POLITISCHER BERICHT AUS DER RUSSISCHEN FÖDERATION

POLITISCHER BERICHT AUS DER
RUSSISCHEN FÖDERATION
Dr. Markus Ehm
Leiter der Verbindungsstelle Moskau
Nr. 24/2015 – 27. November 2015
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Nachhaltige Verschlechterung der Beziehungen zwischen Moskau und Ankara
Der Kreml reagierte scharf auf den Abschuss eines seiner Militärflugzeuge durch die Türkei (1). Bis dato
hatten beiden Staaten milliardenschwere Pläne zum Ausbau ihrer Wirtschaftskooperation (2). Diese
könnten nun auf den Prüfstand gestellt werden, zumal gegensätzliche geopolitische Interessen in Syrien immer deutlicher sichtbar werden; dort herrscht eine vielschichtige Interessenlage (3).
1.
Heftige Reaktion Moskaus
Wladimir Putin äußerte sich zum Vorfall bei einem Treffen mit dem jordanischen König Abdullah II. 1 Der
Kremlchef beschuldigte die Türkei, dem Terrorismus Vorschub zu leisten. Wörtlich sagte er, dass
"dieses Ereignis über den Rahmen des Kampfes gegen den Terrorismus
hinausgeht. Der heutige Verlust erfolgte durch einen Stoß in den Rücken,
den uns Handlanger des Terrorismus versetzt haben."
Für den Flugzeugabschuss, der über syrischem Gebiet erfolgt sei, gibt es nach Putin keinerlei Rechtfertigung, denn die Türkei sei überhaupt nicht bedroht worden. Der russische Kampfjet habe im Nordwesten Syriens Präventivschläge gegen Terroristen durchgeführt, die als Staatsbürger der Russischen Föderation jederzeit in ihre Heimat zurückkehren könnten. Außerdem habe sein Land schon vor langem bemerkt, dass Öl aus den Rebellengebieten an die Türkei verkauft werde. Entsprechend würden Terroristen von dort finanziert. Putin sprach von ernsthaften Konsequenzen für die russisch-türkischen Beziehungen, obwohl Russland die Türkei immer als einen befreundeten Staat betrachtet habe. Er kritisierte,
dass Ankara nicht unverzüglich mit Moskau Kontakt aufgenommen und sich stattdessen an seine NATOPartner gewandt habe, als ob es Russland gewesen sei, das ein türkisches Flugzeug abgeschossen habe.
Außenminister Sergej Lawrow sagte einen für den 25. November 2015 geplanten Besuch in Ankara ab.
Er empfahl seinen Landsleuten, von Reisen in die Türkei Abstand zu nehmen. Dort steige die Terrorgefahr nicht weniger stark an als in Ägypten. 2 Der Stv. Vorsitzende der Staatsduma Nikolaj Lewitschew
forderte die Einstellung des Flugverkehrs mit der Türkei, solange dort Terroranschlägen nicht intensiver
vorgebeugt werde. 3 Konstantin Kossatschow, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Föderationsrates, forderte die Aussetzung sämtlicher internationaler Kontakte mit der Türkei "bis zu einer besseren Zeit". Wadim Lukaschewitsch von der Oppositionspartei PARNAS/Volksfreiheit sieht sein Land gar
vor der Wahl zwischen zwei schlechten Handlungsalternativen: Entweder finde man sich schändlich mit
dem Verlust des Militärflugzeugs ab oder man beginne mit der Bombardierung der Türkei.
2.
Bedeutung der türkisch-russischen Wirtschaftskooperation
Bei seinem Besuch in Moskau vor zwei Monaten erklärte der türkische Staatspräsident Recep Erdogan,
den bilateralen Warenaustausch bis zum Jahre 2023 von bisher 30 auf 100 Milliarden US-Dollar steigern
zu wollen. 4 Die wirtschaftliche Zusammenarbeit betrifft insbesondere folgende Branchen:
- Rohstoffe
Der türkische Gasmarkt rangiert für Gasprom auf Rang 2 hinter dem deutschen. Gleichzeitig decken die
russischen Lieferungen 60% des türkischen Gasbedarfs ab. Ankara und Moskau planen die Errichtung
1
Das Folgende nach: http://www.vesti.ru/doc.html?id=2690557#/video/https%3A%2F%2Fplayer.
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2
RBK daily vom 25.11.2015, S. 4f.
3
Das Folgende nach: Kommersant vom 25.11.2015, S. 3.
