Lichtpunkt 3/2013 FREUNDESKREIS FÜR TAUBBLINDE Seite 3 4 4 4 5 6 7 8 10 12 16 20 Neue Stimme für den Lichtpunkt / Kathrina Redmann Bewilligte Gesuche / Maggie Gsell Ein Geschenk des Lebens / Erika Salome Hegetschweiler Ein herzliches Dankeschön an Hans Jörg Gygli / Maggie Gsell Weihnachten / Erika Salome Hegetschweiler Die Entwicklung der Abteilung Animation / Maria-Theresia Müller Kürbisausstellung in Seegräben Juckerhof / Heidi Peyer-Michlig Stimmengeber in der Provence / Kathrina Redmann Wenn Pietro Londino mit der Zunge schnalzt, antwortet die Welt / Antonietta Fabrizio «Denk daran, du bist doch in New York!» / Doris Herrmann Jubiläumsausflug ‘tactile’ 2013 / Christine Müller Impressum Karikaturen von Fred Grob, Baden Titelbild Kirche von Sent, Unterengadin, Foto Ernst Lacher 2 FREUNDESKREIS FÜR TAUBBLINDE Neue Stimme für den Lichtpunkt das Ereignis jahrelang zurück liegt, ist es noch in lebendiger Erinnerung und natürlich nun durch mein zukünftiges Engagement beim Freundeskreis für Taubblinde wieder aktuell geworden. Ich war nachhaltig beeindruckt von den guten Begegnungen und den bewundernswerten Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Kurses, von ihrer Begeisterungsfähigkeit und Sensibilität. Als ich dann den letzten Lichtpunkt und insbesondere den Dank der Präsidentin an Fridel Born las, dachte ich, dass die Aufgabe, die Zeitschrift auf Tonträger zu lesen, vakant wird. Ich fühlte mich angesprochen. Das wäre eine Idee! Genau für mich, denn Vorlesen ist eine meiner Lieblingsbeschäftigungen, nicht nur bei Autorenlesungen meiner eigenen Bücher. Schnell teilte ich die Idee Maggie Gsell mit, denn unser langjähriger Kontakt blieb auch erhalten, nachdem die Taubblinden-Beratung die Cramerstrasse 1995 verlassen hatte. Maggie war sofort begeistert, sodass ich mich so richtig willkommen fühle bei euch. Gerne gebe ich den interessanten Artikeln meine Stimme und freue mich schon auf den ersten Einsatz. Kathrina Redmann, geb. 1946 in Horgen. Verheiratet, eine Tochter, eine Enkelin und ein Enkel. Primarlehrerin, Zeichenlehrerin, Autorin. Seit 1995 unterrichte ich Arabisch an meiner Privatschule ArabiKalam in Zürich. Dort lernte ich, damals Sekretärin bei den Anonymen Alkoholikern, an der Cramerstrasse Maggie Gsell kennen und kam durch sie mit der SZB TaubblindenBeratung und ihren vielfältigen anspruchsvollen Themen in Berührung. Im Jahre 1996 las ich in Magliaso aus meinem Buch Sindbadas erste Reise. Geschichten aus Kairo. Das Thema des Ferienkurses für hörsehbehinderte und taubblinde Menschen war Orient. Mein Mann Peter Schutzbach organisierte einen orientalischen Bazar mit duftenden Gewürzen, und die Bauchtänzerin Liliana bereicherte den Anlass mit Musik und anmutigen Bewegungen. Wir alle waren verkleidet wie in tausend und einer Nacht. Obwohl 3 Bewilligte Gesuche Ein herzliches Dankeschön an Hans Jörg Gygli Nachdem Fridel Born dem Vorstand des Freundeskreises bekanntgegeben hat, er wolle seine Aufgabe, den Lichtpunkt auf CD zu sprechen aufgeben, haben wir lange überlegt und gesucht, wer diese wichtige und intensive Aufgabe übernehmen könnte. Ich engagiere mich im Kellertheater Bremgarten und kenne daher einige sehr erfahrene ‘Laien’-Schauspielerinnen und -Schauspieler. Dazu gehört auch Hans Jörg Gygli, der schon in etlichen Produktionen die Hauptrolle inne hatte und das Publikum begeisterte. Er wird auch immer wieder für Lesungen angefragt und hat entsprechend viel Erfahrung. Deshalb fragte ich ihn als neuen Sprecher für den Lichtpunkt an, im Wissen, dass Hans Jörg vielseitig engagiert ist. Er hat trotzdem zugesagt und wir waren im Vorstand heilfroh darüber! Seit Sommer 2010 hat Hans Jörg mit viel Engagement den Lichtpunkt auf CD gesprochen. Durch einen Zufall meldete sich Kathrina Redmann bei mir als neue Sprecherin. Sie möchte sich dazu auch gerne im Vorstand engagieren. Da haben wir tatsächlich eine Lücke und sind dankbar für das Angebot von Kathrina. Ich hoffe, Hans Jörg geniesst die frei gewordene Zeit wieder in vollen Zügen. Im Namen des Vorstandes vom Freundeskreis danke ich ihm ganz herzlich für seinen wertvollen und grossen Einsatz. Maggie Gsell Ihre grosszügigen Spenden ermöglichen es dem Freundeskreis, auch grosszügig Gesuche von hörsehbehinderten und taubblinden Menschen zu behandeln: Im Oktober wurden Beiträge von insgesamt Fr. 6'500.– bewilligt - für einen Beitrag ans GA - für die Anpassung eines Hörgerätes - für einen Beitrag an einen Computer - für verschiedene EDV-Kurse, die bereits erfolgreich absolviert wurden. Dies sind kostbare Lichtblicke im Leben von betroffenen Menschen. Herzlichen Dank für Ihre Spenden! Maggie Gsell Ein Geschenk des Lebens von Erika Salome Hegetschweiler Alles geht vorüber, alles geht vorbei. Ob es schön und herzlich oder schmerzlich, eines bleibt bestehen und ist ewig jung, als Geschenk des Lebens – die Erinnerung! 