Sebastian Zeitzmann / Helen Küchler Überblicks-‐Skriptum zur Europäische Integration II/ ERASMUS, EUROPAICUM SoSe 2015 Grundrechtsschutz in der EU I. Historischer Überblick 1. Anfangssituation Zu Beginn waren Grundrechte kein Thema der europäischen Integration. Weder der EGKS-‐Vertrag 1951 noch die Römischen Verträge (EWG-‐ und EAG-‐Vertrag) 1957 beinhalteten bei ihrem Inkrafttreten einen eigenen schriftlichen Grundrechtskatalog. Dieser „Mangel“ hatte mehrere Gründe: Zunächst begründe-‐ ten die Verträge dem Willen ihrer Gründungsväter gemäß in erster Linie eine wirtschaftliche Integration der Mitgliedsstaaten. Dabei gingen die Gründungsväter davon aus, dass sich die Verträge grundsätzlich nicht direkt an die Bürger der Mitgliedsstaaten richten könnten, da es sich bei den Verträgen um traditi-‐ onelles Völkerrecht handele. Dieses bindet und verpflichtet aber nur die jeweiligen Vertragsstaaten. Ein Grundrechtskatalog im Verhältnis der Vertragsstaaten zueinander ergäbe jedoch keinen Sinn, haben Grundrechte doch in erster Linie eine Schutz-‐ und Abwehrfunktion für den Einzelnen gegenüber der ihn betreffenden Hoheitsgewalt. Außerdem verfügten alle sechs Gründungsstaaten schon über einen eige-‐ nen nationalen Grundrechtsschutz und hatten darüber hinaus die Europäische Menschenrechtskonventi-‐ on (EMRK) ratifiziert. Dies schien zum damaligen Zeitpunkt ausreichend. Die schnelle Vertiefung der europäischen Integration und die Weiterentwicklung des Gemeinschafts-‐ rechts überholten diese Gründungserwägungen jedoch schon bald. Mit der Entscheidung über die „un-‐ mittelbare Anwendbarkeit“ in Rs. 26/62 (van Gend en Loos) stellte der Europäische Gerichtshof im Ge-‐ gensatz zu den Erwägungen der Gründungsväter fest, dass die Verträge unter gewissen Voraussetzungen doch auch unmittelbare Wirkung für den Einzelnen entfalten können. Dies bedeutete, dass den Einzel-‐ nen auch unmittelbare Rechte direkt aus den Verträgen zuteilwerden konnten. Zudem räumte der EuGH dem Gemeinschaftsrecht mit zwei weiteren Entscheidungen (Rs. 6/64, Cos-‐ ta/ENEL und Rs. 11/70, Internationale Handelsgesellschaft) Vorrang vor nationalem Recht ein. Problema-‐ tisch an diesem Vorrang war jedoch, dass sich dieser auch auf die national gewährleisteten Grundrechte erstreckte. Der Grundrechtsschutz auf Ebene der Mitgliedsstaaten wird also durch den Vorrang des Ge-‐ meinschaftsrechts beeinflusst und könnte im Konfliktfall schlimmstenfalls zu einer Verdrängung nationa-‐ ler Grundrechte führen. Dann würde der Einzelne ohne jeglichen Schutz (weder europäischem, noch na-‐ tionalem) dastehen. Diese Entwicklungen in der Rechtsprechung des EuGH schafften somit einerseits die Möglichkeit eines unmittelbar wirksamen Grundrechtsschutz auf Ebene der europäischen Verträge (van Gend) und ande-‐ rerseits auch das Bedürfnis nach einem solchen Schutz vor vorrangigen, unmittelbar anwendbaren Uni-‐ onsakten (Costa/ENEL). Trotzdem wurde nicht sofort ein Grundrechtkatalog in die Verträge aufgenom-‐ men. Die relevanten Änderungen der Römischen Verträge, vor allem durch die Einheitliche Europäische Akte sowie die Verträge von Maastricht, Amsterdam und Nizza haben allerdings jeweils einzelne Ansätze im Bereich der Entwicklung eines Grundrechtsschutzes in der EU mit sich gebracht. 