VI. Fabeln - Fabeltheorie / Epigramme 1. Fabeln 1.1. Historische Entwicklung der Gattung Im Jahrhundert der Aufklärung gehört die Fabel als belehrende Literaturform zu den charakteristischen Gattungen. Auch Lessing greift sie vor allem in ihrer didaktischen Leistungsfähigkeit auf. Ihr Wert liegt nicht in einer poetischen Qualität als vielmehr in der Lehrhaftigkeit, d. h. in ihrem moraldidaktischen Zweck. Das Grundkonzept der Fabel liegt in der Idee, durch die Evidenz einer Geschichte beispielhaft Wahrh eit zu illustrieren. Nach dem Vorbild von Jean de La Fontaine werden Fabeln zumeist in Versen geschrieben und sind gereimt - mit seinem Konzept einer schmucklosen Prosa -Fabel weicht Lessing davon bewusst ab. Der Ursprung der Fabeldichtung wird traditionell in der griechischen Antike lokalisiert: Als Begründer gilt der - allerdings historisch nicht greifbare - Sklave Aisopos (eventuell 6. Jh. v. Chr.). Als lateinische Autorität schreibt schließlich der griechischstämmige Sklave Phaedrus die äsopischen Fabeln in Versform um. Bis ins späte 17. Jahrhundert bleibt die an Äsop orientierte Fabel eine zwar populäre, aber doch auch aus gesprochen einfache und reizlose Gattung. Dann jedoch wird die volkstümliche Gattung durch den Franzosen Jean de La Fontaine in das klassizistische Literaturkonzept eingeführt und literarisch aufgewertet. Die Fabelstoffe entstammen weiterhin der Äsop-Tradition; La Fontaine poetisiert sie jedoch durch metrisch gebundene Sprache und Reime . In der Regel treten Tiere als vernünftige (= sprechende) Wesen auf, an denen ein falsches Verhalten exemplarisch vorgeführt wird. In Bezug auf die exemplifizierte Geschichte kann daraus jeweils ein moralischer Lehrsatz abgeleitet werden: VI Fabeln - Fabeltheorie / Epigramme . SS 08 Gotthold Ephraim Lessing Le Corbeau et le Renard Maître Corbeau, sur un arbre perché, Tenait en son bec un fromage. Maître Renard, par l'odeur alléché, Lui tint à peu près ce langage : Et bonjour, Monsieur du Corbeau, Que vous êtes joli ! que vous me semblez beau ! Sans mentir, si votre ramage Se rapporte à votre plumage, Vous êtes le Phénix des hôtes de ces bois. À ces mots le Corbeau ne se sent pas de joie, Et pour montrer sa belle voix, Il ouvre un large bec, laisse tomber sa proie. Le Renard s'en saisit, et dit : Mon bon Monsieur, Apprenez que tout flatteur Vit aux dépens de celui qui l'écoute. Cette leçon vaut bien un fromage sans doute. Le Corbeau honteux et confus Jura, mais un peu tard, qu'on ne l'y prendrait plus. 1 C. F. Gellert, bedeutendster deutscher Fabeldichter der 1740er Jahre (Fabeln und Erzählungen 1746-48), orientiert sich an dem Vorbild La Fontaines. Seine relativ langen und gereimten Fabeln deuten alte Stoffe detailliert aus und vermitteln eine allgemeine Botschaft: Das Pferd und die Bremse Ein Gaul, der Schmuck von weißen Pferden, Von Schenkeln leicht, schön von Gestalt, Und, wie ein Mensch, stolz in Gebärden, Trug seinen Herrn durch einen Wald; Als mitten in dem stolzen Gange Ihm eine Brems' entgegen zog, Und durstig auf die nasse Stange An seinem blanken Zaume flog. Sie leckte von dem heißen Schaume, Der heficht am Gebisse floß; »Geschmeiße!« sprach das wilde Roß, »Du scheust dich nicht vor meinem Zaume? Wo bleibt die Ehrfurcht gegen mich? Wie? darfst du wohl ein Pferd erbittern? Ich schüttle nur: so mußt du zittern.« Es schüttelte; die Bremse wich. Allein sie suchte sich zu rächen; Sie flog ihm nach, um ihn zu stechen, Und stach den Schimmel in das Maul. 1 Herr Rabe auf dem Baume hockt, / Im Schnabel einen Käs. / Herr Fuchs, vom Dufte angelockt, / Ruft seinem Witz gemäß: / »Ah, Herr Baron von Rabe, / Wie hübsch Ihr seid, wie stolz Ihr seid! / Entspricht auch des Gesanges Gabe / Dem schönen schwarzen Feierkleid, / Seid Ihr der Phönix-Vogel unter allen!