4 FREUNDESKREIS FÜR TAUBBLINDE Weihnachten von Erika Salome Hegetschweiler wahrte. «Wozu eigentlich?» fragte ich mich und entschloss mich gleichzeitig, meinen Schatz zusammen mit dem Geld den Kindern im Pestalozzi-Dorf zu schenken. Gespannt warteten wir auf das Echo. Kurz vor Weihnachten brachte der Pöstler einen Stapel voller Karten und Briefe vorbei. Jedes Kind schrieb, was es vom Christkind erhalten hatte. Einen Puppenwagen, ein Kasperli-Theater, Schlittschuhe, einen Leder-Fussball, einen Teddybär usw. Äussert rührend waren die naiven Zeichnungen und die grosse Dankbarkeit der Kinder. Aus den vielen Karten und Briefen machte ich eine endlose Girlande und schlang diese um den Christbaum. Advent – die Zeit der Erinnerung an die Kindheitstage… Advent – die Zeit, wo Herzenswünsche in Erfüllung gehen… Die Kleinen schreiben ein Brieflein ans Christkind: «Lieber Engel, schenk mir doch bitte, bitte die grosse Puppe. Ich verspreche Dir dafür, mit Mami recht lieb und brav zu sein.» Meine Eltern luden zu diesem Fest zwei Matrosen der Kriegsmarine aus dem nahe gelegenen Lazarett ein. Toni und Fredi verliebten sich prompt in die zwei Mädchen – meine Schwester Edith und ihre Freundin Ella. Später wurde sogar der Bund fürs Leben geschlossen. Dazwischen gab's einen guten Gewinn an der Börse. Um dem hohen Steuerfuss auszuweichen, musste eine Schenkung deklariert werden. Aber an wen? Bald wurde die Lösung gefunden: das PestalozziKinderdorf in Trogen. Bekannte und Verwandte legten auch noch etwas dazu. So wurde daraus ein ansehnliches Sümmchen. Mir kam noch eine Idee: Ich sammelte seit Jahren schöne Künstlerpuppen, welche ich im Keller in einer grossen Holztruhe aufbe- Dann kam Heiligabend: Im Haus verbreitete sich ein herrlicher Duft von Weihnachtsguetzli, Mandarinen und Mandeln. Im Garten glitzerte der Schnee auf den hohen Tannen im fahlen Licht einer Laterne. Durch die geöffnete Terrassentüre drang ein leichter Luftzug und wehte sanft durch den Christbaum. Die Botschaften der Kinder bewegten sich. Die Figuren, die sie angefertigt hatten – Sterne, Schneemännchen, Engel – wurden allesamt lebendig und fingen an zu tanzen. Wunderschön waren diese liebevollen Grüsse aus der heilen Welt der jungen Menschen aus dem Pestalozzi-Dorf. «Oh du fröhliche, oh du selige Weihnachtszeit», ertönte es, und «Stille Nacht, heilige Nacht». 5 Die Entwicklung des SBZ-Fachbereichs Animation von Maria-Theresia Müller Im Herbst 1988 enstand unter der damaligen Sozialarbeiterin des Kantons Aargau, Norma Bargetzi, ein neues Projekt. Die erste Regionalgruppe der SZBBeratungsstellen für hörsehbehinderte und taubblinde Menschen wurde ins Leben gerufen. Die regionalgruppe des Kantons Aargau traf sich ab dieser Gründung regelmässig im Gemeinschaftszentrum Telli in Aarau. Unter Normas Anleitung wurde gemeinsam gebastelt. Ich selber kam als Neuling anfangs 1989 dazu. Mit dem Bähnli fuhr ich von Bremgarten nach Wohlen. Hier empfingen mich gleich zwei Männer, Oskar Weber und Kurt Koller. Ursula Bernhard war meine erste Begleiterin. Mit Papierbatik entstanden wunderschöne Karten. In all den Jahren lernte ich vielerlei: töpfern, Korbflechten, Kleisten, Seidenmalen, Filzen, Weben und vieles mehr. Ich staunte immer wieder über die zahlreichen Möglichkeiten und Ideen. Zur Erholung für Körper und Seele entspannten wir uns oft im Thermalbad in Schinznach Bad. Das Sekretariat und die Beschäftigungsanleitung, wie sie damals noch genannt wurde, teilten sich zwei Büroräume an der Cramerstrasse in Zürich. Für die Beschäftigung waren diese Räume zu eng. Im Industriequartier Zürich Altstetten fanden sie Räume. Durch Einzelbetreuung wurde unser Interesse der Handfertigkeiten gefördert. Die Stelle der Anleiterin wurde auf zwei Personen erhöht. Einige Male wurden die Kunstwerke in Aarau am Rüeblimarkt, der immer am ersten Mittwoch im November durch geführt wird, zum Verkauf angeboten und gleichzeitig über unsere Behinderung aufgeklärt. Es war jedes Mal ein erfreulicher Erfolg. Die Nachfrage nahm zu. Nach wenigen Jahren zügelten die Anleiterinnen an die Gutstrasse. Der Raum war heller und gemütlicher. Dank O+M-Training schafften alle Klientinnen und Klienten den Weg selbstständig. Hier wurden wir in Gruppenarbeit und einzeln gefördert. In einer engen Ecke bereiteten wir das Mittagsessen selber zu. In den grossen Schaufenstern stellten die Anleiterinnen unsere gefertigten Gegenstände zum Verkauf aus, und manche Kunden bewunderten sie und kauften ein. Auch hier wurde es zu eng. Nach langem Suchen fand man in Lenzburg im Gleis 1 im ehemaligen HeroGebäude im Untergeschoss mehrere Räume mit Büros. Der Fachbereich bekam den neuen Namen ‘Animation’. Heute sind in Lenzburg vier Personen mit Teilzeitpensen angestellt. Zwei von ihnen sind vorwiegend für das Atelier verantwortlich und zwei hauptsächlich für die im weitesten Sinne kulturellen Anlässe. Seit bald 15 Jahren erleben wir Betroffenen mit freiwilligen Mitarbeitern wertvolle Stunden in Lenzburg. 