2. Erste Ansatzpunkte für die Entwicklung eines gemeinsamen Grundrechtsschutzes in der EU Ansatzpunkte für die Entwicklung des Grundrechtsschutzes fanden sich nunmehr sowohl im EG-‐Vertrag als auch in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes. Daneben erfolgten auf EU-‐Ebene ver-‐ schiedene Grundrechtserklärungen mit unterschiedlichem rechtlichem Charakter. a) Ansatzpunkte in den Verträgen Im EGV fanden sich grundrechtsähnliche Garantien. Es handelte sich dabei tatsächlich nicht um Grund-‐ rechte selbst, da sie keine primäre Schutz-‐ oder Abwehrfunktion für den Einzelnen hatten. Stattdessen war es ihre primäre (wirtschaftspolitische) Zielrichtung, den Binnenmarkt zu gewährleisten. Der Einzelne konnte sich jedoch trotzdem direkt auf sie berufen: • das allgemeine Diskriminierungsverbot aus Artikel 12 EGV (nunmehr Art. 18 AEUV); • das Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit bei Arbeitnehmern aus Artikel 39 Absatz 2 EGV (nunmehr Art. 45 II AEUV); • das Gebot der Gleichbehandlung von Frauen und Männern hinsichtlich ihrer Entlohnung aus Arti-‐ kel 141 EGV (nunmehr Art. 157 AEUV) -‐einziges „echtes Grundrecht“-‐ sowie • im weiteren Sinne auch die Grundfreiheiten, welche wirtschaftliche Abwehr-‐ und Teilhaberechte für den Einzelnen darstellen. Sie dürfen aus drei Gründen jedoch niemals mit Grundrechten gleichgestellt werden: Zunächst haben sie, wie bereits gesagt, eine ganz andere primäre, nämlich wirtschaftspolitische und nicht individualschützende Zweckrichtung. Zudem wirken die Grund-‐ freiheiten nur in grenzüberschreitenden Konstellationen, während Grundrechte ihrer rechtsstaat-‐ lichen und demokratischen Zielsetzung hingegen nur dann gerecht werden können, wenn sie auch bei rein nationalen Sachverhalten Anwendung finden. Des Weiteren binden die Grundfrei-‐ heiten nur die Mitgliedsstaaten, nicht jedoch die Unionsorgane. Grundrechte hingegen wirken als Abwehr-‐ oder Teilhaberechte gegen jeden Hoheitsträger, also als Unionsgrundrechte auch gerade gegen die Unionsorgane. Im EU-‐Vertrag war Artikel 6 EUV a.F. von erheblicher Grund-‐ und Menschenrechtsrelevanz. Demnach beruhte die Europäische Union unter anderem auf den Grundsätzen der Achtung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit, welche in allen Mitgliedsstaaten Bestand haben (Absatz 1). Daneben be-‐ stimmte Absatz 2, dass die Union die Grundrechte der Europäischen Menschenrechtskonvention sowie die Grundrechte der Mitgliedsstaaten, welche zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts gehö-‐ ren, „achtet“. Die EU verpflichtete sich somit selbst einen gewissen Grundrechtsschutz zu befolgen, es gab aber keine Kontrollmöglichkeiten, ob diese Selbstbindung auch tatsächlich eingehalten wurde. b) Ansatzpunkte in der Rechtsprechung des EuGH Der letzte Anstoß für die Entwicklung eines echten Grundrechtsschutzes durch die Rechtsprechung des EuGH kam aus Karlsruhe. Die Entscheidungen des EuGHs, welche den Vorrang des Gemeinschaftsrechts im Verhältnis zum nationalen Recht und auch im Verhältnis zu den nationalen Grundrechten festlegten, sorgten in einigen Mitgliedsstaaten für Unmut. Auch das deutsche Bundesverfassungsgericht sah den Grundrechtsschutz deutscher Bürger gefährdet und fällte seine bekannte Solange I-‐Entscheidung. Nach dieser Entscheidung, verpflichtete sich Karlsruhe selbst Gemeinschaftsrecht solange zu überprüfen, wie die EG über keinen eigenen Grundrechtsschutz verfüge. Da es einen vertraglichen Grundrechtsschutz in der EG allerdings immer noch nicht gab (siehe a)), war nunmehr der