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Lichtpunkt
3/2013
FREUNDESKREIS
FÜR TAUBBLINDE
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Neue Stimme für den Lichtpunkt / Kathrina Redmann
Bewilligte Gesuche / Maggie Gsell
Ein Geschenk des Lebens / Erika Salome Hegetschweiler
Ein herzliches Dankeschön an Hans Jörg Gygli / Maggie Gsell
Weihnachten / Erika Salome Hegetschweiler
Die Entwicklung der Abteilung Animation / Maria-Theresia Müller
Kürbisausstellung in Seegräben Juckerhof / Heidi Peyer-Michlig
Stimmengeber in der Provence / Kathrina Redmann
Wenn Pietro Londino mit der Zunge schnalzt, antwortet die Welt /
Antonietta Fabrizio
«Denk daran, du bist doch in New York!» / Doris Herrmann
Jubiläumsausflug ‘tactile’ 2013 / Christine Müller
Impressum
Karikaturen von Fred Grob, Baden
Titelbild Kirche von Sent, Unterengadin,
Foto Ernst Lacher
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FREUNDESKREIS
FÜR TAUBBLINDE
Neue Stimme für den
Lichtpunkt
das Ereignis jahrelang zurück liegt,
ist es noch in lebendiger Erinnerung
und natürlich nun durch mein zukünftiges Engagement beim Freundeskreis für Taubblinde wieder
aktuell geworden. Ich war nachhaltig
beeindruckt von den guten Begegnungen und den bewundernswerten
Teilnehmerinnen und Teilnehmern
des Kurses, von ihrer Begeisterungsfähigkeit und Sensibilität.
Als ich dann den letzten Lichtpunkt
und insbesondere den Dank der Präsidentin an Fridel Born las, dachte
ich, dass die Aufgabe, die Zeitschrift
auf Tonträger zu lesen, vakant wird.
Ich fühlte mich angesprochen. Das
wäre eine Idee! Genau für mich,
denn Vorlesen ist eine meiner Lieblingsbeschäftigungen, nicht nur bei
Autorenlesungen meiner eigenen
Bücher. Schnell teilte ich die Idee
Maggie Gsell mit, denn unser langjähriger Kontakt blieb auch erhalten,
nachdem die Taubblinden-Beratung
die Cramerstrasse 1995 verlassen
hatte. Maggie war sofort begeistert,
sodass ich mich so richtig willkommen fühle bei euch. Gerne gebe ich
den interessanten Artikeln meine
Stimme und freue mich schon auf
den ersten Einsatz.
Kathrina Redmann, geb. 1946 in
Horgen. Verheiratet, eine Tochter,
eine Enkelin und ein Enkel. Primarlehrerin, Zeichenlehrerin, Autorin.
Seit 1995 unterrichte ich Arabisch
an meiner Privatschule ArabiKalam
in Zürich. Dort lernte ich, damals
Sekretärin bei den Anonymen
Alkoholikern, an der Cramerstrasse
Maggie Gsell kennen und kam
durch sie mit der SZB TaubblindenBeratung und ihren vielfältigen
anspruchsvollen Themen in Berührung.
Im Jahre 1996 las ich in Magliaso
aus meinem Buch Sindbadas erste
Reise. Geschichten aus Kairo. Das
Thema des Ferienkurses für hörsehbehinderte und taubblinde Menschen war Orient. Mein Mann Peter
Schutzbach organisierte einen
orientalischen Bazar mit duftenden
Gewürzen, und die Bauchtänzerin
Liliana bereicherte den Anlass mit
Musik und anmutigen Bewegungen.
Wir alle waren verkleidet wie in
tausend und einer Nacht. Obwohl
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Bewilligte Gesuche
Ein herzliches Dankeschön an Hans Jörg Gygli
Nachdem Fridel Born dem Vorstand
des Freundeskreises bekanntgegeben hat, er wolle seine Aufgabe,
den Lichtpunkt auf CD zu sprechen
aufgeben, haben wir lange überlegt
und gesucht, wer diese wichtige
und intensive Aufgabe übernehmen
könnte.
Ich engagiere mich im Kellertheater
Bremgarten und kenne daher einige
sehr erfahrene ‘Laien’-Schauspielerinnen und -Schauspieler. Dazu gehört auch Hans Jörg Gygli, der
schon in etlichen Produktionen die
Hauptrolle inne hatte und das Publikum begeisterte. Er wird auch
immer wieder für Lesungen angefragt und hat entsprechend viel Erfahrung. Deshalb fragte ich ihn als
neuen Sprecher für den Lichtpunkt
an, im Wissen, dass Hans Jörg vielseitig engagiert ist. Er hat trotzdem
zugesagt und wir waren im Vorstand heilfroh darüber!
Seit Sommer 2010 hat Hans Jörg mit
viel Engagement den Lichtpunkt auf
CD gesprochen.
Durch einen Zufall meldete sich Kathrina Redmann bei mir als neue
Sprecherin. Sie möchte sich dazu
auch gerne im Vorstand engagieren.
Da haben wir tatsächlich eine Lücke
und sind dankbar für das Angebot
von Kathrina.
Ich hoffe, Hans Jörg geniesst die frei
gewordene Zeit wieder in vollen
Zügen. Im Namen des Vorstandes
vom Freundeskreis danke ich ihm
ganz herzlich für seinen wertvollen
und grossen Einsatz. Maggie Gsell
Ihre grosszügigen Spenden ermöglichen es dem Freundeskreis, auch
grosszügig Gesuche von hörsehbehinderten und taubblinden Menschen zu behandeln:
Im Oktober wurden Beiträge von
insgesamt Fr. 6'500.– bewilligt
- für einen Beitrag ans GA
- für die Anpassung eines Hörgerätes
- für einen Beitrag an einen Computer
- für verschiedene EDV-Kurse, die
bereits erfolgreich absolviert wurden.
Dies sind kostbare Lichtblicke im
Leben von betroffenen Menschen.