6 Kürbisausstellung in Seegräben Juckerhof – von Heidi Peyer-Michlig FREUNDESKREIS FÜR TAUBBLINDE spielen. Etwas weiter entfernt stand ein lustiger Gitarrist mit einem dunklen Hut. Ein paar Meter entfernt konnte man ein stolzes Pferd und seinen Ritter bewundern. Auch einen prächtigen Löwen entdeckte ich. Es gab sogar ein Labyrinth. Dort sah und hörte man vor allem die Kinder! Weil jetzt Apfelzeit ist, genossen wir ein Glas Süssmost frisch ab der Presse. Mhh, wie fein! Es war richtig wohltuend! Schliesslich traten wir den Heimweg an. An diesen Nachmittag werde ich mich sicher noch lange erinnern. Ich weiss, dass auf dem Juckerhof auch ein wunderschöner Weihnachtsmarkt stattfinden wird. Meine Freundin vom Gemüsemarkt Bülach teilte mir kürzlich mit, dass in Seegräben wieder die Kürbisaustellung beginne. Kürbisse werden in Rafz in allen Farben, Sorten und Grössen angepflanzt. Spontan entschieden sich mein Mann und ich am Samstag, 21. September, nach Pfäffikon ZH zu fahren. Von dort wanderten wir gemütlich in ca. 45 Minuten nach Seegräben zum Juckerhof. Wir genossen die fantastische Aussicht auf den Pfäffikersee. Wir bewunderten auch die schönen Apfelanlagen. In Seegräben angelangt, konnten wir nur noch staunen über die Vielfalt der Kürbisse. Da sah man zum Beispiel ein geschnitztes Fass, in das die Kinder hinein durften um zu 7 Stimmengeber in der Provence von Kathrina Redmann stehen ein paar Leute mit Sammelbüchsen in der einen Hand, und Markenbogen in der anderen. Die Klebevignetten zeigen eine schreitende Figur mit weissem Stock. Schon spricht mich eine ältere, sehr sympathische Frau an, weil sie mein Interesse wahrgenommen hat. Es wird gesammelt für die ‘Bibliothèque Sonore de Apt en Luberon’. Also für die Hörbücherei von Apt im Luberon. Ziel ist die Erweiterung des Sortiments und dass sowohl Sehbehinderte als auch motorisch Behinderte gratis Hörbücher ausleihen können. Da sind wir natürlich grad mitten im Thema und die Frau freut sich sichtlich, dass sie nicht viel zu erklären braucht. «Dann sind sie also gewissermassen eine von uns», sagt sie, nachdem ich ihr von der Blindenbibliothek in Zürich erzählt habe, auch von unserer Zeitschrift Lichtblick. (Da ich mich bereits inoffiziell bei Maggie Gsell gemeldet habe, künftig jeweils die Texte auf mp3 zu lesen, darf ich ja wohl sagen ‘unsere’ Zeitschrift). Nach Einlage meiner Spende erhalte ich noch einen Infoprospekt und eine Marke zum Ankleben, damit ich nicht ein zweites Mal von Sammelnden angesprochen werde. Wie fast jeden Tag in unseren Ferien in der Provence besuchen wir einen der provenzalischen Märkte, die wöchentlich an einem bestimmten Tag in verschiedenen Dörfern und Städten stattfinden. Heute Samstag in Apt. Immer wieder begeistern uns die farbigen vielfältigen Auslagen auf den Ständen: Bunte Stoffe, Tischtücher, Servietten mit den traditionellen Medaillon-Mustern, daneben gepolsterte Bettdecken in dezenten Naturfarben von Weiss über Beige, manchmal durchsetzt mit gewobenen oder gedruckten Streifen, Blumengirlanden in Zartgrün und Rosatönen. Daneben ein Stand mit Landesprodukten: Lavendelhonig, Akazienhonig, Millefleurs, Tournesol (immer wieder fasziniert mich der französiche Name der Sonnenblume: Tournesol – zur Sonne drehen. Blindlings drehen diese Blumen, selber das Abbild einer Sonne, ihre Köpfe dem Licht entgegen mit dem Lauf des Tageslichtes). Wie muss der Honig schmecken, dem diese Lichtbewegung innewohnt! Essenzen von Lavendel, die verschiedenen Sorten mit der Bezeichnung Lavande und Lavandin. Bunte Stoffbeutelchen, gefüllt mit getrockneten Lavendelblüten werden noch monatelang duften im Kleiderschrank, wenn wir schon längst wieder in der winterlichen Schweiz sind, oder uns mit sanften wärmeerfüllten Bildern einschlafen lassen, denn Lavendel wirkt beruhigend. Wir biegen in die Seitengasse ein, da Nun geht’s weiter, vorbei am Trockenwurststand mit unglaublich vielen Variationen, alles zum Probieren fein geschnitten auf Holzbrettchen, die vor den entsprechenden aufge8 FREUNDESKREIS FÜR TAUBBLINDE Charme und aktivem, aber unaufdringlichem Engagement. Eine wahre Freude, so etwas auch in Frankreich zu erleben. häuften Würsten präsentiert werden: Sorten mit Haselnüssen, Oliven, Wildschwein, Ente, Knoblauch. Nun die vielen Oliven, provenzalische, griechische, gefüllte, entkernte, schwarze, grüne, nature oder gemischt mit Provencekräutern, Knoblauch, Peperoni, Petersilie. «Versuchen Sie die besonders feine Sorte von Nyons, capitale de l’olive, unsere Hauptstadt der Oliven!» Ich ziehe meinen kleinen Prospekt aus der Handtasche und lese, dass die Sammlung veranstaltet wird von der ‘Association des Donneurs de Voix’ – genau übersetzt: Vereinigung der Stimme Schenkenden. Die Stimme geben, welch schöne und wichtige Aufgabe! Ich freue mich schon, bis ich das erste Mal dem