Europäische Gerichtshof in der Frage der Etablierung eines gemeinschaftsweiten Grund-‐ rechtsschutzes gefordert. Wollte er verhindern, dass das deutsche Bundesverfassungsgericht Gemein-‐ schaftsrecht überprüfen und somit eine einheitliche Auslegung des Gemeinschaftsrechts in den Mit-‐ gliedsstaaten gefährden würde, musste der EuGH selbst durch seine Rechtsprechung einen adäquaten Grundrechtsschutz gewährleisten. Er zögerte nicht lange, den notwendigen Grundrechtsschutz recht-‐ fortbildend (Art. 19 Abs. 1 EUV) zu entwickeln. Da der Gerichtshof aufgrund des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung nur dort tätig werden darf, wo er auch entsprechende Kompetenzen hat, galt es zunächst, derartige –den Grundrechtsschutz betref-‐ fende– Kompetenzen zu ermitteln. Der Gerichtshof entnahm seine Kompetenz für die Garantie des Grundrechtsschutzes schließlich Artikel 220 EGV („Wahrung des Rechts“) sowie Artikel 288 II EGV, in wel-‐ chem die „allgemeine(n) Rechtsgrundsätze(n), die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind“ angesprochen sind. Wann immer der Gerichtshof nun Entscheidungen zu treffen hatte, welche von Grundrechtsrelevanz waren, nahm er auf die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedsstaaten Bezug. Es erfolg-‐ te also eine wertende rechtsvergleichende Betrachtung der mitgliedsstaatlichen Verfassungen und des in ihnen gewährten Grundrechtsschutzes. Die mitgliedsstaatlichen Verfassungen dienen dem EuGH dabei allerdings lediglich als Rechtserkenntnisquellen, nicht als Rechtsquellen als solche („Rechtsgewinnungs-‐ methode“). Der Gerichtshof ermittelt dabei nicht nur lediglich den kleinsten gemeinsamen Nenner aus den verschiedenen Verfassungen, aber auch nicht den Maximalstandard. Vielmehr ermittelt er einen Konsens, welcher den einzelnen Verfassungsinhalten auch tatsächlich am Nächsten kommt. Die den Ver-‐ fassungen gemeinsame Grundrechte wurden mit diesem Verfahren nach und nach als allgemeine Rechtsgrundsätze ins Gemeinschaftsrecht überführt. In der Rs. 29/69 Stauder stellte der EuGH erstmals fest, dass es seine Aufgabe sei die „in den allgemeinen Grundsätzen der Gemeinschaftsrechtsordnung (…) enthaltenen Grundrechte“ durchzusetzen. Über die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen hinaus begann der EuGH später zudem auch auf internationale Verträge zum Schutz der Menschenrechte, welche die Mitgliedsstaaten ratifiziert hatten, Bezug zu nehmen (Rs.4/73, Nold). Das betrifft vor allem die Europäische Menschenrechtskonvention. Das Bundesverfassungsgericht reagierte zufrieden auf diese Entwicklung eines gemeinschaftsweiten Grundrechtsschutzes. In seiner Solange II-‐Entscheidung entschied es, dass es, solange die EG einen dem Standard des Grundgesetzes entsprechenden wirksamen Grundrechtsschutz gewährleiste, seine Ge-‐ richtsbarkeit nicht mehr ausüben würde. Diese Hürde erhöhte das BVerfG im Urteil zur Bananenmarkt-‐ ordnung: Demnach sind alle Verfassungsbeschwerden und Richtervorlagen, die die Verletzung von Grundrechten durch Gemeinschaftsrecht zum Gegenstand haben, „von vornherein unzulässig“, wenn sie nicht darlegen, dass der gemeinschaftsrechtliche Grundrechtsstandard grundsätzlich und generell unter das mit dem Grundgesetz vergleichbare Niveau gesunken sein. Auch ein ausnahmsweises Absinken im Einzelfall kann also nicht mehr vor dem BVerfG gerügt werden. c) Grundrechtserklärungen Die geschilderte