Herzlichen Dank für Ihre Spenden!
Maggie Gsell
Ein Geschenk des Lebens
von Erika Salome Hegetschweiler
Alles geht vorüber,
alles geht vorbei.
Ob es schön und herzlich
oder schmerzlich,
eines bleibt bestehen
und ist ewig jung,
als Geschenk des Lebens
– die Erinnerung!
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FREUNDESKREIS
FÜR TAUBBLINDE
Weihnachten
von Erika Salome Hegetschweiler
wahrte. «Wozu eigentlich?» fragte
ich mich und entschloss mich gleichzeitig, meinen Schatz zusammen mit
dem Geld den Kindern im Pestalozzi-Dorf zu schenken.
Gespannt warteten wir auf das
Echo. Kurz vor Weihnachten brachte
der Pöstler einen Stapel voller Karten und Briefe vorbei. Jedes Kind
schrieb, was es vom Christkind erhalten hatte. Einen Puppenwagen, ein
Kasperli-Theater, Schlittschuhe,
einen Leder-Fussball, einen Teddybär
usw. Äussert rührend waren die
naiven Zeichnungen und die grosse
Dankbarkeit der Kinder. Aus den
vielen Karten und Briefen machte
ich eine endlose Girlande und
schlang diese um den Christbaum.
Advent – die Zeit der Erinnerung
an die Kindheitstage…
Advent – die Zeit, wo Herzenswünsche in Erfüllung gehen…
Die Kleinen schreiben ein Brieflein
ans Christkind: «Lieber Engel,
schenk mir doch bitte, bitte die
grosse Puppe. Ich verspreche Dir
dafür, mit Mami recht lieb und brav
zu sein.»
Meine Eltern luden zu diesem Fest
zwei Matrosen der Kriegsmarine aus
dem nahe gelegenen Lazarett ein.
Toni und Fredi verliebten sich
prompt in die zwei Mädchen –
meine Schwester Edith und ihre
Freundin Ella. Später wurde sogar
der Bund fürs Leben geschlossen.
Dazwischen gab's einen guten Gewinn an der Börse. Um dem hohen
Steuerfuss auszuweichen, musste
eine Schenkung deklariert werden.
Aber an wen? Bald wurde die Lösung gefunden: das PestalozziKinderdorf in Trogen. Bekannte und
Verwandte legten auch noch etwas
dazu. So wurde daraus ein ansehnliches Sümmchen.
Mir kam noch eine Idee: Ich sammelte seit Jahren schöne Künstlerpuppen, welche ich im Keller in
einer grossen Holztruhe aufbe-
Dann kam Heiligabend: Im Haus verbreitete sich ein herrlicher Duft von
Weihnachtsguetzli, Mandarinen und
Mandeln. Im Garten glitzerte der
Schnee auf den hohen Tannen im
fahlen Licht einer Laterne. Durch die
geöffnete Terrassentüre drang ein
leichter Luftzug und wehte sanft
durch den Christbaum. Die Botschaften der Kinder bewegten sich. Die
Figuren, die sie angefertigt hatten –
Sterne, Schneemännchen, Engel –
wurden allesamt lebendig und fingen an zu tanzen. Wunderschön
waren diese liebevollen Grüsse aus
der heilen Welt der jungen Menschen aus dem Pestalozzi-Dorf.
«Oh du fröhliche, oh du selige Weihnachtszeit», ertönte es, und «Stille
Nacht, heilige Nacht».
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Die Entwicklung des SBZ-Fachbereichs Animation
von Maria-Theresia Müller
Im Herbst 1988 enstand unter der
damaligen Sozialarbeiterin des Kantons Aargau, Norma Bargetzi, ein
neues Projekt.
Die erste Regionalgruppe der SZBBeratungsstellen für hörsehbehinderte und taubblinde Menschen
wurde ins Leben gerufen. Die regionalgruppe des Kantons Aargau traf
sich ab dieser Gründung regelmässig
im Gemeinschaftszentrum Telli in
Aarau. Unter Normas Anleitung
wurde gemeinsam gebastelt. Ich selber kam als Neuling anfangs 1989
dazu. Mit dem Bähnli fuhr ich von
Bremgarten nach Wohlen. Hier empfingen mich gleich zwei Männer,
Oskar Weber und Kurt Koller. Ursula
Bernhard war meine erste Begleiterin.
Mit Papierbatik entstanden wunderschöne Karten. In all den Jahren
lernte ich vielerlei: töpfern, Korbflechten, Kleisten, Seidenmalen,
Filzen, Weben und vieles mehr. Ich
staunte immer wieder über die zahlreichen Möglichkeiten und Ideen.
Zur Erholung für Körper und Seele
entspannten wir uns oft im Thermalbad in Schinznach Bad.
Das Sekretariat und die Beschäftigungsanleitung, wie sie damals noch
genannt wurde, teilten sich zwei
Büroräume an der Cramerstrasse in
Zürich. Für die Beschäftigung waren
diese Räume zu eng.
Im Industriequartier Zürich Altstetten fanden sie Räume. Durch Einzelbetreuung wurde unser Interesse
der Handfertigkeiten gefördert. Die
Stelle der Anleiterin wurde auf zwei
Personen erhöht.
Einige Male wurden die Kunstwerke
in Aarau am Rüeblimarkt, der immer
am ersten Mittwoch im November
durch geführt wird, zum Verkauf angeboten und gleichzeitig über unsere Behinderung aufgeklärt. Es war
jedes Mal ein erfreulicher Erfolg.
Die Nachfrage nahm zu. Nach wenigen Jahren zügelten die Anleiterinnen an die Gutstrasse. Der Raum
war heller und gemütlicher. Dank
O+M-Training schafften alle Klientinnen und Klienten den Weg selbstständig.