Lichtpunkt meine Stimme schenken darf. Kathrina Redmann, en Provence, 5. Oktober 2013 Nun sind wir reif für einen Kaffee und setzen uns unters Dach des Restaurants an der Ecke. Von hier aus haben wir den Überblick in zwei Richtungen. Wir schlürfen den starken Kaffee aus dem kleinen Tässchen – notabene für 1.30 Euro – und lassen wie einen life-Film die unterschiedlichsten Leute an uns vorbei ziehen: Zwei alte Frauen, die ihre Taschen abstellen und für einen Schwatz stehen bleiben, junge Mütter mit Kindern, Verliebte, Einheimische und Touristen, die alten Blumenhändler, die grad eine mit Schinken gefüllte Baguette verzehren, aber trotzdem nicht versäumen, zwischen zwei Bissen alte Stammkundinnen küssend zu begrüssen links und rechts auf die Wangen, ob sie nun einen Strauss kaufen oder nicht. An der Ecke vorne links palavern zwei ältere Araber, und nun schreiten auch zwei der sammelnden Frauen vorbei, sprechen die Standbesitzer und andere Leute an, erklären, worum es geht bei der Bibliothèque Sonore. Sie tun es mit 9 Wenn Pietro Londino mit der Zunge schnalzt, antwortet die Welt von Antonietta Fabrizio populär. Er erkennt eine daumendicke Stange auf einen Meter, einen Hydranten auf drei, ein Auto auf fünf und ein grosses Gebäude bereits aus fünfzig oder gar hundert Metern, wenn er es laut genug anschnalzt. Kish fährt im Gelände Mountainbike und orientiert sich mittels Echoortung. «Theoretisch ist alles möglich,» fährt Pietro fort, «ich würde aber nie etwas tun, bei dem ich willentlich mich oder andere gefährde. Obschon ich den Reiz vom Mountainbike fahren im Gelände sehe.» Vom Klang der Bäume und des Maschendrahts Wenn Pietro Londino mit der Zunge schnalzt, antwortet die Welt. Hausfassaden, Autos, Bäume und Baustellen nehmen Gestalt an und eröffnen sich seinen blinden Augen mit präziser Genauigkeit. Pietro macht von derselben Ortungstechnik Gebrauch, wie die Fledermäuse. Diese benutzen Rufe, um eine dreidimensionale Karte ihrer Umgebung zu erstellen und schliessen daraus auf ihre Umgebung. Fledermäuse schätzen die Entfernung eines Gegenstandes ab, indem sie feststellen, wie lange der Klang braucht, um zurückzukehren. Pietro Londino ist blind und kann das auch. Er weiss nicht genau, wann und wie er die Klicksonartechnik, auch Echoortung genannt, gelernt hat. Sie habe sich automatisch entwickelt. «Bereits als Kind kurvte ich mit dem Fahrrad auf dem Pausenplatz der Blindenschule um die Häuser und orientierte mich am Klicken.» Von den 85 Kindern, die damals mit zur Schule gingen, erinnert er sich an einen einzigen Buben, der die Technik auch anwendete. Doch die Tatsache, dass die Echoortung heute weltweit als Weiterbildung angeboten wird, weist auf einen Trend hin. Die Klicksonartechnik erweitert Pietros Wahrnehmung. Sie ersetzt den Weissen Stock zwar nicht, verlängert ihn aber um ein Vielfaches. Er klickt und stellt fest, wie gross der Raum ist, in dem er steht. Er orientiert sich aber auch mit dem Weissen Stock am Trottoir, damit er nicht einknickt und benutzt auch dessen Lärm, um in einer Unterführung die Distanz zur Wand zu orten. «Manchmal sind Leute erstaunt, mit welcher Leichtigkeit ich mich bewege und orientiere. Das alles aufs Klicken zurückzuführen, wäre aber nicht richtig.» Alles was uns umgibt, trägt eine eigene akustische Unterschrift. Einen Baum erkennt man daran, dass der Strunk ein anderes Echo zurückwirft, als die blätterhaltige Krone. Kish sagt, dass jeder Gegenstand je nach Der blinde Amerikaner Daniel Kish analysierte die Klicksonartechnik sys- Fläche und Beschaffenheit einen spezifischen Hall zurückwirft. Etwas tematisch und machte sie weltweit 10 FREUNDESKREIS FÜR TAUBBLINDE Glattes klingt also anders, als etwas Raues. Kanadische Forscher haben mittels Magnetresonanztomographie die Hirnaktivität von Testpersonen untersucht und festgestellt, dass die Echoortung den visuellen Kortex anspricht, also den Bereich, mit dem das Sehen verknüpft ist. Das Gehirn der Testpersonen trennte die Geräusche in zwei Kategorien und gab sie an zwei unterschiedliche Hirnregionen weiter. Das, was auch sehende Personen bewusst hören, kam in den Hörbereich des Gehirns und die davon abgetrennten Echos direkt in den Sehbereich des Gehirns. dius.» Wenn es aber auf seinem Weg sehr laut zu und her geht, wie etwa bei Baustellen, stösst er an seine Grenzen. «Da sind haptische Menschen besser dran. Ich bleibe da schon mal stehen und sage, ich sehe vor lauter Krach nichts mehr.» (Artikel aus tactuel 4/2013, die Fachzeitschrift für das Blinden-, Taubblinden- und Sehbehindertenwesen – www.tactuel.ch) Um zu sehen, verlassen sich auditive blinde Menschen auf ihr Gehör. Zu diesen Menschen zählt auch Pietro. «Ich kann mehr erfassen und habe den grösseren Ra- Zahnwale und Delfine bedienen sich der EchoOrtung, um in trüben und dunkeln Gewässern zu navigieren und zu jagen. Foto: Wei-Chuan Liu 11 «Denk daran, du bist doch