4
Das Folgende nach: RBK daily vom 25.11.2015, S. 1 und 5; Wedomosti vom 25.11.2015, S. 3.
1
einer zweiten Pipeline. Der Baubeginn verzögerte sich bisher aufgrund von Unstimmigkeiten beim Gaspreis und der Parlamentswahl in der Türkei. Der russische Ölkonzern Lukoil unterhält in der Türkei ein
Netz von 600 Tankstellen und hat damit einen Marktanteil von 7%.
- Kernenergie
Beide Seiten einigten sich 2010 auf die Errichtung eines Atomkraftwerks in der Türkei durch den russischen Staatskonzern Rosatom. Das Auftragsvolumen beträgt 20 Milliarden US-Dollar. Die vier Reaktoren
sollen 2022 ans Netz gehen.
- Finanzen
Vor drei Jahren erwarb die Sberbank die türkische Denizbank. Der Preis betrug 3,5 Milliarden US-Dollar.
Es handelte sich um die umfangreichste Kauftransaktion der Sberbank in ihrer 175-jährigen Geschichte.
Die Denizbank betreibt 599 Filialen in der Türkei und 75 im Ausland.
- Bausektor
Türkische Firmen wickeln über 30% des Auftragsvolumens der russischen Bauwirtschaft ab.
- Tourismus
Im ersten Halbjahr erwies sich die Türkei als das zweitbeliebteste Reiseziel der Russen nach Ägypten,
das seit dem 6. November 2015 infolge des Terroranschlags auf ein Passagierflugzeug von russischen
Fluggesellschaften nicht mehr angesteuert wird. Eine Million Russen flog von Januar bis Juni 2015 in die
Türkei, im gesamten Jahr 2014 waren es sogar fast viereinhalb Millionen. Mehr Russen machten sich im
selben Zeitraum nur nach Deutschland auf (5,25 Millionen). Die Analystin Anna Kokorewa spricht von
einem Umsatz in Höhe von 2,77 Milliarden US-Dollar, den die türkische Tourismusbranche bei einem
Wegbleiben der russischen Kunden einbüßen könnte.
- Lebensmittel
Bei über 35% der Warenimporte aus der Türkei handelt es sich um Obst und Gemüse; der deutsche
Handelskonzern Metro beziffert den Anteil türkischer Waren in seinen russischen Märkten auf ca. 20%,
wobei um die jetzige Jahreszeit die Lieferungen zunehmend aus Ägypten und dem Iran erfolgten.
Insgesamt exportierte die Russische Föderation im ersten Halbjahr Waren im Wert von 15 Milliarden
US-Dollar in die Türkei; der Import betrug 3 Milliarden US-Dollar. Bei den Dienstleistungen ergibt sich
ein anderes Bild. Russland exportierte Leistungen in Höhe von 3 Milliarden US-Dollar, während es türkische Leistungen im Umfang von 9,7 Milliarden US-Dollar importierte.
3.
Bewertung
Moskau und Ankara widersprechen sich bei der Frage, ob der russische Militärjet tatsächlich türkischen
Luftraum verletzt hat. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass Wladimir Putin den Vorwurf nicht ausdrücklich zurückgewiesen hat. Er unterstrich lediglich, dass durch das russische Flugzeug zu keinem
Zeitpunkt eine Bedrohung für die Türkei bestanden habe und es letztlich über syrischem Gebiet abgeschossen worden sei. Der Chefredakteur der Zeitung "Rüstungsindustrieller Kurier" Michail Chodarenok
sagte, die russischen Piloten seien mit einer Operation nahe der türkischen Grenze ein hohes Risiko
eingegangen. Der Oberst der Reserve verwies insbesondere auf den kurvenreichen Grenzverlauf und die
hohe Fluggeschwindigkeit von 20 km pro Minute. Gleichzeitig bezweifelte Chodarenok, dass die türkischen Piloten alles ihnen Mögliche unternommen hätten, um den Einsatz von Waffen zu vermeiden. 5
Legt man dies zugrunde, hätten beide Seiten sehr hoch gepokert.
5
Kommersant vom 25.11.2015, S. 2.
