Kleine Mathematik des Treppenbaus, DEGA 45/2002

ARBEITSVERFAHREN
Hauszugangstreppe und Treppe in
den Olivenhain bei einem Projekt in
der Provence
Planung einer Treppenanlage
mit 93 Steigungen (Günter
Mader, Elke Zimmermann)
Treppen sind
ein wesentlicher
Bestandteil von
Gartenanlagen mit
Höhenunterschieden. Deren
Errichtung ist eine
anspruchsvolle Bauleistung, der
langjährige technische Erfahrungen
zugrunde
liegen.
Treppenbau
Teil I: Kleine
Mathematik
des Treppenbaus
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E
ine
der
wichtigsten
Grundlagen der Treppenplanung ist die „Steigungsformel“. Hierin liegt die
Sicherheit, Bequemlichkeit und
Funktionstüchtigkeit
einer
Treppe begründet. In der „Bauentwurfslehre“ von Ernst Neufert (1. Auflage 1936, 36. Auflage 2000), einem weltweit bekannten, inzwischen in 13
Sprachen übersetzten Standardwerk der Planungsliteratur,
heißt es: Die Festlegung des
Steigungsverhältnisses
von
Treppen erfolgt seit alters her
nach der Formel:
1 Schritt = 2 Steigungen +
1 Auftritt = 61 bis 64 cm
Mit der Frage nach geeigneten
Stufenabmessungen befasste
man sich schon in der Antike.
Der römische Architekturtheoretiker Vitruv (1. Jhd. v. Chr.)
empfahl in seinem Werk „De
Architectura“ Steigungshöhen
zwischen 23 und 25 cm und
Auftrittsmaße zwischen 46
und 61 cm. Nach unserem
Empfinden sind Treppen mit
diesen
Stufenabmessungen
reichlich unbequem. Wer die
Kaiserthermen in Trier, das Kolosseum in Rom oder den Parthenon in Athen besucht, kann
sich davon überzeugen, dass im
Altertum beim Hinaufsteigen
einer Treppe eine gute Kondition gefordert war.
Der französische Architekturtheoretiker Jacques-François
Blondel (1616-1686) untersuchte Treppen erstmals nach
dem Kriterium der Bequemlichkeit und definierte dabei jenen Zusammenhang zwischen
Schrittmaß und Steigungsverhältnis, den Ernst Neufert als
eine „seit alters her“ bekannte
Regel bezeichnete. In seinem
1675 erschienenen Werk
„Cours d' Architecture“ veröffentliche Blondel seine Steigungsformel.
Blondelsche Formel
in der Revision
Obgleich die von Blondel entwickelte Formel heute noch an
den Hochschulen gelehrt wird,
Grundlage zahlreicher Vorschriften, Normen und Verord-
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nungen ist und immer wieder
neu in den Fachbüchern ihren
Niederschlag findet, bedarf sie
aus verschiedenen Gründen
der Revision und Erweiterung,
zumal aus der Sicht des Gartenund Landschaftsbaus. Während
ein Architekt seine „kleine Mathematik des Treppenbaus“ unter Umständen auf die Zahlenkombinationen 16/31, 17/29
und 18/27 beschränken kann
und damit vom Kindergarten
übers Einfamilienhaus und
Bürogebäude bis zum Altersheim für alle Treppenplanungen eine gute Grundlage hat,
müssen Garten- und Landschaftsarchitekten wesentlich
flexibler sein, weil die topographischen Gegebenheiten immer wieder neu ausgeklügelte
Lösungen erforderlich machen.
Der deutsche Gartenarchitekt Alwin Seifert (18901972) fand zu einer Modifizierung der Blondelschen Formel.
In einem 1965 publizierten
Aufsatz stellte er klar, dass bei
Steigungshöhen unter 15 cm
die Formel nicht mehr anwendbar ist. Bei 13 cm hohen
Steigungen empfahl er eine
Auftrittsbreite von 42 cm, bei
10 cm eine Auftrittsbreite von
54 cm.
Die Menschen sind in den
letzten Jahrzehnten größer geworden. Damit veränderte sich
auch ihr Schrittmaß. In aktuellen Feldversuchen hat sich ergeben, dass das Schrittmaß bei
Männern unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher
Größe heute zwischen 58 und
81 cm liegt und bei Frauen
zwischen 58 und 74 cm. Im
statistischen Durchschnitt ist
heute nicht mehr von 61 bis
64 cm, sondern von 67 bis
70 cm als durchschnittlichem
Schrittmaß auszugehen.
Die Betrachtungen von Blondel und auch von Neufert beziehen sich vor allem auf Treppen in Gebäuden oder im unmittelbaren Zusammenhang
mit Gebäuden. Während die
Steigungshöhen hier üblicherweise in einem sehr eng begrenzten Bereich zwischen
16 und 18 cm variieren, sind in
der Freiraumplanung Maße
zwischen 10 und 17 cm üblich.
Generell sind Treppen in Gar-
RICHTWERTE
Unter Berücksichtigung aller
bekannten Faktoren, zahlreicher eigener Aufmaße von gut
und schlecht hinauf- und hinabzusteigender Treppen und
aufgrund eigener Planungserfahrungen halte ich heute bei
Treppen im Freiraum folgende
Werte für empfehlenswert.