Rechtsprechung des Gerichtshofes, vor allem hinsichtlich der Kompetenzgrundlagen, die er festgelegt hatte, um überhaupt im Bereich der Grundrechte Entscheidungen fällen zu können, wurde 1977 durch die „Gemeinsame Erklärung von Rat, Kommission und Parlament“ bestätigt. Die Anerkennung der Grundrechte erfolgte darüber hinaus durch die nicht rechtsverbindliche Präambel der Einheitlichen Europäischen Akte sowie –mit Schaffung der Europäischen Union durch den Vertrag von Maastricht 1992– durch den bereits genannten Artikel 6 Absatz 2 des EU-‐Vertrages. III. Der Grundrechtsschutz im Reformvertrag von Lissabon 1. Allgemeines: Drei Kreise des Menschenrechtsschutzes (Art. 6 Abs. 1-‐3 EUV) Die oben beschriebene Entwicklung des Grundrechtschutzes durch den EuGH wurde vom Vertragsgeber durch die Schaffung des Art. 6 Abs. 2 EUV a.F. (heute Art. 6 Abs. 3 EUV) unterstützt, welcher ausdrücklich die Rechtsprechung der letzten Jahre in diesem Bereich festhielt. Demnach seien Grundrechte „wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben (…) als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts“. Zu dieser durch die Rechtsprechung entwickelten Quelle für die Grundrechtsermittlung, den allgemeinen Rechtsgrundsätze, gesellten sich im Vertrag von Lissabon zwei weitere „Grundrechtskreise“: Zum einen, ließen sich unionale Grundrechte nach Art. 6 Abs. 3 EUV auch aus der EMRK ableiten. Der die EU gemäß Art. 6 Abs. 2 EUV in Zukunft als Mitglied beitreten sollte. Dieser Beitritt scheint jedoch nach dem ablehnenden Gutachten des EuGHs (Opinion 2/13) in weite Ferne gerückt, da der Gerichtshof die Autonomie der Unionsrechtsordnung durch einen solchen Beitritt gefährdet sieht. Schon zuvor hatte ein Gutachten des EuGH von 1996 den Beitritt der Union zur EMRK verhindert, da eine Kompetenzgrundlage fehlte. Diesem Mangel war durch den Reformvertrag 2009 mit der Schaffung des Art. 6 Abs. 2 EUV gera-‐ de abgeholfen worden. Doch das erneut negative Gutachten hat nun festgestellt, dass die Unionsrechts-‐ ordnung immer noch nicht bereit ist für den Beitritt. Den Kritikpunkten der Richter wird in absehbarer Zukunft auch nicht einfach abzuhelfen sein. Bis zur Erarbeitung eines neuen Beitrittsabkommens gilt die EMRK weiterhin zumindest nicht formell für die Union. Nur die Mitgliedsstaaten der EU, die ihr alle bei-‐ getreten sind, werden unmittelbar gebunden. Die EMRK und auch die dazugehörige Rechtsprechung des EGMR spielen für den Grundrechtsschutz innerhalb der Union trotzdem weiter eine wichtige Rolle: Zum einen hatte sie eine maßgebliche Funktion bei der Entwicklung der allgemeinen Rechtsgrundsätze, zum anderen wird sie bei der Auslegung der Unionsgrundrechte sowohl beim Schutzbereich wie auch bei Ein-‐ griff und Rechtfertigung herangezogen und bestimmt damit Reichweite und Inhalt der Garantien. Zum anderen, ergeben sich die Grundrechte seit 2009 unmittelbar aus der mit dem Lissabon-‐Vertrag rechtlich verbindlich gewordenen Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Art. 6 Abs. 1 EUV). Diese Charta wurde vorwiegend aus sozial-‐psychologischen Gründen zusätzlich zum richterechtlich ent-‐ wickelten Grundrechtsschutz in Auftrag gegeben, da die Rechtsprechung des EuGHs für die Bürger schwer zugänglich und kaum greifbar war. Deswegen entwickelte ein Konvent, unter Leitung des ehema-‐ ligen deutschen Bundespräsidenten Roman Herzogs, den ersten schriftlichen Grundrechtekatalog der