in New York!» von Doris Herrmann (Statt unsere eigentlichen Namen zu verwenden, bezeichne ich mich als Riesenkänguru und meine beiden Freundinnen, die mich auf dieser Reise nach New York begleitet haben, sind die Bergkängurus.) ins Herz der Stadt, zum Time Square. Der bewölkte Himmel ragte hoch über den Stahlbetonkolossen aus glitzernden Fenstern. Am Ziel angekommen begaben wir uns in die grosse Eingangshalle unseres Hotels. Kurz darauf schleppten wir das Gepäck in den Lift und fuhren in die 15. Etage. Dort fanden wir für uns drei ein völlig verborgenes Plätzchen zum Wohlfühlen – eines von über 1500 verfügbaren Zimmern. Aus unserem Fenster genossen wir den Blick auf den Hudson River und die untergehende Sonne. Vom ersten Abend an begann unser Erleben der Stadt bei ziemlich warmen Maitagen. Auf dem breiten Broadway und den vielen gerade verlaufenden Strassen mit vielen Schaufenstern, Imbisslokalen, flimmernden Reklamewänden und vielem mehr machte es in Wirklichkeit wenig Sinn zu flanieren. Jedes Mal, wenn eine von beiden mich unvermittelt im Zickzack führte oder leise puffte, knurrte ich halb erbost. Dann lormte mir jeweils eine besänftigend: «Du bist in NY!» Jawohl, das heisst, in New York hätte man kaum länger als 5 Sekunden mit dem Hinterkopf auf den Schultern ruhend die an Wolken kratzenden Enden der machtvollen Kolosse betrachten können. Schon wieder das Puffen, Stossen und Rammen der vorbei rasenden Menschen. Immer wieder rasch ausweichen, fast bis zum Umfallen, denn die Gehsteige Ankunft in New York (NY): Rasch kamen wir aus den unüberschaubaren, riesigen Hallen und Durchgängen des Flughafens heraus, ich als Riesenkänguru im Rollstuhl, geschoben von zwei Bergkängurus. Eine von beiden fasste schnell meine Hand und presste eine Fingerbeere auf das Papier – das war der Fingerabdruck, und jetzt war ich mit den beiden draussen im Lande der Menschen mit Federn auf den Köpfen. Dank des von uns angeforderten Hilfsdiensts mit dem Rollstuhl – obwohl ich eigentlich normale Fussgängerin bin – schafften wir es in knapp 40 Minuten durch den Zoll, statt über 2 Stunden in drückender Luft und endlosen Menschenschlangen zu warten. Begleitet von gut vibrierender Beethovenmusik fuhr uns der russische Taxifahrer rasant 12 FREUNDESKREIS FÜR TAUBBLINDE enden wollenden Treppenstufen hoch, bis sie im 102ten Stockwerk total abgeschlagen und fast ohne Luft vor verschlossenen Türen steht. Nicht so erging es uns. Jetzt standen wir in der hohen Empfangshalle zwischen den Menschenmassen. Werden wir in den Lift hineingepfercht? Nein, ein kluges Bergkänguru schlängelte geschickt zum Billetschalter, fragte nach Möglichkeiten für Behinderte. Grosses Glück für uns, bequem per Expresslift geschwind bis zum 86ten Stockwerk rauf zu sausen. Oben schlendern wir bei herrlichem Sonnenschein rundherum. So hoch war genug, um über alle flachen Dächer der Skyscraper (Wolkenkratzer) bis zur Miss Liberty (Freiheitsstatue) und weiter in die Runde zum unübersehbar grün bewaldeten Central-Park zu schauen. In tiefen – teilweise baumreichen – Strassenschluchten sieht man die vielen Menschen wie rasende Käfer, dazwischen auch Taxis, Yellow Cabs genannt. Auf Postkarten sieht man das unglaubhaft monumentale Gebäude mitsamt nadelartigem Antennenturm mit seinen 381 m Höhe, wie es über die ganze Stadt in den Himmel ragt. Es wurde 1931 knapp neun Monate lang gebaut. Es waren uneben, an manchen Stellen sogar wie holprige Felsenwege. Nicht nur Sehbehinderte, sondern selbst Gutsehende mussten sich enorm konzentrieren beim Gehen. Kaum eine andere Stadt ist so überfüllt wie New York von ameisenartigen Wesen, die immer hektisch nach etwelchen Zielen oder nirgends wohin strebten. Für uns drei eine völlig andere und aussergewöhnliche Welt der ständig verstopften Strassen und Gehsteige mit immer wiederkehrendem Sirenengeheul. Selbst klare Zebrastreifen nutzen wenig. Immer wieder stoppten wir abrupt vor dem Überqueren, bevor die vielen blechernen Bären mit lärmendem Gebrumm und nicht zuletzt die Riesenalligatoren mit nach oben scheinwerfenden Augen und mit breiten Mäulern unsere Beine abscheren konnten. Immer wieder brummte ich erregt, dann lormte mir das Bergkänguru: «Denk doch, so ist es in NY…». Tatsächlich, vom ersten abendlichen Abstecher hatten wir den Eindruck, diese Millionenstadt gehöre in eine ganz andere Welt. Bei jedem Schritt gab es viel zu entdecken. Einmal vor dem Eingangstor des Empire State Building liest die kluge Ratte auf der Tafel, es sei oben geschlossen. Sie dreht sich um und schwelgt weiter, entlang vieler eleganter Modehäusern. Die dumme Maus aber rennt schnurstracks hinein und springt die ewig nicht 13 brauchte 10 Millionen Ziegelsteine und 60'000 Tonnen Stahl. Wieder unten, wehte ein herrlicher Wind, gerade zur Lunchpause in einem asiatischen Schnellimbiss. Musikalische Harmonie von Beethoven begleitete uns beim ausserordentlich