Versuchung und Rettung vor dem Bösen Christian Hagen Und führe uns nicht in Versuchung, sondern rette uns vor dem Bösen! Die siebte Bitte des „Unser Vater“ Mt 6, 13 1 Versuchung und Rettung vor dem Bösen Christian Hagen Liebe Gemeinde, Viele Stimmen hören wir in der Bibel. Viele Stimmen, die sich nicht immer einig sind, die sich auch widersprechen können, die sich gegenseitig korrigieren. Die Bibel ist eben nicht nur ein Buch – die Bibel ist eine Bibliothek mit vielen Büchern. Zum Thema Versuchung möchte ich einige dieser Stimme mal zu Wort kommen lassen. Die eine Stimme gehört dem Jakobus, der sagt: „Keiner, der in Versuchung gerät, soll sagen: Ich werde von Gott in Versuchung geführt. Denn Gott kann nicht in die Versuchung kommen, Böses zu tun, und er führt auch selbst niemand in Versuchung.“ (Jak 1,13) Die andere Stimme sagt etwas völlig Verschiedenes: „Danach versuchte Gott den Abraham.“ (Gen 22,1) Eine dritte Stimme spricht: „Da ward Jesus von dem Geist in die Wüste geführt, auf dass er von dem Ankläger (Diabolos) versucht werde.“ (Mt 4,1). Mindestens drei Möglichkeiten sehen die unterschiedlichen biblischen Autoren also, wenn es um das Thema Versuchung geht. Erstens: Gott führt niemanden in Versuchung. Zweitens: Gott selbst führt in Versuchung. Drittens: Gott lässt Versuchung zu; wie bei Jesus und beispielhaft in der Lehrerzählung Hiob. Die Frage, ob Gott selbst in Versuchung führt, ist deshalb nicht eindeutig zu beantworten. Und das ist gut so. Denn so kann unser Gottesbild immer wieder in Frage gestellt und zu Recht gerückt werden. Einerseits werden wir davor bewahrt, Gott als Willkürherrscher zu sehen, der einfach mal so jemanden in Versuchung bringt – zur eigenen Belustigung quasi. Andererseits sollten wir Gott aber auch nicht verniedlichen als Liebesmaschine, die uns doch immer nur in Watte packt und uns keine Prüfungen auferlegt. Beides stimmt nämlich nicht. Gott bleibt uns rätselhaft. Wir können Ihn nicht fassen. Seine Wege sind unergründlich. Martin Luther meinte angesichts dieser Bitte des „Unser Vater“ übrigens, dass Gott eben auch eine „dunkle“ Seite habe oder uns zumindest manchmal dunkel erscheine; vielleicht sogar „grausam“. Es ist auch gar nicht entscheidend, ob Versuchungen jetzt von Gott ausgehen oder nicht. Tatsache ist, dass wir als Menschen ständig von Versuchungen heimgesucht werden. Die Welt ist und bleibt ein Kampfplatz. Der Kampf, den wir austragen, ist schwer; manchmal unerträglich schwer. Wir sind zwar begnadigte Sünder, gerechtfertigte Sünder, aber eben auch immer noch Sünder. Aus drei Richtungen werden wir als solche angegriffen. 1. Der erste Angreifer ist das eigene Herz. Hier wachsen die Gier und der Egoismus heran, hier reifen Angst und Misstrauen. Es gibt da keine Entschuldigung. Das meint Jakobus auch, wenn er schreibt, niemand solle die Schuld auf Gott wälzen, wenn er versucht werde. Denn bei Jakobus geht es um die richtige oder falsche Herzenshaltung, aus der Gutes oder auch Schlechtes hervorgehen kann. Sage nur ja keiner, das Schlechte in seinem Herzen sei von Gott in ihn hineingelegt worden. 2. Dann gibt es aber auch Versuchungen von aussen. 2 Versuchung und Rettung vor dem Bösen Christian Hagen a. Martin Luther nennt sie „Versuchungen von rechter und von linker Hand“. Es gibt Versuchungen von links: Man kann in Armut fallen, krank werden, in der Ehe scheitern, Schicksalsschläge erleiden, verleumdet werden. Und dann droht uns die Versuchung von links, die darin besteht, dass wir in unserem Elend die Gnade Gottes nicht mehr sehen, dass uns Gott nur noch dunkel erscheint. b. Aber schlimmer noch ist die Versuchung von rechts: Man kann reich werden, Karriere machen, kann sich Ruhm bei den Menschen anhäufen, berühmt und allseits geachtet werden. Dann trommelt die Versuchung ganz leise aber ohne Pause mit kleinen Fäusten auf uns ein, sodass wir schliesslich hochmütig und arrogant werden. Wir hören auf, dankbar zu sein und nehmen alles als selbstverständlich. Wozu brauche ich einen Gott? Ich selbst bin doch schon so herrlich! 