Union. Dieser wurde im Jahr 2000 auf dem Gipfel von Nizza feierlich verabschiedet. Bis zum In-‐Kraft-‐ Treten des Reformvertrages blieb die Charta jedoch nur eine feierliche Erklärung und rechtlich unver-‐ bindlich. Der Gerichtshof zog sie allerdings bereits als Auslegungshilfe heran. Gemäß des Lissabonner Reformvertrages ist die Grundrechtscharta nun rechtsverbindlich und erlangt Primärrechtscharakter. Anders noch als im Verfassungsvertrag vorgesehen, ist sie allerdings nicht Bestandteil der neuen EU-‐ Verträge, sondern eigenständiger Teil des Primärrechts. Keine Geltung wird die rechtsverbindliche Grundrechtecharta jedoch im Vereinigten Königreich und in Polen haben: vor Gerichten dieser beiden Staaten werden sich Bürger –aufgrund einer entsprechenden opt-‐out-‐Klausel– nicht auf die Charta beru-‐ fen können. 2. Die Grundrechtecharta a) Allgemeines Die Grundrechtecharta ist heute der zentrale Grundrechtskatalog der Union und unterstreicht ihre Rechtsstaatlichkeit. Aufgrund seiner späten Formulierung enthält er einige sehr moderne Rechte: So wurde als Nicht-‐Diskriminierungsmerkmal die „sexuelle Ausrichtung“ aufgenommen. Auch enthält die Charta ein neuartiges Recht auf eine gute Verwaltung (Art. 41 GrCh) und den expliziten „Schutz perso-‐ nenbezogener Dateien“ (Art. 8 GrCh). Insgesamt deckt die Charta klassische Freiheitsrechte und auch einige Solidaritätsbestimmungen (Titel IV) ab. Zudem nimmt sie die Bürgerrechte des Unionsbürgers mit in den Grundrechtskatalog auf. (Kapitel V) Auch justizielle Rechte dürfen nicht fehlen (Titel VI). Es gibt einen allgemeinen einheitlichen Schrankenvorbehalt in Art. 52 GrCh, der allerdings sehr undiffe-‐ renziert formuliert worden ist. Im Wesentlichen müssen Beschränkungen gesetzlich geregelt werden, zu von der EU anerkannten Gemeinwohlzwecken erfolgen, den Wesensgehalt achten und verhältnismäßig sein. Zudem müssen die Grundrechte der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR entsprechend ausge-‐ legt werden. Art. 51 GrCh regelt den Anwendungsbereich der Charta: Demnach sind an die in der Charta enthaltenden Grundrechte ausnahmslos alle Organe und Einrichtungen der Union gebunden, während die Mitglieds-‐ staaten nur dann unter die Bindung der Charta fallen, wenn sie Unionsrecht durchführen. Wann letzteres genau der Fall ist, ist in der Literatur und auch zwischen Karlsruhe und Luxemburg heftig umstritten. In der Rs. C-‐617/10 Åkerberg Fransson machte der EuGH seine Position deutlich: Art. 51 GrCh sei weit auszulegen, die „Durchführung des Unionsrechts“ umfasse demnach jede nationale Vorschrift oder Maßnahme, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt. Damit genügt jeder Berührungspunkt mit Unionsrechts um die Mitgliedsstaaten einer autonomen unionalen Grundrechtskontrolle zu unter-‐ werfen. Dies ging dem BVerfG zu weit, sodass es in seiner Entscheidung zur Anti-‐Terror-‐Datei (1 BvR 1215/07) eine verfassungskonforme Lesart dieser EuGH-‐Rechtsprechung forderte. Eine „Durchführung von Uni-‐ onsrechts“ sei nicht schon dann gegeben, wenn ein „sachlicher Bezug … zum bloß abstrakten Anwen-‐ dungsbereich des Unionrechts“, bzw. nur „rein tatsächliche Auswirkungen auf das Unionsrecht“ beste-‐ hen. Stattdessen sei Art. 51 GrCh auf sogenannte „agency situations“ beschränkt, in denen mitgliedstaat-‐ liches Handeln durch Unionsrecht determiniert wird. Eine solche Determinierung liege nur vor, wenn das