Hier wurden wir in Gruppenarbeit
und einzeln gefördert. In einer
engen Ecke bereiteten wir das Mittagsessen selber zu. In den grossen
Schaufenstern stellten die Anleiterinnen unsere gefertigten Gegenstände zum Verkauf aus, und
manche Kunden bewunderten sie
und kauften ein.
Auch hier wurde es zu eng. Nach
langem Suchen fand man in Lenzburg im Gleis 1 im ehemaligen HeroGebäude im Untergeschoss mehrere
Räume mit Büros.
Der Fachbereich bekam den neuen
Namen ‘Animation’. Heute sind in
Lenzburg vier Personen mit Teilzeitpensen angestellt. Zwei von ihnen
sind vorwiegend für das Atelier
verantwortlich und zwei hauptsächlich für die im weitesten Sinne kulturellen Anlässe. Seit bald 15 Jahren
erleben wir Betroffenen mit freiwilligen Mitarbeitern wertvolle Stunden in Lenzburg.
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Kürbisausstellung
in Seegräben Juckerhof – von Heidi Peyer-Michlig
FREUNDESKREIS
FÜR TAUBBLINDE
spielen. Etwas weiter entfernt stand
ein lustiger Gitarrist mit einem
dunklen Hut. Ein paar Meter entfernt konnte man ein stolzes Pferd
und seinen Ritter bewundern. Auch
einen prächtigen Löwen entdeckte
ich.
Es gab sogar ein Labyrinth. Dort sah
und hörte man vor allem die Kinder!
Weil jetzt Apfelzeit ist, genossen wir
ein Glas Süssmost frisch ab der
Presse. Mhh, wie fein! Es war richtig
wohltuend!
Schliesslich traten wir den Heimweg
an. An diesen Nachmittag werde ich
mich sicher noch lange erinnern.
Ich weiss, dass auf dem Juckerhof
auch ein wunderschöner Weihnachtsmarkt stattfinden wird.
Meine Freundin vom Gemüsemarkt
Bülach teilte mir kürzlich mit, dass in
Seegräben wieder die Kürbisaustellung beginne. Kürbisse werden in
Rafz in allen Farben, Sorten und
Grössen angepflanzt.
Spontan entschieden sich mein
Mann und ich am Samstag, 21. September, nach Pfäffikon ZH zu fahren. Von dort wanderten wir
gemütlich in ca. 45 Minuten nach
Seegräben zum Juckerhof. Wir genossen die fantastische Aussicht auf
den Pfäffikersee. Wir bewunderten
auch die schönen Apfelanlagen.
In Seegräben angelangt, konnten
wir nur noch staunen über die Vielfalt der Kürbisse. Da sah man zum
Beispiel ein geschnitztes Fass, in das
die Kinder hinein durften um zu
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Stimmengeber in der Provence
von Kathrina Redmann
stehen ein paar Leute mit Sammelbüchsen in der einen Hand, und
Markenbogen in der anderen. Die
Klebevignetten zeigen eine schreitende Figur mit weissem Stock.
Schon spricht mich eine ältere, sehr
sympathische Frau an, weil sie mein
Interesse wahrgenommen hat. Es
wird gesammelt für die ‘Bibliothèque Sonore de Apt en Luberon’.
Also für die Hörbücherei von Apt im
Luberon. Ziel ist die Erweiterung des
Sortiments und dass sowohl Sehbehinderte als auch motorisch Behinderte gratis Hörbücher ausleihen
können.
Da sind wir natürlich grad mitten im
Thema und die Frau freut sich sichtlich, dass sie nicht viel zu erklären
braucht. «Dann sind sie also gewissermassen eine von uns», sagt sie,
nachdem ich ihr von der Blindenbibliothek in Zürich erzählt habe, auch
von unserer Zeitschrift Lichtblick.
(Da ich mich bereits inoffiziell bei
Maggie Gsell gemeldet habe, künftig jeweils die Texte auf mp3 zu
lesen, darf ich ja wohl sagen ‘unsere’
Zeitschrift). Nach Einlage meiner
Spende erhalte ich noch einen Infoprospekt und eine Marke zum Ankleben, damit ich nicht ein zweites
Mal von Sammelnden angesprochen
werde.
Wie fast jeden Tag in unseren Ferien
in der Provence besuchen wir einen
der provenzalischen Märkte, die wöchentlich an einem bestimmten Tag
in verschiedenen Dörfern und Städten stattfinden. Heute Samstag in
Apt. Immer wieder begeistern uns
die farbigen vielfältigen Auslagen
auf den Ständen: Bunte Stoffe,
Tischtücher, Servietten mit den traditionellen Medaillon-Mustern, daneben gepolsterte Bettdecken in
dezenten Naturfarben von Weiss
über Beige, manchmal durchsetzt
mit gewobenen oder gedruckten
Streifen, Blumengirlanden in Zartgrün und Rosatönen. Daneben ein
Stand mit Landesprodukten: Lavendelhonig, Akazienhonig, Millefleurs,
Tournesol (immer wieder fasziniert
mich der französiche Name der Sonnenblume: Tournesol – zur Sonne
drehen. Blindlings drehen diese Blumen, selber das Abbild einer Sonne,
ihre Köpfe dem Licht entgegen mit
dem Lauf des Tageslichtes). Wie
muss der Honig schmecken, dem
diese Lichtbewegung innewohnt!
Essenzen von Lavendel, die verschiedenen Sorten mit der Bezeichnung
Lavande und Lavandin. Bunte Stoffbeutelchen, gefüllt mit getrockneten Lavendelblüten werden noch
monatelang duften im Kleiderschrank, wenn wir schon längst wieder in der winterlichen Schweiz sind,
oder uns mit sanften wärmeerfüllten Bildern einschlafen lassen, denn
Lavendel wirkt beruhigend.
