Predigt beim Gottesdienst zur Schulentlassung, 02.07.2015 Gnade

Predigt beim Gottesdienst zur Schulentlassung, 02.07.2015
Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.
Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, liebe Lehrerinnen und Lehrer, liebe Eltern, Großeltern und
Geschwister,
Ein Gewirr von Gleisen! Wohin führt die Reise? Wie sind die Weichen gestellt? Kann ich mich selbst
entscheiden, oder entscheiden andere für mich?
Manchmal sieht es in meinem Leben aus wie auf diesem Bild: So viele Wege, so viele Möglichkeiten und
Weichenstellungen, so viele Knotenpunkte und Haltepunkte, aber auch Sackgassen, Entgleisungen und
Verspätungen… Manchmal verunsichert mich die Vielfalt der Möglichkeiten. Wie soll mein Leben
weitergehen? Nehme ich das rechte oder das linke Gleis, die erste oder die zweite Abzweigung?
Soll ich nach dem Abi sofort mit einer Berufsausbildung anfangen, oder ist es besser, noch ein Jahr
dazwischenzuschieben und etwas ganz anderes tun? Soll ich Hamburg verlassen oder lieber erst mal
hierbleiben? Was ist mir wichtiger: Den Sprung ins kalte Wasser zu wagen oder am Vertrauten festzuhalten?
Was ist mit den Beziehungen, in denen ich stehe: Freundschaften, Partnerschaft, das Miteinander in der
Familie: Wie geht es weiter? Bleiben wir auf demselben Gleis, auf derselben Spur? Oder trennen sich unsere
Wege? Mit wem möchte ich unbedingt Kontakt halten, von wem brauche ich erst mal Abstand?
Fragen über Fragen. Die Schwierigkeit an der Sache ist: Ich kann nicht sehen, wohin die Gleise letztlich führen.
Das erste Stück kann ich noch überblicken, aber dann verlieren sich die Wege in der Ferne oder verschwinden
im Nebel. Welche Konsequenzen wird es haben, wenn ich mich jetzt so oder so entscheide? Ich habe Angst,
dass ich mir später Vorwürfe mache: „Hättest du doch!!!“ Oder auch: „Hättest du doch nicht!!!!“
Es kann unglaublich schwer sein, sich zu entscheiden, denn jede Entscheidung bedeutet einen Verlust: einen
Verlust von Möglichkeiten. Wenn ich mich für das eine entscheide, ist das andere oft nicht mehr möglich. Und
so schiebe ich manche Entscheidung vor mir her. Ich möchte möglichst viele Türen offen halten. Doch dann
muss ich feststellen: Es ist längst über mich entschieden. Nichts geht mehr. Was gestern noch möglich war, ist
es heute nicht mehr. Dann geht es mir wie dem Esel aus der Geschichte, der zwischen zwei Heuhaufen
verhungert, weil er sich für keinen der beiden entscheiden kann. Es soll Leute geben, die hoffen auf einen
vollen Zug, denn wenn er leer ist, wissen sie nicht, wo sie sich hinsetzen sollen. Oder sie hoffen beim
Einkaufen, dass das Sonderangebot ausverkauft ist, damit sie nicht nachdenken und entscheiden müssen…
Im Zug kann ich zur Not stehen bleiben, beim Einkaufen kann ich vielleicht manches auf der Einkaufsliste
einfach streichen, wenn ich mich nicht entscheiden kann. Doch bei den großen Fragen des Lebens gilt: Ich kann
der Entscheidung letztlich nicht ausweichen, sonst bleibt als Möglichkeit nur der Stillstand.
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Eine kurze Pause, ein kurzer Halt, um mich zu besinnen und zu überlegen, ist hilfreich und wichtig. Aber wenn
es mit meinem Leben weitergehen soll, muss ich mich schließlich entscheiden.