Aus Gründen der Entwässerung und eines körpergerechten Bewegungsablaufs werden die Stufen im Freiraum
mit 2 bis 5 % Gefälle eingebaut. In der Baupraxis heißt
das 1 cm Neigung bei 30 cm,
und 2,5 cm bei 50 cm tiefen
Stufen.
In der nebenstehenden Tabelle
bleibt das Gefällemaß unberücksichtigt. Die angegebene Höhe bezieht sich auf die
vorderseitig messbare Höhe
der einzelnen Stufen.
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ARBEITSVERFAHREN
länge herleiten. Eine Missachtung dieser Regel und beliebig
ausgeführte Podestlängen haben verhängnisvolle Folgen.
Podestlänge = n x Schrittmaß
+ 1 Auftritt (n steht für ganze
Zahl, also ein ganzes Vielfaches)
Treppen ohne Podeste
Treppe der Via dei Priori
in Perugia/I mit
65 Steigungen 10/52 und
2,5 cm Stufengefälle
Die vielen ungewöhnlich
flachen Treppen in Perugia
sind allesamt sehr schön
und bequem
DER AUTOR
GÜNTER MADER
geboren 1950, ist Dipl.Ing. Freier
Architekt und an der Fachhochschule
Karlsruhe Dozent für Freiraumplanung. Gartenprojekte im In- und
Ausland. Zahlreiche Buch- und Zeitschriftenpublikationen zu den
Themen Architektur, Städtebau,
Garten und Landschaft.
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Der Bau einer Treppe
bedarf eines
QUALIFIZIERTEN
AUSFÜHRUNGSPLANS
tenanlagen und im öffentlichen
Freiraum flacher als in Gebäuden. Eine 17 cm hohe Stufe
wird im Gebäude als bequem
empfunden, im Freiraum jedoch als relativ hoch. Der große
französische Gartenkünstler
André le Nôtre (1613-1700)
benutzte ein Steigungsverhältnis von 15/40 cm. Die 135 Stufen der „Spanischen Treppe“
im Zentrum von Rom (gebaut
1726) haben ein Steigungsverhältnis von circa 11,6/45 cm.
Die Treppe entspricht in keiner
Weise der Blondelschen Formel, ist aber dennoch bequem,
sicher und schön.
Treppenpodeste
Der italienische Architekt und
Theoretiker der Renaissance
Leon Battista Alberti empfiehlt
in seinen „Zehn Büchern zur
Baukunst“ (1450) grundsätzlich ungerade Stufenzahlen zu
verwenden. Nach seiner Auffassung vereint „ein guter Architekt“ nie mehr als sieben
oder neun Stufen zu einem
Treppenlauf und unterbricht
die Treppe dann mit einem Podest, einem „Ruheplatz für Erschöpfte“. Einen großen Vorteil
der Podeste sah Alberti darin,
dass „die Heftigkeit des Sturzes
gemildert wird, falls jemand
stürzt.“ Im Hinblick auf die Sicherheit fordern heute die verschiedenen europäischen Bauordnungen (und in Deutschland die DIN 18065), dass ein
Treppenlauf nicht mehr als
18 Stufen haben darf und dann
mit einem Zwischenpodest zu
unterbrechen ist.
Um einen zügigen und sicheren Bewegungsablauf zu gewährleisten, müssen Treppenpodeste – vor allem, wenn sie
nur wenige Schritte lang sind –
richtig bemessen werden. Mit
Hilfe der „Podestformel“ lässt
sich eine zweckmäßige Podest-
INFORMATION
Der zweite und dritte Teil von
Günter Maders „Treppenbau“
folgt in den Heften 47 und 49.
Erstaunlicherweise findet man
in historischen Stadtkernen immer wieder sehr lange Treppen
ohne jedes Zwischenpodest, die
trotzdem bequem und sicher zu
begehen sind. Es handelt sich
dabei um Treppen mit geringen
Steigungshöhen zwischen 8 und
12 cm. Alwin Seifert schreibt:
„Alle Treppen, auch die höchsten, müssen in einem Lauf
durchgehen, dürfen also nicht
durch Podeste unterbrochen
sein, es sein denn, dass Türen
oder Seitenwege angeschlossen
werden“. Wer die einzigartig
schöne, sich über mehr als 100
Stufen kontinuierlich hinziehende Treppe der Via Appia in
Perugia (Steigungsverhältnis
10/56 bis 60 cm) hinauf- oder
hinabsteigt, wird den Mut und
die Kunstfertigkeit der italienischen Treppenbaumeister bewundern und sich zum Vorbild
nehmen.
Treppenbreite
Die Breite einer Treppe hängt
von der jeweiligen Situation ab.
Im Hausgarten kann eine Breite von 60 cm sehr schön und
maßstäblich sein, im öffentlichen Freiraum, wo mit zwei
sich auf der Treppe begegnenden Personen zu rechnen ist,
sollte eine Laufbreite von
1,30 m nicht unterschritten
werden.
Der Bau einer größeren Treppenanlage bedarf eines qualifizierten Ausführungsplans mit
genauen Dimensions- und
Höhenangaben. Die Erstellung
eines solchen Planes mit Anwendung der verschiedenen
Formeln ist eine komplexe Aufgabe mit professionellem Anspruch.
Text und Bilder:
Günter Mader, Ettlingen
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