Wir biegen in die Seitengasse ein, da
Nun geht’s weiter, vorbei am Trockenwurststand mit unglaublich vielen Variationen, alles zum Probieren
fein geschnitten auf Holzbrettchen,
die vor den entsprechenden aufge8
FREUNDESKREIS
FÜR TAUBBLINDE
Charme und aktivem, aber unaufdringlichem Engagement. Eine
wahre Freude, so etwas auch in
Frankreich zu erleben.
häuften Würsten präsentiert werden: Sorten mit Haselnüssen, Oliven,
Wildschwein, Ente, Knoblauch. Nun
die vielen Oliven, provenzalische,
griechische, gefüllte, entkernte,
schwarze, grüne, nature oder gemischt mit Provencekräutern, Knoblauch, Peperoni, Petersilie.
«Versuchen Sie die besonders feine
Sorte von Nyons, capitale de l’olive,
unsere Hauptstadt der Oliven!»
Ich ziehe meinen kleinen Prospekt
aus der Handtasche und lese, dass
die Sammlung veranstaltet wird von
der ‘Association des Donneurs de
Voix’ – genau übersetzt: Vereinigung der Stimme Schenkenden.
Die Stimme geben, welch schöne
und wichtige Aufgabe!
Ich freue mich schon, bis ich das
erste Mal dem Lichtpunkt meine
Stimme schenken darf.
Kathrina Redmann,
en Provence, 5. Oktober 2013
Nun sind wir reif für einen Kaffee
und setzen uns unters Dach des Restaurants an der Ecke. Von hier aus
haben wir den Überblick in zwei
Richtungen. Wir schlürfen den starken Kaffee aus dem kleinen Tässchen – notabene für 1.30 Euro – und
lassen wie einen life-Film die unterschiedlichsten Leute an uns vorbei
ziehen: Zwei alte Frauen, die ihre Taschen abstellen und für einen
Schwatz stehen bleiben, junge Mütter mit Kindern, Verliebte, Einheimische und Touristen, die alten
Blumenhändler, die grad eine mit
Schinken gefüllte Baguette verzehren, aber trotzdem nicht versäumen,
zwischen zwei Bissen alte Stammkundinnen küssend zu begrüssen
links und rechts auf die Wangen, ob
sie nun einen Strauss kaufen oder
nicht. An der Ecke vorne links palavern zwei ältere Araber, und nun
schreiten auch zwei der sammelnden Frauen vorbei, sprechen die
Standbesitzer und andere Leute an,
erklären, worum es geht bei der
Bibliothèque Sonore. Sie tun es mit
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Wenn Pietro Londino mit der Zunge schnalzt,
antwortet die Welt von Antonietta Fabrizio
populär. Er erkennt eine daumendicke Stange auf einen Meter, einen
Hydranten auf drei, ein Auto auf
fünf und ein grosses Gebäude bereits aus fünfzig oder gar hundert
Metern, wenn er es laut genug
anschnalzt. Kish fährt im Gelände
Mountainbike und orientiert sich
mittels Echoortung. «Theoretisch ist
alles möglich,» fährt Pietro fort,
«ich würde aber nie etwas tun, bei
dem ich willentlich mich oder andere gefährde. Obschon ich den Reiz
vom Mountainbike fahren im Gelände sehe.»
Vom Klang der Bäume und des
Maschendrahts
Wenn Pietro Londino mit der Zunge
schnalzt, antwortet die Welt. Hausfassaden, Autos, Bäume und Baustellen nehmen Gestalt an und
eröffnen sich seinen blinden Augen
mit präziser Genauigkeit. Pietro
macht von derselben Ortungstechnik Gebrauch, wie die Fledermäuse.
Diese benutzen Rufe, um eine dreidimensionale Karte ihrer Umgebung
zu erstellen und schliessen daraus
auf ihre Umgebung.
Fledermäuse schätzen die Entfernung eines Gegenstandes ab, indem
sie feststellen, wie lange der Klang
braucht, um zurückzukehren. Pietro
Londino ist blind und kann das auch.
Er weiss nicht genau, wann und wie
er die Klicksonartechnik, auch
Echoortung genannt, gelernt hat.
Sie habe sich automatisch entwickelt. «Bereits als Kind kurvte ich mit
dem Fahrrad auf dem Pausenplatz
der Blindenschule um die Häuser
und orientierte mich am Klicken.»
Von den 85 Kindern, die damals mit
zur Schule gingen, erinnert er sich
an einen einzigen Buben, der die
Technik auch anwendete. Doch die
Tatsache, dass die Echoortung heute
weltweit als Weiterbildung angeboten wird, weist auf einen Trend hin.
Die Klicksonartechnik erweitert Pietros Wahrnehmung. Sie ersetzt den
Weissen Stock zwar nicht, verlängert
ihn aber um ein Vielfaches. Er klickt
und stellt fest, wie gross der Raum
ist, in dem er steht. Er orientiert sich
aber auch mit dem Weissen Stock
am Trottoir, damit er nicht einknickt
und benutzt auch dessen Lärm, um
in einer Unterführung die Distanz
zur Wand zu orten. «Manchmal sind
Leute erstaunt, mit welcher Leichtigkeit ich mich bewege und orientiere.
Das alles aufs Klicken zurückzuführen, wäre aber nicht richtig.»
Alles was uns umgibt, trägt eine eigene akustische Unterschrift. Einen
Baum erkennt man daran, dass der
Strunk ein anderes Echo zurückwirft,
als die blätterhaltige Krone. Kish
sagt, dass jeder Gegenstand je nach
Der blinde Amerikaner Daniel Kish
analysierte die Klicksonartechnik sys- Fläche und Beschaffenheit einen
spezifischen Hall zurückwirft. Etwas
tematisch und machte sie weltweit
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FREUNDESKREIS
FÜR TAUBBLINDE
Glattes klingt also anders, als etwas
Raues.
