Victoria Helene Bergemann - Gepökelter Krustenbraten

Victoria Helene Bergemann,
Siegertext beim Poetry Slam-Abend am 11.3.2016 in der KulturStellmacherei
Gepökelter Krustenbraten
In Anbetracht der Tatsache, dass ich bis jetzt jeden Morgen meines Lebens
Actimel getrunken habe, dass meine Familie so glücklich ist, weil wir morgens
immer auf einer sonnigen Waldlichtung gemeinsam Rama essen, der Gehweg
gerade gefegt, der Rasen frisch gemäht und da draußen ein kleiner grüner
Kaktus vor meinem Fenster steht. In Anbetracht der Tatsache, dass wir wieder
einen Bürgermeister von der CDU haben, der hier für Sicherheit sorgt und einen
grantigen Nachbarn mit Gehstock, der hier für Disziplin und Ordnung sorgt, und
nicht nur hier, nein vor allem auch beim Treffen des „Vereins der Pensionäre im
verdienten Wohl- und Ruhestand“, wo sich 40 alte Leute in Ralph LaurentWindeln, den Gehwagen vor sich her, das Golfbag hinter sich herziehend
treffen, um auf einem Fernseher, so groß wie eine ihrer Villen, gemeinsam
klassische Literaturverfilmungen aus den 60er-Jahren zu schauen. In Anbetracht
all dieser Ordnung und Ruhe sollte ich doch zufrieden sein.
Und ich bin jetzt 55 Minuten mit der S-Bahn gefahren, nur um hier festzustellen,
dass ich noch weitere 45 auf meinen Bus warten muss, mit dem ich dann noch
30 Minuten fahre. Und ich habe mich an dieser Haltestelle umgesehen und
ungelogen 19 Rentner und zwei Leute unter 65 gezählt. Und 19 Rentner2 + der
monatliche Umsatz der örtlichen Apotheke x Anzahl der Polizeieinsätze wegen
verwechselter oder geklauter Gehwagen bei Kirchenveranstaltungen – 2 +
Anzahl der Köpfe mit Dauerwellen und/oder Regenhauben= 100%
Überalterung.
Aber hier geht trotzdem die Party ab, ich habe Heinz, Hannelore und HaraldHorst gefragt. Heute sind Heinz und Hannelore auf der Party von Harald-Horst
in Hertas Gasthof und lernen neue Leute kennen. Und nächste Woche sind
Harald-Horst und Heinz bei der Party von Hannelore in Hertas Gasthof und
lernen neue Leute kennen. Die Woche danach ist die Party von Heinz, es gibt
nenKäseigel. Und sie haben nicht nur Freunde in Neuschönningstedt, wie man
vielleicht denken könnte, nein, auch in Ohe und Büchsenschinken. Wie man
merkt, stehen Internationale Kontakte hier im Vordergrund, aber natürlich auch
Abwechslung.
Es gibt hier bestimmt sogar noch Leute, die myspace oder irgendein vz benutzen
und ihre Posts über sich selbst in der 3. Person schreiben und dahinter lol und
rofl, roflcopter, Smileys mit Nase schreiben und nie hashtags benutzen, weil sie
2008 in ihrer virtuellen Entwicklung stehen geblieben sind.
Und dann diese krasse Lokalband, die Crazy Crackers, die bei jeder Hochzeit
und jedem 80.Geburtstag auftreten und die hier verdammt viel zu tun haben.
Bei deren Fans sieht man nie „Ich will ein Kind von euch“-Schilder, weil die
Fans die Wechseljahre vor ca. 20 Jahren hinter sich gelassen haben, aber
immerhin können sie froh sein, dass sie zu den wenigen Leuten hier gehören, die
Englisch können, weil sie ja sonst die „verrückten Salzgebäckstücke“ hießen.
Und dann diese krassen Jugendlichen, die sich nachmittags um 15 Uhr zum 18.
Geburtstag treffen, dann ein Brettspiel spielen und eine Polonäse zu Katy-PerrySongs bilden und über Witze aus der Geolino lachen.
Und sicherlich können ihre Mütter es sich leisten, Hausfrauen zu sein und jeden
Tag einen roadtrip in ihrem SUV vom Edeka zum dm unternehmen.
Früher waren die Leute hier mal Frischfleisch, aber heute sind sie nur noch
gepökelter Krustenbraten.
Und ich habe Angst,auch mal so zu werden, denn der Zauber, der mich davor
schützt, wirkt ja nicht mehr, wenn die Hexe, die ihn gesprochen hat, stirbt, und
es ist nicht unwahrscheinlich, dass sie bald vor lauter Apotheken-Umschau lesen
eingeht.
Vorort, wir haben ein Problem. Hier möchten nicht mal gescheiterte
Schweinefleischproduktionskonzernführer untertauchen, die an jedem anderen
Ort der Welt von einer Horde aggressiver Tierschützer verfolgt würden, die
würden das Risiko auf sich nehmen, nur um nicht hierher zu müssen. Ich habe
von Menschen aus der Seitenstraße gehört, die nach Fukushima gezogen sind,
damit ihre Kinder besser aufwachsen können als hier.
Und ja, ich habe es schon bemerkt – ich bringe Glamour in dieses Dorf.
Trotzdem würde ich so gerne hier weg, aber der nächste Bus fährt erst morgen.
Wie gern hätte ich jetzt wenigstens ein Glas Nutella zu Hause, um es mit
meinem Frust auszulöffeln, aber es ist schon 17 Uhr, der Laden hat längst zu.
Und wenn ich sage, ich komme aus Hamburg, aber ne, eigentlich nur aus nem
Vorort, dann ist das, als würde ich sagen: „Ja, ich kann kochen, aber nur
Tütensuppe!“.
Ich halte es wie diese verrückte Frau am Bahnhof, die aussieht wie eine
Mischung aus einer stark gealterten Version von Ronja Räubertochter und einem
Neandertaler, die immer die Leute anschreit, dass sie hässliche Taschen haben
und hasse einfach alles hier.
Und eines Tages mal werde ich Landflucht betreiben, um die Urbanisierung
anzukurbeln, an einem anderen Ort ein besseres Leben anzufangen, aber dank
meiner käsigen Hautfarbe und arischen Abstammung trotzdem nicht dafür
gehasst zu werden.
Ich werde mir ein paar Butterbrote schmieren und rechtzeitig aufbrechen, um
meinen Bus für heute nicht zu verpassen. Bis meine Mutter in ihrem zu kurzen
Nachthemd und Biolatschen an den Gartenzaun gelaufen kommt und ruft, ob
ich denn schon mein Zimmer aufgeräumt hätte, aber ich werde einfach
weiterlaufen. Und 10 Meter später anhalten und mir denken: „Scheiße, ich hab
noch nicht mein Zimmer aufgeräumt!“ und wieder umkehren, denn in
Anbetracht der Tatsache, dass das hier meine Heimat ist, dass ich leider fast alle
Werte hier gelernt, fast alle Erfahrungen hier gemacht habe, gehör ich doch
eigentlich hierher.
Und hey, es ist schlimm, aber es ist immer noch nicht MV.
Und in Anbetracht der Tatsache, dass ich das denke, lässt sich auch erklären,
wie es sein kann, dass so viele traurige Seelen für immer hier versacken, seit 40
Jahren im selben Ort wohnen, so grau und so bequem.
Und in Anbetracht all dieser Bequemlichkeit sollte ich doch eigentlich zufrieden
sein.