezogene Wissensbestände zu vermitteln.42 Doch
hat nicht Ästhetische Bildung immer etwas
mit der Entwicklung und Herausbildung
einer eigenen Urteilskraft zu tun? Nicht alles ist gleich gültig. Um dies zu erkennen,
braucht es die reflektierende Distanz des
„Draußen-Seins“, um Differenzen, Veränderungen, Konstanten überhaupt wahrzunehmen und einen Sinn für das Schöne
entwickeln zu können.
Anmerkungen
1
Friedrich Nietzsche: Über die Zukunft unserer Bil­
dungsanstalten, in: Ders., Sämtliche Werke, hrsg. von
Giorgi Colli und Mazzino Montinari, München
1988, Bd. 1, S. 651–732, hier S. 715.
2
Konrad Paul Liessmann: Theorie der Unbildung.
Die Irrtümer der Wissensgesellschaft, München 2008,
S. 62.
3
Roland Reichenbach: Für die Schule lernen wir.
Plädoyer für eine gewöhnliche Institution, Seelze 2013,
S. 40.
4
Liessmann: Theorie der Unbildung, S. 53.
5
Konrad Paul Liessmann: Geisterstunde. Die Praxis
der Unbildung, Wien 2014, S. 169.
6
Ebd., S. 168.
7
Liessmann: Theorie der Unbildung, S. 55.
8
Neue Zeitschrift für Musik 33 (1850), S. 171.
9
Wolfgang Ruf, Artikel „Divertissement“, in:
Handwörterbuch der musikalischen Terminologie, 13.
Auslieferung, Winter 1985/86.
10
Arnfried Edler: Gattungen der Musik für Tastenin­
strumente, in: Handbuch der musikalischen Gattungen,
hrsg. von Siegfried Mauser, Bd. 7, Teilband 2,
Laaber 2003, S. 230.
11
Richard David Precht: Anna, die Schule und der
liebe Gott. Der Verrat des Bildungssystems an unseren
Kindern, München 2015, S. 110.
12
Edler: Gattungen der Musik für Tasteninstrumente,
S. 271.
13
Ebd., S. 279.
14
Friedrich Kittler: Artikel „Künstlerische Techniken“, in: Ästhetische Grundbegriffe, hrsg. von
Divertissement oder Exercice?
BUNDESVERBAND
MUSIKUNTERRICHT
Karlheinz Barck et al., Stuttgart 2005, Bd. 6, S.
15–23, hier S. 21.
15
F. H. J. de Castil-Blaze: Artikel „Dictionaire de
musique moderne“, Paris 1821, S. 223f., hier zitiert nach der Übersetzung von Edler: Gattungen
der Musik für Tasteninstrumente, S. 272.
16
Hierzu: Ulrich Mahlert: Carl Czernys Didaktik
der Virtuosität. Intentionen und Optionen, in: Musika­
lische Virtuosität, hrsg. von Heinz von Loesch, Ulrich Mahlert, Peter Rummenhöller, Mainz 2004,
S. 180–196.
17
Robert Schumann: Gesammelte Schriften über Mu­
sik und Musiker, Nachdruck der Ausgabe Leipzig
1854, Wiesbaden 1985, Bd. 4, S. 293.
18
Ferruccio Busoni: Entwurf einer neuen Ästhetik der
Tonkunst, Bremen 2013 [1916], S. 46.
19
Albrecht Riethmüller: Virtuosität im Zwielicht.
20 Beobachtungen, in: Musikalische Virtuosität, hrsg.
von von Loesch, Mahlert, Rummenhöller, Mainz
2004, S. 39–44, hier S. 39.
20
August Heinrich Petiscus: Über musikalische
Lehrbücher und den neuesten unter denselben, in: Allgemeine musikalische Zeitung 10 (1807), Sp. 182.
21
Vgl. Anmerkung 15.
22
Holger Noltze: Die Leichtigkeitslüge. Über Musik,
Medien und Komplexität, Hamburg 2010,S. 256f.