3. Die dritte Art von Versuchung besteht in der Atmosphäre, in der man lebt; in der Luft, die man atmet. Wir leben ja alle in einer gewissen Atmosphäre, wir tragen alle den Stallgeruch unserer Familie und unserer Freunde mit uns herum. Diese Atmosphäre kann gut sein oder auch schlecht. Wir nehmen sie meist gar nicht wahr und merken nicht, wie wir von ihr geprägt werden. Schleichend geschieht es, dass wir uns ihr gleich machen, dass wir uns anpassen. Wir sollen sein wie Gott, heisst es. Aber wir werden allzu schnell wie die Gesellschaft um uns herum. Wir nehmen ihre Angewohnheiten an und ihr Denken. Manchmal drückt die Weltlast auf unsere schmalen Schultern und wir sind versucht, vor ihr in die Knie zu gehen und der Versuchung nachzugeben. Dann ist besonders wichtig, dass wir wissen: Wir sind nicht allein! Auch in der Versuchung ist Christus bei uns und unterstützt uns. Egal, ob nun Gott Ursache der Prüfung ist oder nicht, Er ist immer dabei und lässt uns nicht im Stich. Und noch eines: Wenn alles verloren scheint, wenn wir meinen, nicht mehr aufrecht stehen zu können, gibt uns Jesus Seine Worte in den Mund: „Rette uns vor dem Bösen! Erlöse uns von dem Bösen!“ Das ist der letzte Wunsch des Herren-Gebetes. Der Zusatz: „Denn Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit“ wurde erst später hinzugefügt und gehörte ursprünglich nicht zum „Unser Vater“. Das wissen wir heute und die meisten neuen Bibelübersetzungen erwähnen dies am Rande. Rette uns vor dem Bösen! Das sind die Schlussworte des Gebetes, das Jesus Seine Jünger gelehrt hat. Erlöse uns von dem Bösen! So lässt Er Sein Gebet ursprünglich enden. Das ist verstörend. Und weil es verstörend ist, haben die Christen bald den oben erwähnten Zusatz angefügt. Das Herren-Gebet sollte eben nicht mit einem Verzweiflungsschrei enden. Aber Jesus und seine Jünger brauchten diesen Schrei, um zu überleben. Sie wurden verfolgt, gepeinigt, verleumdet, eingesperrt, gefoltert und getötet. In so einer Situation ist der Schrei „Rette uns“ der einzig mögliche. In so einer Situation wird der Verzweiflungsschrei gleichsam zum Hoffnungsschrei. Ich schreie ja nur zu einem Retter und nach einem Retter, wenn ich hoffe, dass da draussen auch Rettung ist. Aber wir leben anders als die ersten Nachfolger. Wir haben es bequem und komfortabel. Keine Verfolgung, keine Folter, keine Inhaftierung, keine Verleumdung des Glaubens Willens, 3 Versuchung und Rettung vor dem Bösen Christian Hagen kein Todesurteil. Deshalb verstehen wir diese Bitte nicht. Wir spüren die Not hinter diesen Worten nicht. Im Alltag beten wir um ganz Anderes. Eine Million Kleinigkeiten können uns einfallen. Und bei ganz vielen Gebeten geht es um unseren Segen, oder eigentlich in Wahrheit um MICH. Gott, segne mich. Segne meinen Tag, meine Arbeit, meine Familie, mein Hobby etc. Das ist in Ordnung. Auch darum sollen wir beten. Wir möchten ja auch Lösungen für unsere alltäglichen Probleme. Aber wann beten wir „Rette uns vor dem Bösen“? Wann beten wir um Erlösung? Sehen wir denn nicht, dass diese Bitte heute Not tut? Sehen wir die Welt nicht, wie sie in Trümmern liegt und wie sie nach Erlösung seufzt? Sehen wir die verlorene Menschheit nicht? Müssten nicht gerade wir, die wir aus der Verlorenheit gerettet wurden, die Verlorenheit der Welt umso mehr sehen? Nein, gerade weil wir erlöst sind, sehen wir doch die Erlösungsbedürftigkeit der Menschen und der Welt. Und gerade deshalb schreien wir zu Gott: „Rette uns vor dem Bösen!“ Das heisst: Rette uns ALLE vor dem Bösen. UNS ALLE! Nicht nur mich! Befreie uns davon! UNS ALLE! Wir hörten schon bei der Bitte „Dein Reich komme“, dass es hier eigentlich um den Wunsch geht, dass Gottes Welt unsere Welt verdrängt, dass unsere Welt zu Ende geht und Sein Reich vollendet wird. Wenn wir nun beten: Rette uns vor dem Bösen, dann ist das die letzte Bitte, die Bitte um das Letzte. Es geht hier um nichts Geringeres als um das Ende überhaupt. Die jetzige Welt vergehe, die Bedrängnis vergehe, die Versuchung vergehe, das Böse vergehe. Das ganz Neue komme! In der Situation der Verfolgung konnten die ersten Christen diese Worte sicherlich mit ganzem Herzen beten. In einer Zelle sitzend und auf den qualvollen Tod wartend, unterdrückt von einem grausamen Imperium lässt es sich so sprechen: Rette uns vor dem Bösen! Mache ein Ende! Herr Jesus, komm! Bitte komm doch endlich. Auch die Christen im Nahen Osten, die heute verfolgt und ermordet werden, werden diese Worte schreiend beten. Herr, mach dem Morden ein für alle Mal ein Ende. Es ist genug. Genug Leid, genug Tod, genug Blutvergiessen. Komm doch endlich und mache diesem Elend ein Ende. Und wir? Können wir das auch beten oder haben wir es uns schon so gemütlich gemacht, dass wir das Ende eigentlich gar nicht möchten? Beten wir nur für die Lösung unserer Probleme oder beten wir auch für die Erlösung der Welt? AMEN 4
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