« / Der Rabe hört's mit höchstem Wohlgefallen, / Läßt gleich auch seine schöne Stimme schallen. / Da rollt aus dem Rabenschnabel der Fraß / Dem Fuchs ins Maul, der unten saß. / Der lachte: »Dank für die Bescherung! / Von mir nimm dafür die Belehrung: / Ein Schmeichler lebt von dem, der auf ihn hört. / Die Lehre ist gewiß den Käse wert.« / Der Rabe saß verdutzt und schwor: / Das käm ihm nicht noch einmal vor. © www.literaturwissenschaft-online.uni-kiel.de 2 VI Fabeln - Fabeltheorie / Epigramme . SS 08 Gotthold Ephraim Lessing Das Pferd erschrak und blieb vor Schrecken In Wurzeln mit dem Eisen stecken Und brach ein Bein; hier lag der stolze Gaul. Auf sich den Haß der Niedern laden, Dies stürzet oft den größten Mann. Wer dir als Freund nicht nützen kann, Kann allemal als Feind dir schaden. 2 1. 2. Lessing als Fabeldichter- und theoretiker Lessing, der schon seit 1747 verstreut Fabeln – meistens als Versfabeln – publiziert hat, sammelt 1759 seine Prosa-Fabeln und gibt sie zusammen mit fünf gattungspoetologischen Abhandlungen heraus. Lessing sieht die Fabeldichtung in der Manier La Fontaines als Fehlentwicklung an. Seiner Auffassung nach ist die Fabel durch ihre Ausrichtung auf Nützlichkeit charakterisiert und soll im Interesse moralischer Deutlichkeit auf poetischen Schmuck verzichten. Fabeln befinden sich nämlich auf dem »gemeinschaftlichen Raine der Poesie und Moral«,3 stellen also keine genuin literarische Gattung dar. Zugunsten der Moral muss der poetische Reiz entschieden zurücktreten. Die Deutlichkeit der Lehre, auf die es entscheidend ankommt, darf nicht durch poetischen Schmuck (z. B. Reim) beeinträchtigt werden. Lessing plädiert daher für kurze Fabeln in schlichter Prosa. Dabei will er mit seinen teilweise selbstreferentiellen Fabeln die Leser zum eigenen kritischen Nachdenken aktivieren: Die Erscheinung In der einsamsten Tiefe jenes Waldes, wo ich schon manches redende Tier belauscht, lag ich an einem sanften Wasserfalle und war bemüht, einem meiner Märchen den leichten poetischen Schmuck zu geben, in welchem am liebsten zu erscheinen, la Fontaine die Fabel fast verwöhnt hat. Ich sann, ich wählte, ich verwarf, die Stirne glühte – – Umsonst, es kam nichts auf das Blatt. Voll Unwill sprang ich auf; aber sieh! – auf einmal stand sie selbst, die fabelnde Muse vor mir. Und sie sprach lächelnd: Schüler, wozu diese undankbare Mühe? Die Wahrheit braucht die Anmut der Fabel; aber wozu braucht die Fabel die Anmut der Harmonie? Du willst das Gewürze würzen. Gnug, wenn die Erfindung des Dichters ist; der Vortrag sei des ungekünstelten Geschichtschreibers, so wie der Sinn des Weltweisen. Ich wollte antworten, aber die Muse verschwand. »Sie verschwand? höre ich einen Leser fragen. Wenn du uns doch nur wahrscheinlicher täuschen wolltest! Die seichten Schlüsse, auf die dein Unvermögen dich führte, der Muse in den Mund zu legen! Zwar ein gewöhnlicher Betrug –« Vortrefflich, mein Leser! Mir ist keine Muse erschienen. Ich erzählte eine bloße Fabel, aus der du selbst die Lehre gezogen. Ich bin nicht der erste und werde nicht der letzte sein, der seine Grillen zu Orakelsprüchen einer göttlichen Erscheinung macht. 4 2 Gellert, Christian Fürchtegott: Das Pferd und die Bremse. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Kritische, kommentierte Ausgabe. Herausgegeben von Bernd Witte. Band I: Fabeln und Erzählungen. Herausgegeben von Ulrike Brandt und Bernd Witte unter Mitarbeit von Tanja Reinlein. Berlin – New York 2000, S. 84f. 3 Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln / Abhandlungen über die Fabeln. Herausgegeben von Heinz Rölleke. Stuttgart 1981 (rub 27), S. 7 4 Lessing: Fabeln / Abhandlungen über die Fabeln, S. 11f. © www.literaturwissenschaft-online.uni-kiel.de 3 VI Fabeln - Fabeltheorie / Epigramme . SS 08 Gotthold Ephraim Lessing In Lessings Fabeln kommen neben Tieren auch Menschen, mythologische Gestalten oder unbelebte Gegenstände vor. Insbesondere Tiere müssen bei ihrer Darstellung dem allgemeinen Bild, das man von ihrem Charakter hat, treu sein, damit die jeweilige Fabel Plausibilität besitzt: Aesopus und der Esel Der Esel sprach zu dem Aesopus: Wenn du wieder ein Geschichtchen von mir ausbringst, so laß mich etwas recht Vernünftiges und Sinnreiches sagen. Dich etwas Sinnreiches! sagte Aesop; wie würde sich das schicken? Würde man nicht sprechen, du seist der Sittenlehrer, und ich der Esel?5 Dass es in der Fabel auf didaktischen Gebrauchswert statt auf poetischen Reiz ankommt, macht Lessing in einer wohl gattungspoetisch zu deutenden Fabel deutlich, in der der Bogen symbolisch für die Gattung ›Fabel‹ steht: Der Besitzer des Bogens Ein Mann hatte einen trefflichen Bogen von Ebenholz, mit dem er sehr weit und sehr sicher schoß, und den er ungemein wert hielt. Einst aber, als er ihn aufmerksam betrachtete, sprach er: Ein wenig zu plump bist du doch! Alle deine Zierde ist die Glätte. Schade! – Doch dem ist abzuhelfen; fiel ihm ein. Ich will hingehen und den besten Künstler Bilder in den Bogen schnitzen lassen. – Er ging hin; und der Künstler schnitzte eine ganze Jagd auf den Bogen; und was hätte sich besser auf einen Bogen geschickt, als eine Jagd? Der Mann war voller Freuden. »Du verdienest diese Zieraten, mein lieber Bogen!« – Indem will er ihn versuchen; er spannt, und der Bogen – zerbricht. 6 1.2.1 Lessing: Abhandlungen über die Fabel In seinen fünf Abhandlungen zur Fabel, die zusammen mit den Fabeln gelesen werden sollen, erhebt Lessing einen normativen Anspruch. Mit dem Anspruch, sich auf die antike Tradition (Äsop) zu stützen, hält er seine Fabeltheorie für einzig richtig. Von dem Wesen der Fabel In der ersten Abhandlung Von dem Wesen der Fabel erläutert und kritisiert Lessing frühere Fabeltheorien, um schließlich zu seiner eigenen abschließenden Definition der Fabel zu kommen: Wenn wir einen allgemeinen moralischen Satz auf einen besondern Fall zurückführen, diesem besondern Falle die Wirklichkeit erteilen und eine Geschichte daraus dichten, in welcher man diesen Satz anschauend erkennt: so heißt diese Erdichtung eine Fabel.7 5 Lessing: Fabeln / Abhandlungen über die Fabeln, S. 26. Lessing: Fabeln / Abhandlungen über die Fabeln, S. 44. 7 Lessing, Fabeln / Abhandlungen über die Fabeln, S. 104. 6 © www.literaturwissenschaft-online.uni-kiel.de 4 VI Fabeln - Fabeltheorie / Epigramme . SS 08 Gotthold Ephraim Lessing Hervorzuheben sind dabei der Primat des moralischen Satzes (nur moralische Wahrheiten gehören zur Fabel!), die Einkleidung in eine als wirklich erzählte konkrete Geschichte und besonders die anschauende Erkenntnis. Darunter versteht Lessing, dass die Einsicht in die Lehre der Moral beinahe instinkthaft, intuitiv -vorrational, entstehen muss. Sie sollte also nicht erst das Ergebnis von Schlussfolgerungen sein, sondern sich unmittelbar bzw. spontan erschließen. Von dem Gebrauche der Tiere in der Fabel In dieser Abhandlung geht Lessing der Frage nach, warum die äsopischen Fabeln in der Regel – wenn auch nicht notwendig – Tierfabeln sind. Seiner Auffassung nach hängt dies entscheidend mit dem allgemein klar bekannten ›Charakter‹ der Tiere zusamm en, was im Vergleich zu der Heranziehung von Menschen die Verständlichkeit grundlegend vereinfacht. Tierfabeln erfordern kein besonderes Bildungswissen, sondern es genügt das allgemeine Weltwissen: Ich komme vielmehr sogleich auf die wahre Ursache, - die ich wenigstens für die wahre halte, warum der Fabulist die Tiere oft zu seiner Absicht bequemer findet, als die Menschen. - Ich setze sie in die allgemein bekannte Bestandheit der Charaktere. 