Warum werden Banken vom Staat reguliert und beaufsichtigt?

Raffael Meli
Strafprozessrecht II – Lehrstuhl Jositsch – FS 2015
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Der Begriff neuer Tatsachen oder Beweismittel gemäss
Art. 410 Abs. 1 lit. a StPO
I.
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Die Revision (auch Wiederaufnahme) ist ein ausserordentliches, unvollkommenes und subsidiäres sowie nicht suspensives Rechtsmittel1. Mit ihr können nach Art. 410 Abs. 1 StPO ein formell
rechtskräftiges Urteil, ein Strafbefehl, einen nachträglichen richterlichen Entscheid oder einen
Entscheid im selbständigen Massnahmenverfahren nachträglich aufgehoben werden (Anfechtungsobjekt) 2. Der Zweck der Revision ist die Überprüfung eines rechtskräftig beurteilten Falles,
wenn Revisionsgründe die Korrektur einer unrichtigen Sachverhaltsfeststellung anzeigen 3. Mit
der Wiederaufnahme wird der Grundsatz der formellen und materiellen Rechtskraft eines Urteils
zugunsten der Verwirklichung der materiellen Wahrheit und Gerechtigkeit durchbrochen 4. Sie
stellt ein Zugeständnis an die Einzelfallgerechtigkeit dar und ist aus Gründen der Rechtssicherheit nur unter strengen Voraussetzungen zulässig 5.
II.
2
Neue Tatsachen und Beweismittel
Eine Revision ist nach Art. 410 Abs.1 lit. a StPO möglich, wenn neue Tatsachen und Beweismittel
geltend gemacht werden, welche vom ursprünglichen Gericht bei seinem Entscheid, insbesondere bei der Beurteilung des Schuldpunkts oder bei der Strafzumessung, nicht berücksichtigt
wurden 6. Die Revisionsgründe der neu eingetretenen Tatsachen und der neuen Beweismittel
(sog. Nova) können alternativ vorliegen oder sich überschneiden, weil sich das neue Beweismittel regelmässig auf neue, bisher nicht berücksichtigte Tatsachen bezieht 7.
1.
3
Allgemeines
Tatsachen
Tatsachen stellen in der Praxis den hauptsächlichen Anknüpfungspunkt für eine Revision nach
Art. 410 Abs. 1 lit. a StPO dar 8. Gemäss der Botschaft zur StPO ist unter Tatsache im Sinne von
Art. 410 StPO „jeder Umstand zu verstehen, der im Sachverhalt des Urteils berücksichtigt werden
kann“ 9. Dazu zählen alle Fakten, Vorgänge oder Zustände, auf denen das Urteil basiert 10. Tat-
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SCHMID NIKLAUS, Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, 2. Aufl., Zürich 2013
(zit.: SCHMID, Handbuch), N 1582; OBERHOLZER NIKLAUS, Grundzüge des Strafprozessrechts, 3. Aufl.,
Bern 2012 (zit.: OBERHOLZER), N 1637.
DONATSCH ANDREAS/SCHWARZENEGGER CHRISTIAN/WOHLERS W OLFGANG, Strafprozessrecht, 2. Aufl.,
Zürich 2014 (zit.: DONATSCH/ SCHWARZENEGGER/ W OHLERS), § 13/ 2.13.
FINGERHUTH THOMAS, in Donatsch Andreas/Hansjakob Thomas/Lieber Viktor (Hrsg.), Kommentar zur
Schweizerischen Strafprozessordnung (StPO), 2. Aufl., Zürich 2014 (zit.: BEARBEITER/IN, Kommentar
StPO, Art. XX StPO N YY), Art. 410 StPO N 1.
JOSITSCH DANIEL, Grundriss des schweizerischen Strafprozessrechts, Zürich 2009 (zit.: JOSITSCH),
N 656.