Unionsrecht durch ein Gebot, Verbot oder eine inhaltliche Ausgestaltung das nationale Recht bestimmen würde. Das BVerfG ist der potenziellen Ausweitung der mitgliedsstaatlichen Bindung an die Grundrechtecharta durch die Åkerberg Fransson-‐Entscheidung somit entschieden entgegen getreten, bisher hat der EuGH hierauf nicht reagiert. Es gilt weitere Grundrechtsverfahren vor dem EuGH rund um die Frage der Bin-‐ dung von Mitgliedsstaaten an die Charta abzuwarten. b) Struktur: Die Grundrechtscharta ist wie folgt strukturiert: Präambel Titel I: Würde des Menschen Titel II: Freiheiten Titel III: Gleichheit Titel IV: Solidarität Titel V: Bürgerrechte Titel VI: Justizielle Rechte Titel VII: Allgemeine Bestimmungen über die Auslegung und Anwendung der Charta c) Offene Fragen Die Charta bietet auch nach ihrer Verbindlichkeit kein Rechtsinstrument einer deutschen Verfassungsbe-‐ schwerde vergleichbar. Es wird sich in Zukunft herausstellen, ob ein effektiver Rechtsschutz auf Europäi-‐ scher Ebene auch in verfahrensrechtlicher Hinsicht gewährt werden wird. Die Hürden einer Nichtigkeits-‐ klage liegen für den Einzelnen grundsätzlich weiterhin sehr hoch, sodass auch eine Verletzung eigener Grundrechte vor dem EuGH nur in den seltensten Fällen gerügt werden kann. Bedenken ergeben sich im Schrifttum auch an der Verhältnismäßigkeitsprüfung durch den EuGH. So wird – auch von Deutschland – zumeist die oberflächliche Prüfung der entsprechenden Maßnahme in der Verhältnismäßigkeit gerügt. Art. 52 GR-‐Charta gibt insoweit einen Maßstab vor. Es bleibt abzuwarten, inwieweit der EuGH seiner hieraus entstehenden Verpflichtung nachkommen wird. Spannung versprechen zukünftige Entscheidungen des EuGH, in denen das Verhältnis der Grundfreihei-‐ ten zu den Grundrechten behandelt wird. Die Entscheidungen Schmidberger und Omega oder auch Viking und Laval verdeutlichen, dass die Grundrechte den Grundfreiheiten gleichermaßen entgegenge-‐ stellt werden können. In diesem Bereich sind noch einige Fragen offen. IV. Gegenwärtiger grundrechtlicher Schutz auf Unionsebene 1. Einzelne wichtige Grundrechte a) Grundrecht auf Eigentum In der Rechtssache 4/73 (Nold) untersuchte der Gerichtshof eine Verletzung des Eigentumsrechts unter Einbeziehung der nationalen Verfassungsüberlieferungen. Dabei stellte er fest, dass der Schutzbereich des Rechts auf Eigentum in allen Verfassungen ähnlich ist, jedoch auch Einschränkungsmöglichkeiten im öffentlichen Interesse bestünden. Im konkreten Fall übertrug der Gerichtshof diese Einschränkungsmög-‐ lichkeiten ins Unionsrecht. Demzufolge kann das Eigentumsrecht zugunsten des Unionsinteresses einge-‐ schränkt werden. Von Relevanz ist daneben die Rechtssache 44/79 (Hauer), in der der Gerichtshof zunächst feststellte, dass in das Eigentum sowohl durch Entzug als auch durch Beschränkung eingegriffen werden kann. An-‐ hand der EMRK und ihres 1. Zusatzprotokolls stellte er fest, dass aus Gründen des Gemeinwohls eine Einschränkung zulässig ist, solange sie auch verhältnismäßig ist. Das Eigentumsrecht wird heute explizit durch Art. 17 Grundrechtecharta geschützt. b) Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung Unbestritten existiert auf Unionsebene das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung. In den Rechtssachen 46/87 und 227/88 (Hoechst) musste sich der Gerichtshof mit der Frage beschäftigen, in-‐ wieweit dieses Grundrecht auch auf Geschäftsräume