Liebe Abiturienten, liebe Eltern und Lehrer, liebe Gemeinde, wahrscheinlich gab es in der Geschichte der
Menschheit noch niemals zuvor so viele Möglichkeiten und Wege für den einzelnen wie heute. Der Soziologe
Ulrich Beck schrieb schon vor einigen Jahren: „Die Normalbiografie eines heutigen Menschen ist eine
Wahlbiografie.“: War das Leben früher weitgehend „festgeschrieben“: durch die Eltern und die soziale Schicht,
durch den Ort, an dem man lebte, durch Traditionen und Bräuche… so steht man heute ständig vor neuen
Entscheidungen: Soll ich dies oder jenes kaufen? Mich um diesen oder jenen Menschen bemühen? Hier oder
dort Urlaub machen? Wo will ich wohnen? Welchen Beruf möchte ich ergreifen? Welchen Lebensstil wünsche
ich mir? Welche Normen oder Werte sollen mein Leben bestimmen?
Das Abi bzw. der Schulabschluss ist ohne Frage ein Knotenpunkt, an dem besonders viele wichtige
Entscheidungen zu treffen sind. Von hier aus führen wie von einer Drehscheibe fast zahllose Gleise in ganz
unterschiedliche Richtungen.
Manchmal wünschte ich, jemand anderes würde die Weichen für mich stellen und mir die Entscheidungen
abnehmen. Ich erinnere mich an meine Kindheit und sehne mich manchmal zurück zu der Leichtigkeit und
Unbeschwertheit, die ich genießen durfte, weil ich das meiste noch nicht selbst entscheiden musste. Aber ich
weiß auch: Je älter ich wurde, umso mehr Spaß hatte ich daran, Dinge mitzuentscheiden, und konnte mich mit
Entscheidungen, die andere für mich treffen wollten, nicht mehr ohne weiteres abfinden. Zum
Erwachsenwerden und Erwachsensein gehört es dazu, selbst zu entscheiden und Verantwortung zu
übernehmen. Es ist gut, sich Rat zu holen und sich zu informieren. Es ist unglaublich hilfreich, mit Freunden
oder Eltern über das pro und contra zu diskutieren oder auch einfach nur jemandem erzählen zu können, was
mich beschäftigt. Dennoch: die Entscheidung liegt letztlich bei mir selbst. Und damit stehe ich plötzlich sehr
allein da, ganz auf mich gestellt: Ich muss selbst die Verantwortung für mein Leben übernehmen und kann die
Verantwortung dafür, wie es mir geht und was ich mache, nicht mehr länger auf andere abwälzen.
Liebe Gemeinde, „das Schlimme am Leben ist, dass man sich immer irgendwie entscheiden muss.“ Das nervt,
das strengt an. Aber viel wichtiger ist meiner Meinung nach der Satz: „Das Gute am Leben ist, dass man sich
immer wieder irgendwie entscheiden kann!“
Dass wir heute in unserer Gesellschaft diese Wahlfreiheit haben, ist ja alles andere als selbstverständlich. Das
merken wir, wenn wir in andere Länder schauen, die unter einer Diktatur oder einem Terrorregime leiden. Der
Spiegel hat z.B. in der letzten Ausgabe dargestellt, unter welchen Bedingungen Menschen im sogenannten
„Islamischen Staat“ leben müssen. Das gesamte Leben ist durch Verbote reguliert: In der Schule darf man zu
politischen Themen keine Fragen mehr stellen, die freie Meinungsäußerung oder der Austritt aus dem Islam
werden mit dem Tod bestraft.