schmackhaft und frisch gekochten Essen. Danach liefen wir zur Central Station, dem wunderbaren Jugendstilbahnhof in die irdische Tiefe. Alles dunkel in der sehr weiten Halle, schön geteert mit vielen Geleisen, aber ganz leer. Wo sind die Züge? Vielleicht noch tiefer unten versteckt, wo die Teufel vergnüglich in vielen Höhlen herumreisen? Wir spazierten gemütlich entlang vieler Läden. Für den Abend hatten wir Karten für das Broadway Musical Mary Poppins. Vorher erhielt ich beim Asiaten einen schönen roten Luftballon, um die musikalische Vibrationen gut aufnehmen zu können. Leider durfte ich ihn aber nicht mit hinein nehmen, aus Sicherheitsgründen: Mary Poppins könnte sich darin verfangen, wenn sie im Schlussakt fortfliegt in den weiten Himmel. Ich hätte ihn ohnehin nicht gebraucht, da ich während der Vorstellung selig schlummerte. Am folgenden Tag war unser aufregendster Höhepunkt der Besuch der Freiheitsstatue. Vor vielen Jahrzehnten las ich, wie man im Inneren der Dame hinaufsteigen oder auch mit dem Lift fahren könne, vorauf ich mich schon freute. Wir erreichten Liberty Island (die Insel mit der Freiheitsstatue) per Schiff – es war schon Mittagszeit. Die Erfüllung meines Wunsches blieb aus: rund um den Sockel war alles abgesperrt. Statt Warteschlangen standen viele Laster herum. Alles war zur Baustelle umfunktioniert! Ob die liebe Dame wohl chronischkrank ist, muss sie sich jahrelang unzähligen schwierigen Operationen unterziehen? Mit vielen Touristen spazierten wir gemächlich entlang des Ufers, suchten eine Bank unter schattigen Bäumen auf und assen Bananen. Bei grellem Sonnenschein blickte ich hinauf. Ich sah klar, dass meine Sehkraft noch gut reichte, um die bodenlange Toga der Freiheitsstatue zu sehen, die im Wind flatterte. Nein, es ist eine optische Täuschung, denn alles ist aus Beton. Beim Betrachten verfiel ich in einen Traum: wir laufen unter dem Rocksaum hindurch zum Lift bei den Füssen, fahren geschwind hinauf zur Rachenhöhle. Wir bewegen uns langsam zwischen den Zähnen und 14 FREUNDESKREIS FÜR TAUBBLINDE endlich gewundenen Wendeltreppen. Glücklicherweise sind die Düfte herrlich würzig wie im Bergwald. Am Ende erreichen wir den Lift, der uns nach unten zur Plattform bringt. Wir sind wieder zurück an Land, an der Südspitze Manhattans im Battery Park mit seinen vielen Bäumen. Bei ziemlicher Hitze wanderten wir auf einem breiten Weg, gesäumt von vielen Sträuchern und duftender Zunge, die wie ein rosa glitzern- den Blumen. «Da beginnt jetzt der Betonhügel da lag. Die Gaumen- Broadway!» lormte mir ein Bergkändecke ist sanft erhellt durch unzähguru nach der kurzen Strecke durch lige winzige Birnen. Die Sonne den Park. Von da an führt die weltstrahlt kräftig durch den halboffeberühmte Strasse Broadway durch nen Mund. Von da aus sehen wir das die 20 km lange Insel Manhattan, ruhige Meer, auf dem die Schiffe vorbei an 60 grossen und unzählivorbei fahren. Einige Zähne sind ge- gen kleinen Theatern, in denen dafüllt mit goldenen Plomben – aha, mals unter anderem Audrey Hepwie kam Miss Liberty zum Zahnarzt? burn, Marilyn Monroe und Marlene Zurück in die Rachenhöhle und eine Dietrich tanzten. Auch am Time schmale Treppe hoch zu den Nasen- Square, in dessen Nähe unser Hotel löchern: hui, unsere Haare wirbeln liegt, führt der Broadway vorbei. Bis vom Durchzug der ein- und ausströ- zu unserem Unterschlupf hätten wir menden Atemluft, verursacht von mehr als einen halben Tag zu Fuss, elektrischen Motoren. Trotzdem ge- deshalb nahmen wir das Taxi. lingt es uns, durch das Nasenloch hinunter zur Plattform und dem Anmerkungen für Neugierde: Der Wasser zu schauen. Bei der langBroadway ist die älteste Haupt- und samen Fahrt mit dem Lift hinunter, Geschäftsstrasse, die zum Teil aus bekommen wir die pochenden Herz- einem alten Indianerpfad hervorschläge zu hören. Wir landen in der ging und durch Wälder und Wildnis grossen Bar, essen feine Sandwiches führte. Wer mehr zu deren Geoder Pizzas, trinken Kaffee, Bier schichte wissen möchte, gibt bei oder Coca Cola. Wir bedienen uns Google ‘Broadway’ (Manhattan) ein. selber im Leber-Raum der voller Me- Ich wünsche allen eine spannende tallfässern und auch Weinfässern ist! ‘Surf-Reise’. Erfrischt rattern wir durch die un(Fortsetzung in Lichtpunkt 1-2014) 15 Jubiläumsausflug ‘tactile’ 2013 von Christine Müller dem Busbahnhof Zürich zusteuerten. Einen kurzen Moment dachte ich, dass ich in meiner taubblinden Informationseinschränkung die Weltneuheit eines Neigebusses versäumt hätte. Es war keine Weltneuheit, sondern der Defekt an unserem Reisecar. Nach und nach sammelte sich die tactile-Reisegruppe im wärmenden Carinneren. Mit Geduld und Verständnis für den überraschenden Unser 15. tactile-Jubiläumsjahr verlangte einen speziellen Ausflug. Aus Zwischenfall warteten Mann und Frau auf den weiteren Verlauf. Der den eingegangenen Ideenvorschlägen wählte der Vorstand