Kanadische Forscher haben mittels
Magnetresonanztomographie die
Hirnaktivität von Testpersonen
untersucht und festgestellt, dass die
Echoortung den visuellen Kortex
anspricht, also den Bereich, mit dem
das Sehen verknüpft ist. Das Gehirn
der Testpersonen trennte die Geräusche in zwei Kategorien und gab sie
an zwei unterschiedliche Hirnregionen weiter. Das, was
auch sehende Personen
bewusst hören, kam in
den Hörbereich des
Gehirns und die davon
abgetrennten Echos
direkt in den Sehbereich
des Gehirns.
dius.» Wenn es aber auf seinem Weg
sehr laut zu und her geht, wie etwa
bei Baustellen, stösst er an seine
Grenzen. «Da sind haptische Menschen besser dran. Ich bleibe da
schon mal stehen und sage, ich sehe
vor lauter Krach nichts mehr.»
(Artikel aus tactuel 4/2013,
die Fachzeitschrift für das Blinden-,
Taubblinden- und Sehbehindertenwesen – www.tactuel.ch)
Um zu sehen, verlassen
sich auditive blinde
Menschen auf ihr Gehör.
Zu diesen Menschen
zählt auch Pietro. «Ich
kann mehr erfassen und
habe den grösseren Ra-
Zahnwale und Delfine
bedienen sich der EchoOrtung, um in trüben
und dunkeln Gewässern
zu navigieren und zu
jagen.
Foto: Wei-Chuan Liu
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«Denk daran, du bist doch in New York!»
von Doris Herrmann
(Statt unsere eigentlichen Namen zu
verwenden, bezeichne ich mich als
Riesenkänguru und meine beiden
Freundinnen, die mich auf dieser
Reise nach New York begleitet
haben, sind die Bergkängurus.)
ins Herz der Stadt, zum Time
Square. Der bewölkte Himmel ragte
hoch über den Stahlbetonkolossen
aus glitzernden Fenstern. Am Ziel
angekommen begaben wir uns in
die grosse Eingangshalle unseres
Hotels. Kurz darauf schleppten wir
das Gepäck in den Lift und fuhren
in die 15. Etage. Dort fanden wir für
uns drei ein völlig verborgenes
Plätzchen zum Wohlfühlen – eines
von über 1500 verfügbaren Zimmern. Aus unserem Fenster genossen wir den Blick auf den Hudson
River und die untergehende Sonne.
Vom ersten Abend an begann unser
Erleben der Stadt bei ziemlich warmen Maitagen. Auf dem breiten
Broadway und den vielen gerade
verlaufenden Strassen mit vielen
Schaufenstern, Imbisslokalen, flimmernden Reklamewänden und vielem mehr machte es in Wirklichkeit
wenig Sinn zu flanieren. Jedes Mal,
wenn eine von beiden mich unvermittelt im Zickzack führte oder leise
puffte, knurrte ich halb erbost.
Dann lormte mir jeweils eine besänftigend: «Du bist in NY!» Jawohl,
das heisst, in New York hätte man
kaum länger als 5 Sekunden mit
dem Hinterkopf auf den Schultern
ruhend die an Wolken kratzenden
Enden der machtvollen Kolosse betrachten können. Schon wieder das
Puffen, Stossen und Rammen der
vorbei rasenden Menschen. Immer
wieder rasch ausweichen, fast bis
zum Umfallen, denn die Gehsteige
Ankunft in New York (NY): Rasch
kamen wir aus den unüberschaubaren, riesigen Hallen und Durchgängen des Flughafens heraus, ich als
Riesenkänguru im Rollstuhl, geschoben von zwei Bergkängurus. Eine
von beiden fasste schnell meine
Hand und presste eine Fingerbeere
auf das Papier – das war der Fingerabdruck, und jetzt war ich mit den
beiden draussen im Lande der Menschen mit Federn auf den Köpfen.
Dank des von uns angeforderten
Hilfsdiensts mit dem Rollstuhl –
obwohl ich eigentlich normale Fussgängerin bin – schafften wir es in
knapp 40 Minuten durch den Zoll,
statt über 2 Stunden in drückender
Luft und endlosen Menschenschlangen zu warten. Begleitet von gut
vibrierender Beethovenmusik fuhr
uns der russische Taxifahrer rasant
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FREUNDESKREIS
FÜR TAUBBLINDE
enden wollenden Treppenstufen hoch,
bis sie im
102ten Stockwerk total abgeschlagen und
fast ohne Luft
vor verschlossenen Türen
steht. Nicht so
erging es uns. Jetzt standen wir in
der hohen Empfangshalle zwischen
den Menschenmassen. Werden wir
in den Lift hineingepfercht? Nein,
ein kluges Bergkänguru schlängelte
geschickt zum Billetschalter, fragte
nach Möglichkeiten für Behinderte.
Grosses Glück für uns, bequem per
Expresslift geschwind bis zum 86ten
Stockwerk rauf zu sausen.
Oben schlendern wir bei herrlichem
Sonnenschein rundherum. So hoch
war genug, um über alle flachen
Dächer der Skyscraper (Wolkenkratzer) bis zur Miss Liberty (Freiheitsstatue) und weiter in die Runde
zum unübersehbar grün bewaldeten Central-Park zu schauen. In
tiefen – teilweise baumreichen –
Strassenschluchten sieht man die
vielen Menschen wie rasende Käfer,
dazwischen auch Taxis, Yellow Cabs
genannt. Auf Postkarten sieht man
das unglaubhaft monumentale Gebäude mitsamt nadelartigem Antennenturm mit seinen 381 m Höhe,
wie es über die ganze Stadt in den
Himmel ragt. Es wurde 1931 knapp
neun Monate lang gebaut. Es
waren uneben, an manchen Stellen
sogar wie holprige Felsenwege.
Nicht nur Sehbehinderte, sondern
selbst Gutsehende mussten sich
enorm konzentrieren beim Gehen.
Kaum eine andere Stadt ist so überfüllt wie New York von ameisenartigen Wesen, die immer hektisch nach
etwelchen Zielen oder nirgends
wohin strebten.