Die Freiheit, die wir hier in Deutschland haben, ist nicht selbstverständlich. Das merken wir auch, wenn wir in
Richtung Mittelmeer, in Richtung Süden oder auch Südosten schauen. Wir können uns entscheiden, wohin wir
in Urlaub fahren wollen. Wir haben die Qual der Wahl, wenn es darum geht, in welchem Land wir vielleicht
einige Auslandssemester verbringen wollen. Für Tausende von Menschen, die auf der Flucht vor Krieg, Gewalt
oder Hunger sind, endet die Freiheit zur Selbstbestimmung, die Freiheit zur Wahl ihres Aufenthaltsortes an
einem der hohen Zäune oder Mauern, hinter denen sich Europa verbarrikadiert hat - oder sie endet auf einem
kleinen Boot, das navigationsunfähig auf dem Mittelmeer treibt...
Liebe Abiturienten und Abiturientinnen: Ihr seid frei! Egal, welche Noten auf Eurem Abizeugnis stehen, egal,
ob euch ein gut gefülltes Konto zur Verfügung steht oder ob Ihr auf BaFöG angewiesen seid. Ihr seid frei, euch
zu entscheiden, Ihr habt unzählige Möglichkeiten in den verschiedenen Bereichen Eures Lebens. Nutzt sie! Seid
mutig, Euch für das zu entscheiden, was Euch wichtig ist, wofür Ihr brennt!
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Der Apostel Paulus schreibt: „Zur Freiheit hat Christus uns befreit! Bleibt daher standhaft und lasst euch nicht
wieder unter das Joch der Knechtschaft zwingen!“ (Gal 5,1). Mit dem Ende Eurer Schulzeit habt Ihr ein großes
Stück Freiheit dazu gewonnen, das Ihr nutzen sollt und dürft. Doch Paulus spricht noch von einer anderen Art
der Freiheit, nämlich von der Freiheit, die uns Jesus Christus schenkt.
Die äußere Freiheit, die wir als Deutsche in einer Demokratie und einem Rechtsstaat genießen, ist wenig wert,
wenn nicht eine innere Freiheit dazukommt. Es hilft wenig, dass ich theoretisch die Möglichkeit habe, jeden
Beruf zu ergreifen, den ich möchte, dass ich heiraten darf, wen ich will, dass ich leben kann, wo ich will – wenn
ich gleichzeitig innerlich in Angst und Unsicherheit gefangen bin, so dass ich es kaum wage, den Fuß vor die Tür
zu setzen. Es hilft wenig, dass ich die Freiheit habe, meine Meinung zu sagen, dass ich die Möglichkeit habe,
die Zukunft unserer Gesellschaft mitzugestalten, wenn ich in Schuldgefühlen verstrickt bin oder von meiner
eigenen Unfähigkeit überzeugt bin.
Gott schenkt uns Freiheit. Und das ist eine Freiheit, in der beides aufgehoben ist, in der beides seinen Platz
hat: die Freiheit, selbst zu entscheiden – und die Geborgenheit, die ich als Kind erfahren durfte. Ich bin Gottes
geliebtes Kind, aber das heißt nicht, dass er mir alle Entscheidungen abnimmt, dass er alle Weichen in meinem
Leben schon im Voraus stellt, so dass ich nur noch die vorgegebene Route abzufahren brauche. Kind Gottes zu
sein heißt viel mehr, dass er mir den Rücken stärkt und mir durch seine Liebe den Mut gibt, meine Freiheit zu
nutzen und das heißt auch: Fehler zu machen. Ich darf mir sicher sein, dass er mich liebt und mir meine Fehler
verzeiht. Ich darf sicher sein, dass er mich begleitet und mich nicht im Stich lässt, auch wenn ich mal eine
Abzweigung gewählt habe, die sich im Nachhinein als Fehler entpuppt oder mir als Fehler erscheint.
Liebe Abiturienten, liebe Gemeinde, ich wünsche Euch und Ihnen die wunderbare Freiheit der Kinder Gottes,
in der Geborgenheit und Mut zusammengehören. Für alle weiteren Weichenstellungen in Eurem Leben, für
alle Richtungsentscheidungen, für Euren ganzen weiteren Weg wünsche ich Euch Gottes Segen! Amen.
Pastorin Katharina Davis