das ganze Interview vom 04.September 2015

Erschöpfte Helfer - Pflege fordert Körper und Seele
Witten/Herdecke (dpa/tmn) - "Ich schaff‘ das schon": Die Pflege ihrer Angehörigen zu
übernehmen, empfinden viele Menschen als Selbstverständlichkeit. Auf Dauer kann das
sehr belastend sein - körperlich und seelisch.
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ehr als 70 Prozent der 2,6 Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland werden
nach Angaben des Statistischen Bundesamts zu Hause versorgt. Die Pflege
fordert nicht nur körperlich. Auch die seelischen Belastungen können enorm sein.
Viele "rutschen" in die Pflege hinein, sagt Prof. Angelika Zegelin,
Pflegewissenschaftlerin an der Universität Witten/Herdecke im Vorfeld des
bundesweiten Aktionstages Pflegende Angehörige am 8. September.
Irgendjemand muss sich ja kümmern, wenn die Schwiegermutter nach einem
Schlaganfall halbseitig gelähmt aus der Reha entlassen wird, wenn der Vater immer
häufiger orientierungslos auf der Straße steht. Vorher abgesprochen und geplant
werde das nur selten: "Das Thema ist in den meisten Familien nach wie vor ein Tabu."
Die Bindung zwischen Pflegebedürftigem und Pflegendem ist sehr eng, beobachtet
Zegelin. Viele beantragen weder eine Pflegestufe noch lassen sie sich von
Pflegediensten unterstützen. Manche aus Angst vor den Kosten, manche auch aus
Scham. Sie rät, "von Anfang an ein Hilfsnetz zu knüpfen". Die ganze Familie muss sich
zusammensetzen und die Aufgaben verteilen, "damit nicht einer in der Pflege
ertrinkt".
"Viele Pflegende vergessen vor lauter Pflichtgefühl vollkommen sich selbst", erklärt
Gudrun Born. Die Frankfurterin pflegte 17 Jahre lang ihren Mann und begann damals
Selbsthilfe für Pflegende zu organisieren und schrieb zwei Bücher. Heute engagiert
sie sich vor allem in der Interessenvertretung "Wir pflegen".
Mühsam müssten Pflegende lernen, "sich von Zeit zu Zeit selbst entbehrlich zu
machen", sagt sie. Doch das ist schwer: "Man erlebt ja ständig die Hilflosigkeit des
Pflegebedürftigen mit und hat deshalb das Gefühl, ihn oder sie einfach nicht allein
lassen zu dürfen." Auch das Umfeld macht Druck: "Wie kannst Du hier beim Friseur
sitzen? Was ist, wenn während deiner Abwesenheit zu Hause etwas passiert?"
Die enge Beziehung bei der Pflege eines Familienangehörigen kann, weil man sich so
gut kennt, manches leichter machen. Aber auch - beispielsweise im Verhältnis
zwischen Eltern und Kindern - vieles schwieriger. "Die Rollenverteilung kehrt sich
um", erläutert Ursula Immenschuh, Professorin für Pflegepädagogik an der
Katholischen Hochschule Freiburg. "Früher waren die Eltern diejenigen, die sagten,
wo es langgeht. Jetzt sind sie plötzlich auf Hilfe angewiesen."
Dadurch brechen möglicherweise alte Konflikte neu auf, aber auch ganz praktische
Fragen können zum Problem werden. Es kostet Überwindung, für Vater oder Mutter
Körperpflege bis in den Intimbereich zu übernehmen, Ausscheidungen oder
Erbrochenes beseitigen zu müssen. "Zu erkennen, wo die eigenen Grenzen liegen, ist
ganz wichtig", sagt Immenschuh. "Pflegende müssen sich darüber klar werden, was
sie selber machen können und wo sie sich Entlastung holen." Konkrete Beratung gibt
es beispielsweise in den Pflegestützpunkten am Wohnort.
Pflege hat auch mit Schuldgefühlen zu tun, sagt Dorothee Unger. Die Psychologin
arbeitet bei der Beratungs- und Beschwerdestelle "Pflege in Not" in Berlin. "Man hat
dem Partner das Versprechen gegeben, immer für ihn zu sorgen. Oder glaubt den
Eltern etwas schuldig zu sein."
Sich zur Hilfe verpflichtet fühlen, aber aus Erschöpfung nicht mehr helfen können dieser Zwiespalt kann verzweifeln lassen oder auch aggressiv machen. "Manchmal
bekommen wir Anrufe von Menschen, die furchtbar über sich selbst erschrocken
sind, weil sie den Pflegebedürftigen angeschrien oder fester als sonst angefasst
haben."
Hinzu kommt die soziale Isolation. "Nicht selten gehen bei einer Jahre andauernden
Pflegesituation Freundschaften kaputt", ist die Erfahrung von Gudrun Born. Umso
wichtiger sei es, "Beziehungen zu pflegen, solange es einem gut geht". Dann ist es
leichter, sich in der Notlage ein entlastendes Hilfenetz aufzubauen.
Besonders hilfreich sind Kontakte zu anderen Betroffenen, nicht nur, weil diese
Menschen Ähnliches erleben, sondern auch "weil sie im Laufe ihrer Pflegejahre zu
Experten und Expertinnen ihrer Situation geworden sind, von ihrer Kompetenz
können weniger Erfahrene profitieren".
Wer erfolgreich mit Behörden um die Bewilligung von Hilfsmitteln gestritten hat oder
den Verlauf einer Krankheit über Jahre miterlebt hat, kann Wissen weitergeben. "Die
Pflege ist eine enorme Herausforderung", sagt Unger. "Am besten meistern sie
diejenigen, die ihre eigenen Bedürfnisse nicht aus den Augen verlieren."
Warnsignale für Überlastung
Einen Angehörigen zu Hause zu pflegen, ist nicht nur körperlich anstrengend. Es
kann auch psychisch eine Belastung sein. "Ständige Müdigkeit, Kopf-, Rücken- und
Bauchschmerzen, häufige Erkältungen, depressive Verstimmungen oder Angstgefühle
deuten auf Überforderung hin", sagt Dorothee Unger. Die Diplom-Psychologin arbeitet
bei der Beratungs- und Beschwerdestelle "Pflege in Not" in Berlin.
Vielleicht kann ein Pflegedienst in solchen Fällen das Waschen übernehmen und den
Pflegebedürftigen aus dem Bett in den Rollstuhl heben. In Betreuungsgruppen
kümmern sich geschulte Helfer einige Stunden um Demenzkranke. Ein
Kurzzeitpflegeplatz macht vielleicht sogar einen Urlaub möglich.
"Viele scheuen davor zurück, einen Teil der Pflege in andere Hände zu geben, und
viele kennen auch gar nicht die Möglichkeiten, die zur Verfügung stehen", beobachtet
Unger. Doch gerade solche Erholungspausen sind wichtig, damit der Pflegealltag nicht
auf Kosten der eigenen Gesundheit geht. © dpa
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