Für uns drei eine völlig andere und
aussergewöhnliche Welt der ständig
verstopften Strassen und Gehsteige
mit immer wiederkehrendem Sirenengeheul. Selbst klare Zebrastreifen nutzen wenig. Immer wieder
stoppten wir abrupt vor dem Überqueren, bevor die vielen blechernen
Bären mit lärmendem Gebrumm
und nicht zuletzt die Riesenalligatoren mit nach oben scheinwerfenden
Augen und mit breiten Mäulern unsere Beine abscheren konnten.
Immer wieder brummte ich erregt,
dann lormte mir das Bergkänguru:
«Denk doch, so ist es in NY…». Tatsächlich, vom ersten abendlichen
Abstecher hatten wir den Eindruck,
diese Millionenstadt gehöre in eine
ganz andere Welt. Bei jedem Schritt
gab es viel zu entdecken.
Einmal vor dem Eingangstor des
Empire State Building liest die kluge
Ratte auf der Tafel, es sei oben geschlossen. Sie dreht sich um und
schwelgt weiter, entlang vieler eleganter Modehäusern. Die dumme
Maus aber rennt schnurstracks hinein und springt die ewig nicht
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brauchte 10 Millionen Ziegelsteine
und 60'000 Tonnen Stahl.
Wieder unten, wehte ein herrlicher
Wind, gerade zur Lunchpause in
einem asiatischen Schnellimbiss. Musikalische Harmonie von Beethoven
begleitete uns beim ausserordentlich schmackhaft und frisch gekochten Essen. Danach liefen wir zur
Central Station, dem wunderbaren
Jugendstilbahnhof in die irdische
Tiefe. Alles dunkel in der sehr weiten Halle, schön geteert mit vielen
Geleisen, aber ganz leer. Wo sind die
Züge? Vielleicht noch tiefer unten
versteckt, wo die Teufel vergnüglich
in vielen Höhlen herumreisen? Wir
spazierten gemütlich entlang vieler
Läden. Für den Abend hatten wir
Karten für das Broadway Musical
Mary Poppins. Vorher erhielt ich
beim Asiaten einen schönen roten
Luftballon, um die musikalische Vibrationen gut aufnehmen zu können. Leider durfte ich ihn aber nicht
mit hinein nehmen, aus Sicherheitsgründen: Mary Poppins könnte sich
darin verfangen, wenn sie im
Schlussakt fortfliegt in den weiten
Himmel. Ich hätte ihn ohnehin nicht
gebraucht, da ich während der Vorstellung selig schlummerte.
Am folgenden Tag war unser aufregendster Höhepunkt der Besuch der
Freiheitsstatue. Vor vielen Jahrzehnten las ich, wie man im Inneren der
Dame hinaufsteigen oder auch mit
dem Lift fahren könne, vorauf ich
mich schon freute. Wir erreichten Liberty Island (die Insel mit der Freiheitsstatue) per Schiff – es war schon
Mittagszeit. Die Erfüllung meines
Wunsches blieb aus: rund um den
Sockel war alles abgesperrt. Statt
Warteschlangen standen viele Laster
herum. Alles war zur Baustelle umfunktioniert! Ob die liebe Dame
wohl chronischkrank ist, muss sie
sich jahrelang unzähligen schwierigen Operationen unterziehen? Mit
vielen Touristen spazierten wir gemächlich entlang des Ufers, suchten
eine Bank unter schattigen Bäumen
auf und assen Bananen. Bei grellem
Sonnenschein blickte ich hinauf. Ich
sah klar, dass meine Sehkraft noch
gut reichte, um die bodenlange
Toga der Freiheitsstatue zu sehen,
die im Wind flatterte. Nein, es ist
eine optische Täuschung, denn alles
ist aus Beton.
Beim Betrachten verfiel ich in einen
Traum: wir laufen unter dem Rocksaum hindurch zum Lift bei den Füssen, fahren geschwind hinauf zur
Rachenhöhle. Wir bewegen uns
langsam zwischen den Zähnen und
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FREUNDESKREIS
FÜR TAUBBLINDE
endlich gewundenen Wendeltreppen. Glücklicherweise sind die Düfte
herrlich würzig wie im Bergwald.
Am Ende erreichen wir den Lift, der
uns nach unten zur Plattform bringt.
Wir sind wieder zurück an Land, an
der Südspitze Manhattans im Battery Park mit seinen vielen Bäumen.
Bei ziemlicher Hitze wanderten wir
auf einem breiten Weg, gesäumt
von vielen Sträuchern und duftender Zunge, die wie ein rosa glitzern- den Blumen. «Da beginnt jetzt
der Betonhügel da lag. Die Gaumen- Broadway!» lormte mir ein Bergkändecke ist sanft erhellt durch unzähguru nach der kurzen Strecke durch
lige winzige Birnen. Die Sonne
den Park. Von da an führt die weltstrahlt kräftig durch den halboffeberühmte Strasse Broadway durch
nen Mund. Von da aus sehen wir das die 20 km lange Insel Manhattan,
ruhige Meer, auf dem die Schiffe
vorbei an 60 grossen und unzählivorbei fahren. Einige Zähne sind ge- gen kleinen Theatern, in denen dafüllt mit goldenen Plomben – aha,
mals unter anderem Audrey Hepwie kam Miss Liberty zum Zahnarzt? burn, Marilyn Monroe und Marlene
Zurück in die Rachenhöhle und eine Dietrich tanzten. Auch am Time
schmale Treppe hoch zu den Nasen- Square, in dessen Nähe unser Hotel
löchern: hui, unsere Haare wirbeln
liegt, führt der Broadway vorbei. Bis
vom Durchzug der ein- und ausströ- zu unserem Unterschlupf hätten wir
menden Atemluft, verursacht von
mehr als einen halben Tag zu Fuss,
elektrischen Motoren. Trotzdem ge- deshalb nahmen wir das Taxi.
lingt es uns, durch das Nasenloch hinunter zur Plattform und dem
Anmerkungen für Neugierde: Der
Wasser zu schauen. Bei der langBroadway ist die älteste Haupt- und
samen Fahrt mit dem Lift hinunter,
Geschäftsstrasse, die zum Teil aus
bekommen wir die pochenden Herz- einem alten Indianerpfad hervorschläge zu hören. Wir landen in der ging und durch Wälder und Wildnis
grossen Bar, essen feine Sandwiches führte. Wer mehr zu deren Geoder Pizzas, trinken Kaffee, Bier
schichte wissen möchte, gibt bei
oder Coca Cola. Wir bedienen uns
Google ‘Broadway’ (Manhattan) ein.
selber im Leber-Raum der voller Me- Ich wünsche allen eine spannende
tallfässern und auch Weinfässern ist! ‘Surf-Reise’.