den Besuch heisse Info- und Beratungsdraht via Handy zwischen den Teilnehmerim Blindenmuseum in Sitten. gruppen in Zofingen, Bern, Zürich Suzanne Kunz, unser neues Vorstandsmitglied übernahm die Orga- und dem Verantwortlichen der CarAG Gautschi brachte eine halbe nisation dieser Festveranstaltung Stunde nach regulärer Abfahrtszeit und führte diese mit bestem Erfolg den Entschluss: Unser Ausflugsproaus. Obwohl der Weg für viele ins schöne gramm bleibt erhalten. Mit dem Ersatz-Car zielen wir Sitten an. In der Wallis kein kurzer war, nahmen 24 Personen die Chance für die gemein- entstandenen Wartezeit genossen wir unsere vorgezogene Cafe-Pause. same Kunstwahrnehmung in blinUnser neuer Chauffeur drehte um dengerechter Art wahr. zirka neun Uhr den Startschlüssel Rolf Signer und seine Frau Ruth bewiesen mit ihrer Teilnahme ehrwür- des Reisebusses, ohne Linksneigung, digste Vereinstreue. Beide wären an womit wir in ungescholtener Freude diesem Tag zu einem Firmenausflug die Reise begannen. «Mein z’Morge wird wohl am Abend, bei meiner nach Kroatien mit einem Flug über Rückkehr in die Wohnung noch auf den Wolken eingeladen gewesen. Ihre Wahl für unsere tactile-Gemein- dem Küchentisch auf mich warten», meint der Fahrer schmunzelnd. schaft erhielt grosse Hochachtung. Wegen der Panne am ersten Car, Für besondere Überraschungen war wurde er notfallmässig zum Fahren aufgerufen. auf der Anreise bestens gesorgt. „Unser Car ist ganz nach links geneigt.“, meldete mir meine Begleite- Wer meint, eine mehrstündige Reise rin, als wir zur ersten Einsteigestelle, im Car als hörseh-eingeschränkter Im fünfzehnten Bestehungsjahr unternahm die Selbsthilfevereinigung hörsehbehinderter und taubblinder Menschen, tactile-Deutschschweiz, am 19. Oktober 2013 einen Ausflug in das Blindenmuseum in Sitten. Für den grossen Reiseaufwand wurden die Teilnehmenden mit imposanter taktiler Kunstwahrnehmung und einem frohen Miteinander belohnt. 16 FREUNDESKREIS FÜR TAUBBLINDE von uns stark höreingeschränkten Menschen die verbale Kommunikation. Mit unserer Anzahl von 26 hungrigen Mäulern und nicht zwanzig, wie vom Servierpersonal angenommen, lag diesmal die Überraschung auf ihrer Seite. Schnell wurden zusätzliche Tische und Stühle aufgestellt, was uns noch taktiler zusammenrücken liess. Wir genossen feines Essen und herzliche Gastfreundschaft. Eine Servierfrau drückte ihre Bewunderung und Freude an unserer Gruppe mit den Nach Bern waren wir Jubiläumsausflügler alle zusammen. Nachdem uns Worten aus, «vous êtes extraordinaire» (Ihr seid aussergewöhnlich). Anita Rothenbühler herzlich willNur wenige Meter auf dem mittelkommen geheissen hatte, trat eine neue Überraschung auf: Rolf Signer. alterlichen Steinboden steil hinauf führten uns mit vollen Bäuchen Nicht er selbst am Mikrophon und seine nette Frau Ruth an seiner Seite direkt in das Kunstmuseum, das in zwei Schlossanlagen beherbergt ist. war der überraschende Effekt. Sie beschenkten uns mit Schildkappen, bestickt mit dem Original-Schriftzug, Berühren-Sehen Die Idee, Kunstwerke seheingetactile. Bekäppelt zeigten wir unseschränkten Menschen in betastbarer ren Dank durch einen grossen ApArt zugänglich zu machen, wurde plaus. Vielleicht begleitete uns aufgrund dieser grosszügigen Geste mit Hilfe des SBV, Schweizer Blinden- und Sehbehinderten-Verband, die Sonne durch den ganzen Tag. vor einigen Jahren umgesetzt. Die Im Herzen der Altstadt von Sion Kunstproduktion mit Bezug zum Wallis bilden die Schwerpunkte der Nicht allzu stark verspätet kamen Sammlung. Flache Bilder verwanwir im Café des Châteaux in Sion deln sich, zum Beispiel zu einem an. Catrin Hutter, Präsidentin von Kunst-Ertasten mit Holzskulptur, MeGERSAM und Christian Bulliard tallblättern und Modellen in den waren wie vorangekündigt zu uns Händen. gestossen. Zwischen den Führungsangeboten Die alte Wirtschaft wirkte urchig von der technischen Einrichtung, und heimelig. Jedoch durch die audio-guides und ausgebildeten Perniedrige und schmale Räumlichkeit sonen, wählten wir eine sehr zuvorstahl die gepresste Akustik einigen Mensch sei langweilig, irrt sich. Die Landschaftsbeschreibungen unserer sehenden Begleitpersonen liessen die farblosen Fensterausblicke bunt werden. Trotz wackligen Schritten im fahrenden Car kamen wir, gestützt von stabilisierenden Begleitern, aufeinander zu, begrüssten uns und hielten kurz oder länger Austausch – ob via FM-Anlage, Lormen, Gebärden, oder in herzhaften Umarmungen. 