8 Man hört: Britannicus und Nero. Wie viele wissen, was sie hören? Wer war dieser? Wer jener? In welchem Verhältnisse stehen sie gegen einander? - Aber man hört: der Wolf und das Lamm; sogleich weiß jeder, was er höret, und weiß, wie sich das eine zu dem andern verhält. 9 Dazu kommt, dass durch die Verwendung von Tieren das Geschehen verfremdet wird, was zu einer größeren Distanzierung führt. Leidenschaften, die nach Lessing mehr als alles andere die Einsicht beeinträchtigen, werden durch die Thematisierung von Tieren etc. vermieden, weil man an deren Schicksal kaum Anteil nimmt. Von dem Vortrage der Fabeln Lessing geht es bei seinen Fabeln nach eigener Aussage nicht um Belustigung, also ästhetischen Genuss und Unterhaltung. In Abgrenzung von La Fontaine und Gellert schreibt er seine Fabeln daher kurz und trocken in schmuckloser Prosa. Von einem besondern Nutzen der Fabeln in den Schulen 8 9 Lessing: Fabeln / Abhandlungen über die Fabeln, S. 110. Lessing: Fabeln / Abhandlungen über die Fabeln, S. 110f. © www.literaturwissenschaft-online.uni-kiel.de 5 VI Fabeln - Fabeltheorie / Epigramme . SS 08 Gotthold Ephraim Lessing Fabeln lassen sich nach Lessing in Schulen besonders gut einsetzen. Wenn Schüler selbst Fabeln erfinden oder äsopische Fabeln modifizieren, werden sie zum kreativen Weiterdenken angeregt. Bei dem Versuch, sein Fabelkonzept historisch mit dem Rückgriff auf Äsop zu legitimieren, unterläuft Lessing insofern ein Fehler, als er nicht wirklich auf äsopische Originaltexte zurückgreift. Seine Quelle ist vielmehr der byzantinische Mönch und Grammatiker Maximus Planudes (ca. 1260-1300), der in seiner fiktiven Vita Aesopi Bearbeitungen vorgelegt hat. 2. Epigramme Ähnlich wie bei den Fabeln verfährt Lessing auch beim Epigramm: Er verbindet eigene Werke mit gattungspoetologischen Überlegungen und stützt sich auf eine antike Autorität (hier der römische Epigrammatiker Martial). Lessing übersetzt für ›Epigramm‹ mit »Sinngedicht« und versteht darunter Folgendes: Ich sage nemlich: das Sinngedicht ist ein Gedicht, in welchem, nach Art der eigentlichen Aufschrift, unsere Aufmerksamkeit und Neugierde auf irgend einen einzeln Gegenstand erregt, und mehr oder weniger hingehalten werden, um sie mit eins zu befriedigen. 10 Entscheidend für ein Epigramm - bei dem es nicht auf eine Lehre oder Moral, sondern auf Geistreichtum und Esprit ankommt – ist die Verbindung von Spannungsaufbau und plötzlicher Spannungslösung in der Pointe. Erwartung und Aufschluss sind damit die maßgeblichen Kennzeichen des Epigramms: Auf das Jungfernstift zu ** Denkt, wie gesund die Luft, wie rein Sie um dies Jungfernstift muß seyn! Seit Menschen sich besinnen Starb keine Jungfrau drinnen. 11 Auf einen adeligen Dummkopf Das nenn’ ich einen Edelmann!° Sei Ur-Ur-Ur-Ur-Älterahn War älter Einen Tag, als unser aller Ahn. 12 10 Lessing, Gotthold Ephraim: Zerstreute Anmerkungen über das Epigramm, und eine der vornehmsten Epigrammatisten. In: Ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Herausgegeben von Wilfried Barner zusammen mit Klaus Bohnen u.a. Band 7: Werke 1770–1773. Herausgegeben von Klaus Bohnen. Frankfurt am Main 2000 (Bibliothek deutscher Klassiker 172), S. 179–290, hier S. 185. 11 Lessing, Gotthold Ephraim: Sinngedichte. In: Gotthold Ephraim Lessings vermischte Schriften. Erster Teil. Berlin 1771 bei Christian Friedrich Voß, S. 1–81, hier S. 12. 12 Ebd., S. 16. © www.literaturwissenschaft-online.uni-kiel.de 6
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