Erfrischt rattern wir durch die un(Fortsetzung in Lichtpunkt 1-2014)
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Jubiläumsausflug ‘tactile’ 2013
von Christine Müller
dem Busbahnhof Zürich zusteuerten. Einen kurzen Moment dachte
ich, dass ich in meiner taubblinden
Informationseinschränkung die
Weltneuheit eines Neigebusses versäumt hätte. Es war keine Weltneuheit, sondern der Defekt an unserem
Reisecar.
Nach und nach sammelte sich die
tactile-Reisegruppe im wärmenden
Carinneren. Mit Geduld und Verständnis für den überraschenden
Unser 15. tactile-Jubiläumsjahr verlangte einen speziellen Ausflug. Aus Zwischenfall warteten Mann und
Frau auf den weiteren Verlauf. Der
den eingegangenen Ideenvorschlägen wählte der Vorstand den Besuch heisse Info- und Beratungsdraht via
Handy zwischen den Teilnehmerim Blindenmuseum in Sitten.
gruppen in Zofingen, Bern, Zürich
Suzanne Kunz, unser neues Vorstandsmitglied übernahm die Orga- und dem Verantwortlichen der CarAG Gautschi brachte eine halbe
nisation dieser Festveranstaltung
Stunde nach regulärer Abfahrtszeit
und führte diese mit bestem Erfolg
den Entschluss: Unser Ausflugsproaus.
Obwohl der Weg für viele ins schöne gramm bleibt erhalten. Mit dem Ersatz-Car zielen wir Sitten an. In der
Wallis kein kurzer war, nahmen 24
Personen die Chance für die gemein- entstandenen Wartezeit genossen
wir unsere vorgezogene Cafe-Pause.
same Kunstwahrnehmung in blinUnser neuer Chauffeur drehte um
dengerechter Art wahr.
zirka neun Uhr den Startschlüssel
Rolf Signer und seine Frau Ruth bewiesen mit ihrer Teilnahme ehrwür- des Reisebusses, ohne Linksneigung,
digste Vereinstreue. Beide wären an womit wir in ungescholtener Freude
diesem Tag zu einem Firmenausflug die Reise begannen. «Mein z’Morge
wird wohl am Abend, bei meiner
nach Kroatien mit einem Flug über
Rückkehr in die Wohnung noch auf
den Wolken eingeladen gewesen.
Ihre Wahl für unsere tactile-Gemein- dem Küchentisch auf mich warten»,
meint der Fahrer schmunzelnd.
schaft erhielt grosse Hochachtung.
Wegen der Panne am ersten Car,
Für besondere Überraschungen war wurde er notfallmässig zum Fahren
aufgerufen.
auf der Anreise bestens gesorgt.
„Unser Car ist ganz nach links geneigt.“, meldete mir meine Begleite- Wer meint, eine mehrstündige Reise
rin, als wir zur ersten Einsteigestelle, im Car als hörseh-eingeschränkter
Im fünfzehnten Bestehungsjahr unternahm die Selbsthilfevereinigung
hörsehbehinderter und taubblinder
Menschen, tactile-Deutschschweiz,
am 19. Oktober 2013 einen Ausflug
in das Blindenmuseum in Sitten. Für
den grossen Reiseaufwand wurden
die Teilnehmenden mit imposanter
taktiler Kunstwahrnehmung und
einem frohen Miteinander belohnt.
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FREUNDESKREIS
FÜR TAUBBLINDE
von uns stark höreingeschränkten
Menschen die verbale Kommunikation. Mit unserer Anzahl von 26
hungrigen Mäulern und nicht zwanzig, wie vom Servierpersonal angenommen, lag diesmal die
Überraschung auf ihrer Seite.
Schnell wurden zusätzliche Tische
und Stühle aufgestellt, was uns noch
taktiler zusammenrücken liess.
Wir genossen feines Essen und herzliche Gastfreundschaft. Eine Servierfrau drückte ihre Bewunderung und
Freude an unserer Gruppe mit den
Nach Bern waren wir Jubiläumsausflügler alle zusammen. Nachdem uns Worten aus, «vous êtes extraordinaire» (Ihr seid aussergewöhnlich).
Anita Rothenbühler herzlich willNur wenige Meter auf dem mittelkommen geheissen hatte, trat eine
neue Überraschung auf: Rolf Signer. alterlichen Steinboden steil hinauf
führten uns mit vollen Bäuchen
Nicht er selbst am Mikrophon und
seine nette Frau Ruth an seiner Seite direkt in das Kunstmuseum, das in
zwei Schlossanlagen beherbergt ist.
war der überraschende Effekt. Sie
beschenkten uns mit Schildkappen,
bestickt mit dem Original-Schriftzug, Berühren-Sehen
Die Idee, Kunstwerke seheingetactile. Bekäppelt zeigten wir unseschränkten Menschen in betastbarer
ren Dank durch einen grossen ApArt zugänglich zu machen, wurde
plaus. Vielleicht begleitete uns
aufgrund dieser grosszügigen Geste mit Hilfe des SBV, Schweizer Blinden- und Sehbehinderten-Verband,
die Sonne durch den ganzen Tag.
vor einigen Jahren umgesetzt. Die
Im Herzen der Altstadt von Sion Kunstproduktion mit Bezug zum
Wallis bilden die Schwerpunkte der
Nicht allzu stark verspätet kamen
Sammlung. Flache Bilder verwanwir im Café des Châteaux in Sion
deln sich, zum Beispiel zu einem
an. Catrin Hutter, Präsidentin von
Kunst-Ertasten mit Holzskulptur, MeGERSAM und Christian Bulliard
tallblättern und Modellen in den
waren wie vorangekündigt zu uns
Händen.
gestossen.