anwendbar ist. Konkret ging es um die Durchsu-‐ chung von Geschäftsräumen der Firma Hoechst durch die Kommission. Der EuGH stellte fest, dass das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung nur auf private Räume, nicht jedoch auf Geschäftsräume erstreckt werden könne. Weder könne eine rechtsvergleichende Betrachtung der Verfassungen der Mit-‐ gliedsstaaten noch die Einbeziehung von Artikel 8 Absatz 1 der EMRK zu dem Ergebnis führen, auch Ge-‐ schäftsräume vom Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung umfasst zu sehen. In Deutschland ist dies anders. Hier sind Geschäftsräume ebenfalls umfasst. Es besteht in diesem Fall also keine Gleichheit von dem Grundrechtsschutz, den das Grundgesetz bietet, und dem des Unionsrechts. In der Grundrechtecharta wird der Schutz der Wohnung, dem allgemeinen Schutz des Privat-‐ und Famili-‐ enlebens gemäß Art. 7 zugerechnet. c) Gleichheitsgrundsatz Artikel 157 AEUV (141 EGV) Wenn eine der Gewährleistungen im EG-‐Vertrag am ehesten Grundrecht-‐Charakter hat, dann der Gleichheitsgrundsatz aus Artikel 157 AEUV. Als einziges „echtes Grundrecht“ im geschriebenen Unions-‐ recht garantiert er gleiches Entgelt für Männer und Frauen für gleichwertige Arbeit. Ursprünglich wurde der Gleichheitsgrundsatz nur eingeführt, um Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden. Aus diesem Grund handelt es sich daher auch nicht um ein Grundrecht in diesem Sinne, welche ja primär Abwehr-‐ und Schutzfunktion für den Einzelnen haben. Der EuGH hat allerdings die enorme sozialpolitische Bedeu-‐ tung des Gleichheitsgrundsatzes in seiner Rechtsprechung (Rechtsache 43/75, Defrenne II) anerkannt. Die Rechtsprechung des EuGH war es auch, welche den Grundsatz –im Zusammenspiel mit Gleichstel-‐ lungsrichtlinien– nach und nach erweitert hat. Der Grundrechts-‐Charakter gründet sich auf die Tatsache, dass Artikel 157 AEUV –obwohl er dem Wort-‐ laut nach an die Mitgliedsstaaten gerichtet ist– unmittelbare und horizontale Wirkung für einzelne EU-‐ Bürger entfaltet. Dies ist vor allem im Arbeitsrecht im Bereich der kollektiven und individuellen Arbeits-‐ verträge von erheblicher Bedeutung. Ähnlich wie die Grundfreiheiten erfasst Artikel 157 AEUV auch mittelbare Diskriminierungen. Dies ist in etwa dann der Fall, wenn die fragliche Maßnahme zwar an geschlechtsunspezifische Merkmale anknüpft (zum Beispiel nur Teilzeitbeschäftigte betrifft), aber tatsächlich erheblich mehr Angehörige eines Ge-‐ schlechts benachteiligt (weil beispielsweise fast nur Frauen teilzeitbeschäftigt sind). Ist die jeweilige Maßnahme dann objektiv nicht zu rechtfertigen, so ist sie stets rechtswidrig. Um die Gleichberechtigung am Arbeitsplatz zu verwirklichen, wurde eine Reihe von Richtlinien erlassen. Von Bedeutung sind vor allem die RL 76/207, welche vor allem die Gleichbehandlung beim Zugang zur Beschäftigung und beruflichem Aufstieg regelt. Nach ihr ist jede Diskriminierung aufgrund des Ge-‐ schlechts, insbesondere aufgrund des Ehe-‐ und Familienstands, verboten. Wichtig ist daneben die RL 97/80. Demnach muss in arbeitsrechtlichen Prozessen der Arbeitgeber anhand objektiver Kriterien be-‐ weisen, dass tatsächlich keine Diskriminierung vorliegt. Der Arbeitnehmer muss lediglich die an statisti-‐ schen Daten orientierte Vermutung einer Diskriminierung erbringen. Dies stellt eine Beweislastumkehr zu Gunsten des Arbeitnehmers dar. Für gewöhnlich müsste in einem