HEER MARIANNE, in: Niggli Marcel Alexander/Heer Marianne/Wiprächtiger Hans (Hrsg.), Basler Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung und Jugendstrafprozessordnung, Art. 196 –
457 StPO und Art. 1-54 JStPO, 2. Aufl., Basel 2014 (zit.: BEARBEITER/IN, BSK-StPO, Art. XX StPO
N YY), Art. 410 StPO N 4.
BGE 120 IV 246, E. 2b; DONATSCH/ SCHWARZENEGGER/ W OHLERS, § 13/ 2.13.
SCHMID NIKLAUS, Schweizerische Strafprozessordnung: Praxiskommentar, 2. Aufl., Zürich 2013
(zit.: SCHMID, Praxiskommentar), Art. 410 StPO N 13.
SCHMID, Handbuch, N 1592; HEER, BSK-StPO, Art 410 StPO N 47.
Botschaft zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts vom 21. Dezember 2005, BBl 2006, 1085 ff.
(zit.: Botschaft StPO), S. 1319.
HEER, BSK-StPO, Art 410 StPO N 47.
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sachen können die Täterschaft sowie die objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale begründen oder sich auf Rechtfertigungs- oder Schuldausschlussgründe und weitere Voraussetzungen der Strafbarkeit beziehen 11.
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Revisionstaugliche Tatsachen müssen geeignet sein, den Sachverhalt in einem anderen Licht
erscheinen zu lassen 12. Nebst den Haupttatsachen sind auch Indizien, aus welchen Tatsachen
abgeleitet werden, und Hilfstatsachen, die einen Schluss auf die Zuverlässigkeit eines Beweismittels erlauben 13, revisionstauglich. Tatsachen haben sich nicht zwingend auf den Sachverhalt
an sich zu beziehen 14. Dementsprechend gilt auch das dem Verurteilten zugeschriebene Alter
(bspw. wenn der Verurteilte irrtümlicherweise als strafunmündig bzw. als Erwachsener angesehen wird) als Tatsache 15. Blosse Verfahrens- oder Schreibfehler fallen hierbei jedoch nicht in
Betracht. Tatsachen können sich auch auf Beweisfragen beziehen. So stellt der Wegfall eines
Beweismittels, wie etwa der Widerruf belastender Angaben eines Zeugen, eine neue Tatsache
dar. Ebenfalls können in der Revision Tatsachen geltend gemacht werden, welche das Erinnerungsvermögen eines Zeugen beeinflussen können 16.
5
Eine neue Tatsache muss nicht für sich alleine revisionstauglich sein, sondern kann mit mehreren zusammen geltend gemacht und zur Begründung einer Revision herangezogen werden.
Diese sind dann einer Gesamtwürdigung zu unterziehen, wobei zu prüfen ist, ob sie in ihrer Gesamtheit erheblich sind (siehe dazu N 16) 17.
6
Das Verfahren einer nachträglichen Anordnung der Verwahrung (Art. 65 Abs. 2 StGB) richtet
sich nach Art. 410 StPO. In diesem Zusammenhang sind einzig Tatsachen relevant, welche sich
auf die Voraussetzung einer Verwahrung nach Art. 64 StGB beziehen 18. Von Bedeutung sind
somit nur jene Tatsachen, die in der Person des betroffenen liegen und verwahrungs- und gefährlichkeitsbegründender Natur sind 19.
2.
7
Beweismittel
Mit den Beweismitteln werden Tatsachen nachgewiesen und sind diesen deshalb für die Möglichkeit der Revision gleichgestellt 20. Durch die Eingabe von Beweismittel soll die rechtsanwendende Behörde überzeugt werden, dass eine bestimmte Tatsache vorliegt oder nicht gegeben
ist 21. Unter Beweismittel sind all jene zu verstehen, welche im 4. Titel der StPO (Art. 139 ff. StPO)
genannt werden 22. Zusätzlich fallen auch Erfahrungssätze, wissenschaftliche Erkenntnisse sowie Sätze der Logik und Mathematik darunter 23. Beweismittel in der Revision beziehen sich meistens auf Tatsachen, die bereits Gegenstand des früheren Verfahrens waren 24.