Zwischen den Führungsangeboten
Die alte Wirtschaft wirkte urchig
von der technischen Einrichtung,
und heimelig. Jedoch durch die
audio-guides und ausgebildeten Perniedrige und schmale Räumlichkeit
sonen, wählten wir eine sehr zuvorstahl die gepresste Akustik einigen
Mensch sei langweilig, irrt sich. Die
Landschaftsbeschreibungen unserer
sehenden Begleitpersonen liessen
die farblosen Fensterausblicke bunt
werden. Trotz wackligen Schritten
im fahrenden Car kamen wir, gestützt von stabilisierenden Begleitern, aufeinander zu, begrüssten uns
und hielten kurz oder länger Austausch – ob via FM-Anlage, Lormen,
Gebärden, oder in herzhaften Umarmungen.
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muskulären Nachfolgen.
kommende, freundliche Führerin.
Ihre laute, klare Sprache liess uns ihre Mein persönliches Spitzen-Bild beZusatzinformationen gut verstehen. fand sich in der Turmspitze, ein riesengrosses handgefertigtes
Gobelin-Bild, das einen Tunnelbau
Der Geruch und die Mauerstruktudarstellt. Vierzig Personen, die an
ren, sowie die schweren Türen mit
den überdimensionalen Handgriffen diesem Bauwerk mitarbeiteten, kreierten in Einzelarbeiten das ganze
des Schlosses verrieten ihr hohes
Kunstwerk. Uns SpezialwahrnehAlter.
mern diente ein detailliert konstruDas erste Naturbild aus der Romantik zeigte optischen Kunstbesuchern iertes Modell zu ‘berührtem Sehen’.
ein enges Tal mit einer Brücke,
Müde und glücklich
hohen Felswänden und kleinen
Nach zirka neunzig Minuten KunstMenschengestalten am Talboden.
erfahren waren unsere Finger voller
Es lag uns taktilen
Bildbetrachtern/innen als Holzskulp- neuer Eindrücke und eine Art Bildergalerie hatte sich bei einigen von
tur regelrecht in den Händen. Wie
uns im dritten Auge gesammelt. Ich
zwei gegenüberstehende Gesichter
denke nicht nur ich war glücklich,
fühlten sich die massiven Felsvormich im breiten Carsitz niederzulassprünge an. Die Proportion zu den
sen, als auch die kognitive Anstrenkleinen Menschenfiguren wurde
gung loszulassen.
spürbar. Das entstandene innere
Bild, zusammen mit den Informatio- Das schoggige, spielerische G’schenkli von Anita Rothenbühler an jeden
nen des Künstlers und der Entstevon uns erregte wiederum Aufmerkhungszeit war fantastisch. Als einst
samkeit. Ein kleiner, vierseitiger
sehende Kunstliebhaberin getraue
Surrli, wie die Luzerner den Kreisel
ich mich zu sagen, dass qualitativ
nennen, entscheidet in der Spielgutes taktiles Kunstwahrnehmen
eindrücklicher sein kann, als nur ein runde, wer Schokolädli zu geben,
oder zu nehmen hat.
Blick.
Nicht nur für dieses Beschenken
So erlebten wir vier Bilder, auf drei
Etagen, jedes in einer anderen drei- wurde ihr herzlichst jubiliert. Ihre
jahrelange Arbeit für die Gründung
dimensionalen Form.
und das Aktivieren unseres Selbsthilfevereines, auch ihr unumstösslicher
Wer sich die Wege durch das grossGlaube an alle umgesetzten Proräumige Schloss gemütlich machen
jekte, erhielt Wertschätzung in einiwollte, wählte den Lift. Wer, so wie
gen Worten von mir und ganz sicher
ich, den mittelalterlichen Baustil
in herzlicher Gesinnung von allen
durch zahlreiche Treppen erlaufen
wollte, durfte ihn spüren, - auch die tactile-Mitgliedern.
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FREUNDESKREIS
FÜR TAUBBLINDE
Der grosse Reiseaufwand hatte sich
gelohnt. Anita setzte ihre Energien
noch für eine persönliche feedbackRunde ein. Das Resultat ist sehr stark
und positiv.
Niemand bereute die Teilnahme,
und man war mit der Länge und
Wahl der Kunstwerke verschiedener
Kunstrichtungen weitgehend zufrieden. Verschiedene Strukturgebungen der Materialien brächte eine
taktile Farbvorstellung, schlug ich
vor. Zuerst das Erfühlen und erst
dann Informationen dazu zu erhalten, war eine andere Idee. Grundsätzlich war dieser Tag für jeden von
uns ‚tactilios’ eine grosse Bereicherung. Unser aller Dank galt den Mit-
arbeitenden an diesem Projekt, seheingeschränkten Menschen ebenfalls Kunsterfahrungen zu schenken.
Auch die letzte Überraschung fand
ihr gutes Ende. Plötzlich wurde es
sehr laut im Car. Einige von uns riefen aus voller Kehle, der Fahrer soll
sofort stoppen!
Fast hätten wir Ursi Weiss, begleitende Kommunikationsassistentin
von Anita Rothenbühler auf der
Strecke gelassen. Sie begleitete
Anita aus dem Car. Dass sie noch
weiter bis Zürich mitfahren wollte,
wusste unser Chauffeur eben nicht.
So kamen wir schliesslich alle gut
heim, und die Erinnerungen werden lange lebendig sein.
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FREUNDESKREIS
FÜR TAUBBLINDE
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