Prozess nämlich der Kläger (hier also der Arbeitnehmer) die Beweise für seine Klage erbringen. Vor der Richtlinie begründete bereits die Rechtsprechung des Gerichtshofes eine derartige Beweislastumkehr (Rechtsache 109/88, Danfoss). d) Schutz personenbezogener Daten Dieses moderne Recht aus Art. 8 GrCh ermöglicht es der EU in dem aktuell stark diskutierten Feld der „Big Data“ eine Vorreiterrolle einzunehmen. Das Recht auf den Schutz personenbezogener Daten geson-‐ dert vom Recht auf die Achtung des Privatlebens zu regeln, verleiht diesem Grundrecht eine besondere Bedeutung. Angesichts der vielen aktuellen Bedrohungen durch Internet, Suchdienste wie Google und der Sammelwut von Nachrichtendiensten scheint diese Hervorhebung durchaus angebracht. So spielte Art. 8 GrCh auch eine wichtige Rolle für das vernichtende Urteil des EuGH zur Vorratsdaten-‐ speicherung (C-‐ 293/12 und C-‐594/12). Der Gerichtshof erklärte die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung für nichtig, da die Verpflichtung zur Vorratsspeicherung und die Ausgestaltung des Zugangs der nationalen Behörden zu den gespeicherten Daten einen besonders schwerwiegenden und damit nicht mehr verhältnismäßigen Eingriff in die Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und auf den Schutz personenbezogener Daten darstellte. Im Google-‐Urteil (C‑131/12) leitete der EuGH sogar ein „Recht auf Vergessenwerden“ aus dem Schutz personenbezogener Daten in Verbindung mit dem Recht auf Achtung des Privatlebens ab: Diese Rechte aus Art. 7 und 8 GrCh überwiegen demnach „grundsätzlich nicht nur gegenüber dem wirtschaftlichen Interesse des Suchmaschinenbetreibers, sondern auch gegenüber dem Interesse der breiten Öffentlich-‐ keit am Zugang zu der Information bei einer anhand des Namens der betroffenen Person durchgeführten Suche.“ Somit ist Google grundsätzlich verpflichtet, veraltete Informationen, die die Grundrechte der betroffenen Person beeinträchtigen, aus seinen Suchergebnissen zu löschen. Ausnahmen können sich aus besonderen Gründen – wie der Rolle der betreffenden Person im öffentlichen Leben, soweit ein überwiegendes Interesse der breiten Öffentlichkeit daran besteht, „über die Einbeziehung in eine derar-‐ tige Ergebnisliste Zugang zu der betreffenden Information zu haben“. 2. Grundrechtsgleiche Gewährleistungen Neben den Grundrechten bestehen auf Unionsebene Rechtsgrundsätze, welche dem Einzelnen Gewähr-‐ leistungen bringen. Sie gehören zwar nicht zu den Grundrechten selbst, haben aber deren rechtlichen Charakter. Dazu gehören • die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung; • der Grundsatz des ne bis in idem, nach dem die doppelte Strafbarkeit verboten ist, man also für eine Straftat auch nur einmal bestraft werden kann; • die Grundsätze des Anspruchs auf rechtliches Gehör und auf effektiven gerichtlichen Rechtschutz sowie der Anspruch auf ein faires Verfahren vor Gericht; • der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, nach dem Rechtsakte der Unionsorgane nur rechtmäßig sind, solange sie zur Erreichung des verfolgten Zieles angemessen und erforderlich sind sowie • der Grundsatz des Vertrauensschutzes, wobei jedoch die Ausnahmen der Rückforderung von rechtswidrigen Beihilfen sowie der Rücknahme von Verwaltungsakten aufgrund EG-‐Rechts (auch wenn diese schon rechtskräftig sind) beachtet werden müssen.
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