2
Der Vorfall ereignete sich vor dem Hintergrund einer kontinuierlichen Verschlechterung der Beziehungen zwischen Ankara und Moskau seit dem Beginn des russischen Militäreinsatzes vor zwei Monaten. 6
Die Türkei lehnt die russischen Bombardements ab. Unterschiede gibt es bei der Frage des Schicksals
von Baschar al-Assad. Ankara möchte schnellstmöglich seine Entmachtung erreichen. So verdächtigt die
Türkei den Kreml, mit seinen Luftangriffen den syrischen Präsidenten stützen zu wollen. Außerdem
schaut Ankara mit Argwohn auf die guten Beziehungen Moskaus zu den Kurden, welche die Türkei als
Terroristen einstuft. Seit Anfang Oktober wurde der Ton spürbar schärfer. Zunächst warf Ankara bereits
damals Moskau die Verletzung seines Luftraums vor. Erdogan drohte, dass "Moskau einen Freund wie
Ankara verlieren kann". Später schoss die türkische Luftabwehr eine Drohne russischer Produktion ab.
Premierminister Achmet Davutoglu sagte damals, "wir hätten genauso gehandelt, wenn es ein Flugzeug
gewesen wäre". Und Anfang der vergangenen Woche bestellte die Türkei den Botschafter Russlands ein
und protestierte gegen die russischen Bombardements im Norden Syriens. Dort lebt mit den syrischen
Turkmenen neben den Kurden und Arabern die drittgrößte ethnische Gruppe des Landes. Sie kämpfen
gegen Assad. Traditionell unterstützt die Türkei dieses Turkvolk. Zudem könnten die Turkmenen nach
einem Machtwechsel in Damaskus eine gewichtige Rolle spielen, was Ankara in eine vorteilhafte Position bringen würde.
Der Chefredakteur der Zeitschrift "Russia in global Affairs" Fjodor Lukjanow prophezeit keine schnelle
Entspannung zwischen Moskau und Ankara. Er führt diese Einschätzung auf die sehr prägnante Wortwahl Wladimir Putins zurück und rechnet mit Vergeltungsmaßnahmen. Sie könnten sich gegen die von
der Türkei in Syrien unterstützten Gruppen richten. 7 Russland reagierte jedenfalls prompt: Kampfjets
erhalten bei ihren Einsätzen in Syrien zukünftig Begleitschutz durch Abfangjäger. 8 Moskau verlegt moderne Luftabwehrraketen ins Krisengebiet. 9 Außerdem beruft sich die Tageszeitung "Kommersant" auf
eine anonyme Quelle aus der Administration, die Putins Zorn damit erklärt, dass die Türkei sich vorrangig an die NATO gewandt habe. Eine derartige Hinterlist habe man von Ankara nicht erwartet, wird die
Stimme weiter zitiert. Nichtsdestotrotz, so der Kommersant, habe NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg für Deeskalation geworben und beide Seiten zur Herstellung des direkten Kontaktes aufgerufen. 10
Ein Ausbau der türkisch-russischen Wirtschaftskooperation wird sich in naher Zukunft also nicht ergeben, obwohl das Potential hierfür groß wäre, da sich Ankara den Sanktionen des Westens nicht angeschlossen hat. Vielmehr lassen erste Reaktionen aus Moskau auf eine massive Einschränkung der Zusammenarbeit schließen, obwohl beide Seiten viel zu verlieren haben. Russland dürfte trotz allem im
Auge behalten, dass die Türkei bei der Versorgung der blockierten Krim eine beträchtliche Rolle spielt.
Außerdem baut der Kreml weiterhin an einer Koalition gegen den Islamischen Staat. Dafür braucht er
auch sunnitische Länder wie die Türkei, nachdem bereits die Beziehungen mit Ägypten in Folge des
Terroranschlags auf das russische Passagierflugzeug in Mitleidenschaft gezogen wurden. All dies zeigt
jedenfalls die komplexe Interessenlage im Nahen Osten. Entwarnung gab Außenminister Sergej Lawrow.
Er betonte, dass Russland wegen des Flugzeugabschusses nicht gegen die Türkei in den Kampf ziehen
werde. 11 Moskau, 27. November 2015
Dr. Markus Ehm
Leiter der Verbindungsstelle Moskau der Hanns-Seidel-Stiftung
6
Das Folgende nach: Kommersant, ebenda; RBK daily vom 25.11.2015, S. 3f.
7
Kommersant vom 25.11.2015, S. 2.
8
Nesawisimaja Gaseta online vom 24.11.2015, http://www.ng.ru/armies/2015-11-24/100_rudskoy.htmlю
9
RBK daily online vom 25.11.2015, http://www.rbc.ru/politics/25/11/2015/565575ef9a79475e22343be5.
10
Kommersant vom 25.11.2015, S. 2.
11
Interfax vom 25.11.2015, http://www.interfax.ru/russia/481487. 3