23
Richard Sennet: Handwerk, Berlin 2008, S. 243.
24
Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchun­
gen, in: Ders.: Werkausgabe Band 1, Frankfurt a. M.
2006, S. 225–580, hier S. 239.
25
Johannes Giesinger: Die Unmöglichkeit des Leh­
rens. Augustin und Wittgenstein, in: Philosophie des Leh­
rens, hrsg. von Hans-Christoph Koller, Roland
Reichenbach, Norbert Ricken, Paderborn 2012,
S. 31-45, hier S. 31.
26
Heinz-Joachim Heydorn: Zur Aktualität der klas­
sischen Bildung, in: Ders.: Bildungstheoretische Schrif­
ten, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1980, S. 308.
27
Hierzu: Sennett: Handwerk, S. 69.
28
Wolfgang Lessing: Kinderkomposition im Span­
nungsfeld von Prozess- und Produktorientierung, in:
Philipp Vandré, Benjamin Lang (Hrsg.): Kompo­
nieren mit Schülern. Konzepte, Förderung, Ausbildung,
Regensburg 2011, S. 15–21, hier S. 15.
29
Klaus Riedel: „Und dann kannst du denen auch
noch den Dominantseptakkord unterjubeln.“ Beobachtun­
gen und Einschätzungen zu Musikunterricht, Musiklehrer
und Schule aus der Perspektive des Ausbilders und seiner
Referendare, in: Diskussion Musikpädagogik 48
(2010), S. 29–35, hier S. 33.
30
Riethmüller: Virtuosität im Zwielicht, S. 43f.
31
Edler: Gattungen der Musik für Tasteninstrumente,
S. 279f.
32
Julia Fischer: Klassische Musik nicht vereinfachen.
Fragen an Julia Fischer über Konzerte, Musik und Bil­
dung, in: Forschung und Lehre 3 (2013), S. 185.
21
Hierzu: Jürgen Oberschmidt: Ein Plädoyer für die
Muße. Gedanken zu einem kontemplativen Musikunter­
richt, in: Diskussion Musikpädagogik 60 (2013),
S. 55–62.
34
Manfred Ehling: Zeit für Freizeit und kulturelle
Aktivitäten. Ergebnisse aus Zeitbudgeterhebungen, in:
Jahrbuch für Kulturpolitik, hrsg. vom Institut für
Kulturpolitik der kulturpolitischen Gesellschaft,
Bonn und Essen 2005, S. 87–97, hier S. 87.
35
M. Abel, S. Czajkowski u. a.: Kompetenzorien­
tiertes Curriculum für Lernfabriken. Ein didaktisch
hinterlegtes Konzept für Lernfabriken, in: wt – Werkstatttechnik online Jahrgang 103 (2013) H. 3, S.
240–245, hier S. 245.
36
Julia Fischer: Klassische Musik nicht vereinfachen,
S. 185.
37
Hannah Arendt: Vita activa oder: Vom tätigen Le­
ben, München 1981, S. 13.
38
Liessmann: Geisterstunde, S. 179.
39
Sennett: Handwerk, S. 201.
40
Karl Heinrich Ehrenfort: Hinhören – Zuhören –
Durchhören. Musik als Einladung zum Dialog, Hannover 2014, S. 80.
41
Volker Schütz: Welchen Musikunterricht brauchen
wir, Teil 2: Perspektiven eines brauchbaren Musikunter­
richts, Nachdruck aus: AfS-Magazin 3 (1997), S.
3–10, hier S. 4f.
42
Ebd.
33
Seminare, Workshops & Weiterbildungen in den
Bereichen Chor, Chorleitung, Stimmbildung,
Musikvermittlung ...
Klaut!
CHOR
Bundesakademie für Kulturelle Bildung Wolfenbüttel
www.bundesakademie.de | [email protected]
Seminare,
& Weiterbildungen in
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