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DONATSCH ANDREAS/SCHMID NIKLAUS, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich: vom
4. Mai 1919, Zürich 1996 (zit.: DONATSCH/SCHMID), § 449 N 10.
FINGERHUTH, Kommentar StPO, Art. 410 StPO N 56.
Vgl. zum Begriff der Indizien und Hilfstatsachen: DONATSCH/ SCHWARZENEGGER/ W OHLERS, § 6/ 1.
HEER, BSK-StPO, Art 410 StPO N 47.
DONATSCH/SCHMID, § 449 N 10.
HEER, BSK-StPO, Art 410 StPO N 49.
Vgl. zum Ganzen: DONATSCH/SCHMID, § 449 N 10.
STRATENWERTH GÜNTER/WOHLERS W OLFGANG, Schweizerisches Strafgesetzbuch Handkommentar,
3. Aufl., Bern 2013, Art. 65 StGB N 3.
Urteil 6B_404/2011 des Bundesgerichts vom 2.03.2012, E. 2.
FINGERHUTH, Kommentar StPO, Art. 410 StPO N 57.
OBERHOLZER, N 772.
Botschaft StPO, S. 1319.
W ALDER HANS ULRICH, Die Wiederaufnahme des Verfahrens in Strafsachen nach Art. 397 StGB, in Berner Festgabe zum Schweizerischen Juristentag 1979, S. 345.
HEER, BSK-StPO, Art 410 StPO N 50.
Raffael Meli
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Mit der Revision soll grundsätzliche eine Korrektur eines unrichtigen Sachverhalts erreicht werden (vgl. N 1). Im Gegensatz dazu soll eine fehlerhafte Beweiswürdigung prinzipiell nicht Anlass
zu einer Revision geben können, da die Überprüfung von Ermessen schwer und deshalb nur mit
grosser Zurückhaltung vorzunehmen ist. Dieses Konzept der Revision wird insbesondere in der
Praxis zur Zulassung neuer Beweismittel ersichtlich 25. So gelten nach der Rechtsprechung des
Bundesgerichts neue Gutachten nicht als neue Beweismittel, wenn damit eine im früheren Verfahren geltend gemachte, aber nicht als erwiesen angenommene Tatsache belegt werden soll.
Dagegen kann die Revision auf ein neues Gutachten, gestützt werden, wenn dieses geeignet ist,
eine neue Tatsache zu beweisen 26. Es genügt aber nicht, wenn das neue Gutachten im Wesentlichen nur eine Kritik an der seinerzeitigen Würdigung der Beweise darstellt 27.
9
Ein neues Gutachten über alte Tatsachen stellte eine abweichende Bewertung früherer gutachtlicher Erkenntnis dar. Aufgrund des Grundsatzes, dass eine frühere Beweiswürdigung nicht einer
Revision unterzogen werden kann, ist das Bundesgericht mit der Anerkennung neuer Gutachten
zu alten Tatsachen sehr restriktiv 28. Es lässt eine Überprüfung eines vorhandenen Gutachtens
nur zu, wenn das neue Gutachten mit überlegenen Gründen vom bisherigen abweicht und klare
Fehler des früheren Gutachtens aufzeigt, die geeignet sind, die Beweisgrundlage des Urteils zu
erschüttern 29.
3.
Neuheit der Tatsachen und Beweismittel
10 Neu i.S.v. Art. 410 Abs. 1 lit. a StPO heisst grundsätzlich, dass diese Tatsachen oder diese
Beweismittel zwar zum Zeitpunkt der Urteilsfällung bereits bestanden haben, vom Gericht aber
nicht zur Grundlage seines Urteils gemacht worden sind 30. Tatsachen sind demzufolge neu,
wenn sie bereits vor dem Entscheid eingetreten sind, der rechtsanwendenden Behörde aber zum
Zeitpunkt der Entscheidfindung nicht bekannt waren 31. Tatsachen die nach dem fraglichen Urteil
eingetreten sind, sind nicht neu und können im Revisionsverfahren nicht berücksichtigt werden 32.