17 muskulären Nachfolgen. kommende, freundliche Führerin. Ihre laute, klare Sprache liess uns ihre Mein persönliches Spitzen-Bild beZusatzinformationen gut verstehen. fand sich in der Turmspitze, ein riesengrosses handgefertigtes Gobelin-Bild, das einen Tunnelbau Der Geruch und die Mauerstruktudarstellt. Vierzig Personen, die an ren, sowie die schweren Türen mit den überdimensionalen Handgriffen diesem Bauwerk mitarbeiteten, kreierten in Einzelarbeiten das ganze des Schlosses verrieten ihr hohes Kunstwerk. Uns SpezialwahrnehAlter. mern diente ein detailliert konstruDas erste Naturbild aus der Romantik zeigte optischen Kunstbesuchern iertes Modell zu ‘berührtem Sehen’. ein enges Tal mit einer Brücke, Müde und glücklich hohen Felswänden und kleinen Nach zirka neunzig Minuten KunstMenschengestalten am Talboden. erfahren waren unsere Finger voller Es lag uns taktilen Bildbetrachtern/innen als Holzskulp- neuer Eindrücke und eine Art Bildergalerie hatte sich bei einigen von tur regelrecht in den Händen. Wie uns im dritten Auge gesammelt. Ich zwei gegenüberstehende Gesichter denke nicht nur ich war glücklich, fühlten sich die massiven Felsvormich im breiten Carsitz niederzulassprünge an. Die Proportion zu den sen, als auch die kognitive Anstrenkleinen Menschenfiguren wurde gung loszulassen. spürbar. Das entstandene innere Bild, zusammen mit den Informatio- Das schoggige, spielerische G’schenkli von Anita Rothenbühler an jeden nen des Künstlers und der Entstevon uns erregte wiederum Aufmerkhungszeit war fantastisch. Als einst samkeit. Ein kleiner, vierseitiger sehende Kunstliebhaberin getraue Surrli, wie die Luzerner den Kreisel ich mich zu sagen, dass qualitativ nennen, entscheidet in der Spielgutes taktiles Kunstwahrnehmen eindrücklicher sein kann, als nur ein runde, wer Schokolädli zu geben, oder zu nehmen hat. Blick. Nicht nur für dieses Beschenken So erlebten wir vier Bilder, auf drei Etagen, jedes in einer anderen drei- wurde ihr herzlichst jubiliert. Ihre jahrelange Arbeit für die Gründung dimensionalen Form. und das Aktivieren unseres Selbsthilfevereines, auch ihr unumstösslicher Wer sich die Wege durch das grossGlaube an alle umgesetzten Proräumige Schloss gemütlich machen jekte, erhielt Wertschätzung in einiwollte, wählte den Lift. Wer, so wie gen Worten von mir und ganz sicher ich, den mittelalterlichen Baustil in herzlicher Gesinnung von allen durch zahlreiche Treppen erlaufen wollte, durfte ihn spüren, - auch die tactile-Mitgliedern. 18 FREUNDESKREIS FÜR TAUBBLINDE Der grosse Reiseaufwand hatte sich gelohnt. Anita setzte ihre Energien noch für eine persönliche feedbackRunde ein. Das Resultat ist sehr stark und positiv. Niemand bereute die Teilnahme, und man war mit der Länge und Wahl der Kunstwerke verschiedener Kunstrichtungen weitgehend zufrieden. Verschiedene Strukturgebungen der Materialien brächte eine taktile Farbvorstellung, schlug ich vor. Zuerst das Erfühlen und erst dann Informationen dazu zu erhalten, war eine andere Idee. Grundsätzlich war dieser Tag für jeden von uns ‚tactilios’ eine grosse Bereicherung. Unser aller Dank galt den Mit- arbeitenden an diesem Projekt, seheingeschränkten Menschen ebenfalls Kunsterfahrungen zu schenken. Auch die letzte Überraschung fand ihr gutes Ende. Plötzlich wurde es sehr laut im Car. Einige von uns riefen aus voller Kehle, der Fahrer soll sofort stoppen! Fast hätten wir Ursi Weiss, begleitende Kommunikationsassistentin von Anita Rothenbühler auf der Strecke gelassen. Sie begleitete Anita aus dem Car. Dass sie noch weiter bis Zürich mitfahren wollte, wusste unser Chauffeur eben nicht. So kamen wir schliesslich alle gut heim, und die Erinnerungen werden lange lebendig sein. 19 FREUNDESKREIS FÜR TAUBBLINDE IMPRESSUM Redaktion: Ernst Lacher, Bergstrasse 15, 8805 Richterswil 044 554.63.64 Maria-Theresia Müller, Zugerstr. 16, 5620 Bremgarten 056 633.30.19 Maggie Gsell, SZB, Niederlenzer Kirchweg 1, Gleis 1, 5600 Lenzburg 062 888.28.68 CD: Kathrina Redmann, Oberheischerstrasse 17, 8915 Hausen a/A 044 764.06.84 Braille: SBS, Schweiz. Bibliothek für Blinde und Sehbehinderte, Grubenstrasse 12, 8045 Zürich 043 333.32.32 Druck: Versand: Druckerei Kälin AG, 8400 Einsiedeln 055 418.90.70 Ursula Lüscher, Müselstrasse 5, 5417 Untersiggenthal 056 288.25.23 Auflage: 1380 Ex. Schwarzschrift 19 Ex. Braille 19 CDs Beiträge: Schwarzschrift an Ernst Lacher: [email protected] Braille an Maria-Theresia Müller: [email protected] Der «Lichtpunkt» erscheint 3 x jährlich: April / August / Dezember Adressänderungen: Maggie Gsell, SZB, Niederlenzer Kirchweg 1, Gleis 1, 5600 Lenzburg, E-mail: [email protected] Redaktionsschluss für Lichtpunkt 1/2014: 30. Januar 2014 Adressen-Verzeichnis Vorstand Freundeskreis für Taubblinde Grossmann Eveline, Präsidentin, Kranichweg 21 3074 Muri BE 031 951.80.65 Frey Beatrice, Moosstrasse 20 3073 Gümligen 031 951.43.77 Gsell Maggie, SZB, Niederl.Kirchweg1, Gleis1 5600 Lenzburg 062 888.28.68 Haldemann Bruno, Kranichweg 15/27 3074 Muri BE 031 951.61.68 Lacher Ernst, Bergstrasse 15 8805 Richterswil 044 554.63.64 Lüscher Ursula, Müselstrasse 5 5417 Untersiggenthal 056 288.25.23 Voser Roswith, Grossmattweg 18 5507 Mellingen 079 237.50.18 Unsere Internetseite: www.blindundtaub.ch Spendenkonto 30-9836-0 Herzlichen Dank! 20
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