Beweismittel sind neu, wenn sie noch nicht ins Verfahren eingebracht wurden und damit dem
Richter nicht in irgendeiner Form zur Beurteilung vorlagen 33. Umstände, die nur einem einzelnen
Mitglied eines Kollegialgerichts bekannt waren, sind als neu zu bewerten. Erst wenn Tatsachen
oder Beweismittel dem gesamten Spruchkörper bekannt sind, können sie vom Gericht berücksichtigt werden 34.
11 Neu bedeutet, dass ein Entscheid auf Unkenntnis und nicht auf Willkür beruht, es geht um eine
fehlende Wahrnehmung des Gerichts 35. Entscheidend ist nur die Optik des Gerichts 36. Es kommt
lediglich darauf an, dass das Gericht keine Kenntnis von den neuen Tatsachen oder Beweismittel
hatte. Selbst wenn der Verurteilte davon wusste spielt dies keine Rolle 37. So ist eine Revision
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Vgl. zum Ganzen: HEER, BSK-StPO, Art 410 StPO N 3.
BGE 101 IV 247, E. 2.
Pra. 92/2003 Nr. 38, S. 184; OBERHOLZER, N 1643.
HEER, BSK-StPO, Art. 410 StPO N 63 und 74.
BGE 137 IV 59, E.5.1.2.
HEER, BSK-StPO, Art. 410 StPO N 34.
Urteil 6B_342/2011 des Bundesgerichts vom 23.08.2011, E. 5.1; BGE 130 IV 72, E.1; BGE 116 IV 353,
E. 3.a.
Botschaft StPO, S. 1319; OBERHOLZER, N 1643.
FINGERHUTH, Kommentar StPO, Art. 410 StPO N 58.
MARXEN KLAUS/TIEMANN FRANK, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, 3. Aufl., Heidelberg 2014, 56.
HEER, BSK-StPO, Art. 410 StPO N 38.
BGE 116 IV 353, E. 3a.
BGE 69 IV 138, E. 4 und ständige Rechtsprechung; OBERHOLZER, N 1641.
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begründet, wenn Tatsachen bzw. Beweismittel dem Gericht anhand der Akten oder anlässlich
der Hauptverhandlung nicht unterbreitet und somit bei der Urteilsfindung nicht berücksichtigt wurden, selbst wenn die Möglichkeit dazu bestanden hätte 38. Auch wenn im früheren Verfahren bewusst eine Tatsache zurückgehalten wurde, besteht keine Präklusion. Dies wird vom Bundesgericht damit begründet, dass der Angeklagte nicht die primäre Behauptungslast trägt. Allerdings
besteht eine Einschränkung, insofern als rechtsmissbräuchliches Verhalten des Gesuchstellers
keine Beachtung findet. So wurden bspw. ein Revisionsgesuch als rechtsmissbräuchlich qualifiziert, in welchem die fragliche Tatsache bereits mit der Einsprache gegen einen Strafbefehl hätte
vorgebracht werden können 39. Generell können Revisionsgesuche nicht dazu dienen, rechtskräftige Entscheide immer wieder in Frage zu stellen oder gesetzliche Vorschriften über die
Rechtsmittelfristen zu umgehen 40.
12 Tatsachen oder Beweismittel, die aus den Akten oder Verhandlungen hervorgehen, können
ebenfalls neu sein, wenn sie dem Gericht unbekannt geblieben sind. Voraussetzung ist allerdings, dass der Richter im Falle ihrer Kenntnis anders entschieden hätte und dass er nicht willkürlich entschieden hat 41. Eine fehlende Auseinandersetzung mit vorgetragenen Tatsachen oder
Beweismitteln in der Urteilsbegründung, vermag allerdings keine Revision zu rechtfertigen 42. Es
besteht die Vermutung der Aktenkenntnis des Gerichts. Das Gegenteil einer im angefochtenen
Urteil festgestellten Tatsache gilt grundsätzlich als vom Gericht mitgedacht und damit als berücksichtigt. Wird ein Aspekt in der Urteilsbegründung nicht diskutiert, ist sogar im Zweifelsfall davon
auszugehen, dass er dem Gericht bekannt sei 43. In solchen Fällen obliegt es dem Gesuchsteller
die Nichtbeachtung von Tatsachen, die aus den Akten ersichtlich sind, besonders zu begründen.
Der Richter muss sich nicht mit jeder Einzelheit und jedem Argument ausdrücklich auseinandersetzen 44.
13 Alte Tatsachen können zusammen mit anderen neuen Tatsachen oder Beweismitteln noch ein
weiteres Mal vorgebracht werden, wenn sie gemeinsam mit den anderen neuen Tatsachen oder
Beweismitteln erheblich sein können. Umgekehrt kann die Neuheit einer Tatsache nicht mit der
Begründung verneint werden, der Gesuchsteller berufe sich zu deren Beweis auf ein altes Beweismittel 45. Wurde ein bereits früher vorhandenes Beweismittel in wesentlichen Punkten nicht
ausgeschöpft (bspw. wenn einem Zeugen in der Beweisabnahme wesentliche Fragen nicht gestellt worden sind), gilt dieses ebenfalls als neu 46.
14 Neuheit liegt bei Tatsachen oder Beweismitteln nicht vor, wenn sie vom Richter geprüft wurden,
dieser daraus aber nicht die richtigen Schlüsse gezogen, ihre Tragweite falsch gewürdigt hat
oder sich nicht bewusst war, was die Tatsache oder das Beweismittel aufzeigen sollte 47. Auch in
antizipierter Beweiswürdigung als nicht relevant erachtete oder nur als Hypothese in Betracht
38
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SCHMID, Handbuch, N 1594.
BGE 130 IV 72, E. 2.3 in Pra. 94/2005 Nr. 15.
Vgl. zum Ganzen: HEER, BSK-StPO, Art. 410 StPO N 42.
BGE 122 IV 66, E. 2b; Urteil 6B_342/2011 des Bundesgerichts vom 23.08.2011.
SCHMID, Handbuch, N 1594.
BGE 122 IV 66, E. 2b.
FINGERHUTH, Kommentar StPO, Art. 410 StPO N 58.
AESCHLIMANN JÜRG, Einführung ins Strafprozessrecht, Bern 1997, N 1946; BGE 116 IV 353, E. 3b.
HEER, BSK-StPO, Art. 410 StPO N 35.
Botschaft StPO, S. 1319; BGE 116 IV 353, E. 3a.
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gezogene Tatsachen sind nicht neu 48. Eine falsche Würdigung des Sachverhalts oder der Beweise muss mit den gegen die zur Anfechtung des Strafentscheids zur Verfügung stehenden
Rechtsmittel (in erster Linie die Berufung) angefochten werden 49.
15 Gemäss dem Wortlaut von Art. 410 Abs.1 lit. a StPO müssen neue Tatsachen bereits vor dem
(früheren) Entscheid eingetreten sein. Streng genommen stellt ein nach der rechtskräftigen Verurteilung abgelegtes Geständnis deshalb keine neue, revisionsrechtlich relevante Tatsache dar,
weil dieses im Zeitpunkt der Fällung des Urteils noch nicht bestanden hat 50. In der Lehre ist
jedoch umstritten, ob ein nachträgliches Geständnis eine Revision ermöglichen kann. Nach einem Teil der Lehre stellt ein nachträgliches Geständnis – aufgrund des Wortlauts von lit. a –
keine revisionsrechtlich relevantes Novum dar, sondern es wird bloss als spätere Entwicklung
angesehen, die nicht zur Begründung einer Revision herangezogen werden kann 51. Die wohl
herrschende Lehre ist jedoch der Ansicht, dass ein nach rechtskräftiger Verurteilung abgelegtes
Geständnis sehr wohl ein Revisionsgrund darstellt 52. Ihre Begründung stützt sich darauf, dass
auch der nachträgliche Widerruf eines Geständnisses (siehe dazu auch N 4) als revisionsrechtlich bedeutsames Novum allgemein anerkannt ist 53. Konsequenterweise hat das Gleiche dann
auch für einen Zeugen, der früher von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machte
und nun aussagen will oder der im Gegensatz zu früher nun erreichbar ist, zu gelten.
16 Sämtliche neuen Tatsachen und Beweismittel müssen geeignet sein, einen Freispruch, eine we-
sentlich mildere oder strengere Bestrafung der verurteilten Person oder eine Verurteilung des
Freigesprochenen herbeizuführen (Art. 410 Abs.1 lit. a StPO). Es handelt sich also um relative
Revisionsgründe 54.
III.
Keine Revisionsgründe
17 Prozessvoraussetzungen sind weder Tatsachen noch Beweismittel i.S.v. Art. 410 Abs. 1
lit. a StPO, da sie keine Auswirkung auf den dem Urteil zugrunde liegenden Sachverhalt haben.
Die Revision richtet sich nur gegen die materielle Urteilsgrundlage und nicht gegen formelle Verfahrensmängel. Mit der Revision kann jedoch geltend gemacht werden, dass ein Rechtsmittel
entgegen dem früheren Entscheid rechtzeitig eingereicht worden sei 55.
18 Eine falsche Rechtsanwendung oder neue rechtliche Überlegungen können nicht mit der Revi-
sion geltend gemacht werden (siehe auch N 14). Selbst eine Gesetzesänderung oder eine mittlerweile eingetretene Änderung der Rechtsprechung sind keine Revisionsgründe. Rechtsirrtümer
in rechtskräftig gewordenen Entscheiden sind unabänderlich. Die Revision ist für eine Überprüfung oder Änderung der rechtlichen Würdigung unzulässig, sondern es soll damit nur der dem
Urteil zugrundeliegende Sachverhalt, der als unrichtig erachtet wird, korrigiert werden 56.
19 Die Gefährlichkeit eines Straftäters im Sinne des Massnahmenrechts ist als Wertung zu qualifi-
zieren, sie ist weder eine neue Tatsache noch ein neues Beweismittel. Dasselbe trifft auch auf
eine juristisch relevante Persönlichkeitsstörung als Voraussetzung für eine Massnahme i.S.v.
Art. 59 StGB zu 57.
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BGE 80 IV 42.
SCHMID, Praxiskommentar, Art. 410 StPO N 13.
DONATSCH/ SCHWARZENEGGER/ W OHLERS, § 13/ 2.13.
FINGERHUTH, Kommentar StPO, Art. 410 StPO N 54.
SCHMID, Handbuch, N 1595; HEER, BSK-StPO, Art. 410 StPO N 58; OBERHOLZER, N 1645; vgl. auch
BGE 133 IV 342, E, 2.1 am Ende.
HEER, BSK-StPO, Art. 410 StPO N 58.
Vgl. zum Begriff des relativen Revisionsgrundes: JOSITSCH, N 559.
Vgl. zum Ganzen: FINGERHUTH, Kommentar StPO, Art. 410 StPO N 54.
Vgl. zum Ganzen: OBERHOLZER, N 1640.
HEER, BSK-StPO, Art. 410 StPO N 51.
Raffael Meli
Strafprozessrecht II – Lehrstuhl Jositsch – FS 2015
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Eigenständigkeitserklärung
Hiermit erkläre ich, dass ich die vorliegende schriftliche Arbeit selbstständig und nur unter Zuhilfenahme der in den Verzeichnissen oder in den Anmerkungen genannten Quellen angefertigt
habe. Ich versichere zudem, diese Arbeit nicht anderweitig als Leistungsnachweis verwendet zu
haben. Eine Überprüfung der Arbeit auf Plagiate unter Einsatz entsprechender Software darf
vorgenommen werden.
22. Mai 2015
Raffael Meli