Predigt – Röm 5,1–5 Im Raum der Gnade

Predigt – Röm 5,1–5
Im Raum der Gnade
„Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus.“
Amen.
IM RAUM DER GNADE
Liebe Gemeinde,
Gnade sei mit euch … Nein: Gnade ist mit euch … Oder anders: Ihr seid drin, wir sind drin – in der Gnade.
So jedenfalls schreibt Paulus der Gemeinde in Rom: „… durch Christus haben wir auch den Zugang im
Glauben zu dieser Gnade, in der wir stehen …“. Ein Neutestamentler hat erläuternd übersetzt: „… haben
wir den Zugang zum Raum der Gnade, in dem wir stehen.“
Wie ist es, liebe Gemeinde, im Raum der Gnade? Wie sieht’s da aus und wie fühlt Ihr Euch darin? Was seht
Ihr, was hört Ihr im Raum der Gnade? Wie nehmt Ihr Euer Leben darin wahr – und wie diese Welt?
Ja, liebe Gemeinde, wie ist’s im Raum der Gnade? Oder anders: Was eigentlich heißt es, als Christenmensch
zu leben? Um nicht weniger geht es in den Versen aus dem Römerbrief, die wir vorhin schon als Lesung
gehört haben und die Sie auf Ihrem Faltblatt finden. Um nicht weniger geht es – also eigentlich: um alles!
COMPENDIUM VITAE CHRISTIANIS
In nur fünf Versen des Römerbriefs begegnen zehn große Worte:
Glaube, Friede, Gnade, Hoffnung, Herrlichkeit,
Bedrängnis, Geduld, Bewährung, (wieder) Hoffnung
Liebe, Herzen.
Dazu noch: Gott, Christus, Heiliger Geist.
Zehn große Worte. Und eine Art Kompendium des ganzen christlichen Lebens. Ich könnte heute in dieser
Predigt von allen Regeln abweichen, die ich Studierenden im Homiletischen Seminar beizubringen versuche,
und zum ersten Mal in meinem Leben eine Zehn-Punkte-Predigt halten, indem ich zu jedem dieser großen
Worte ein bisschen was sage, bis Sie sich dann alle erschöpft dem zehnten Punkt und dem „Amen“
entgegensehnen.
Ich könnte mich aber auch an die Aktion erinnern, die in der Passionszeit 2014 für einiges Aufsehen gesorgt
hat. Das Zentrum für evangelische Predigtkultur in Wittenberg forderte Predigerinnen und Prediger zu
„Sieben Wochen ohne große Worte“ auf. Man solle bewusst einmal auf die Großworte des christlichen
Glaubens verzichten, um anders zu reden und so hoffentlich mit den Gemeinden Neues zu entdecken.
Denn die großen Worte sind ja nicht falsch, aber eben groß und wie hohe Vögel am Himmel, die weit über
unseren Köpfen und noch weiter über unseren Herzen ihre Kreise ziehen.
Also: doch keine Zehn-Punkte-Predigt. Stattdessen: eine Rückkehr in den „Raum der Gnade“, von dem
Paulus kühn und entschlossen sagt, dass wir darin stehen.
RAUM DER GNADE – RAUM DER HOFFNUNG
Also: Sehen wir uns um in diesem Raum!
Was mir zuerst auffällt: da stehen wir, nicht ich allein. Da sind die Schwestern und Brüder im Glauben. Jetzt,
hier in der Kirchenbank. Ja, seht Euch um und seht sie Euch an: die Studierenden und die älteren Semester,
die Mitglieder unserer Universitätsgemeinde und die Gäste, die Touristen, die unsere Stadt heute besuchen.
Aber der Raum der Gnade ist größer, sprengt jede Kirchenmauer, greift weit hinaus in Zeit und Raum. Und
ich sehe darin die Menschen, die mich geprägt haben, mit denen ich einst Gebete sprach und Lieder sang
und die schon lange gestorben sind. Im Raum der Gnade stehen sie neben mir. Wenn ich mich umschaue,
sehe ich sie alle wieder. Und viele mehr. Irgendwo steht bestimmt auch Paulus. Martin Luther ist sicher auch
da und Martin Luther King. Und all die, deren Namen kaum jemand kennt.
Ja, seht Euch um: Es ist eine wirklich bunte Gruppe, die da versammelt ist. Vielen sieht man an, dass sie
wissen, was Leben heißt – im Guten, aber auch im Schlechten. Seit dem Jahr 2008 ist dieser Sonntag
Reminiscere der Sonntag der Fürbitte für verfolgte und bedrängte Christinnen und Christen. Christinnen
und Christen im Nahen und Mittleren Osten, in Eritrea, in Nigeria, in Teilen Asiens. Mit uns stehen sie im
Raum der Gnade.
Verfolgte und bedrängte Christen – auch die Gemeinde in Rom, an die Paulus schreibt, hätte man dazu
zählen können. Viele in dieser Gemeinde hatten Flüchtlingsbiographien, hatten die Stadt verlassen müssen
unter Kaiser Claudius. Verfolgt aus religiösen Gründen. Erst nach dem Tod dieses Kaisers konnten sie
zurückkehren.
Da stehen wir im Raum der Gnade – einem Raum, der jeden neuzeitlichen Subjektivismus sprengt und jede
Einsamkeit überwindet. Eines verbindet die überaus bunte Truppe im Raum der Gnade, sagt Paulus:
Hoffnung. „Hoffnung der zukünftigen Herrlichkeit, die Gott geben wird“. Deshalb ist es nicht still im Raum
der Gnade. Da wird „gerühmt“, Gott gelobt – in vielen Stimmen, in vielen Sprachen. „Wir rühmen uns der
Hoffnung …“
BLICKE AUF DIE GNADENLOSE WELT
Der Raum der Gnade, liebe Gemeinde, ist zeitlich und örtlich gesehen eine Art Zwischenraum. In der Welt,
nicht von der Welt. In der Zeit, unterwegs zur zukünftigen Herrlichkeit. Umso schmerzlicher ist’s, vom Raum
der Gnade auf die Welt zu sehen und die Nachrichten zu verfolgen, die Tag für Tag zeigen, wie gnadenlos es
unter uns zugeht.
In Rechenberg-Bienenmühle im Erzgebirge stellen sich am Donnerstagabend rund hundert Demonstranten
mehrere Stunden lang Parolen brüllend einem Bus in den Weg, der zunehmend und am Ende völlig
verängstigte Flüchtlinge in eine neue Unterkunft für Asylbewerber bringen will.
In Damaskus meint Baschar al Assad, dass es in wenigen Tagen sicher keinen Waffenstillstand geben könne.
Warum sollte es auch? Zu sehr freut sich der syrische Diktator über die neue Dimension seines Krieges
gegen die eigene Bevölkerung – nun mit russischer Feuerhilfe aus der Luft.
In Ankara explodieren Autobomben – und bei uns verlieren sich Politikerinnen und Politiker immer wieder
im Kleinklein des Parteiengezänks, anstatt gemeinsam nach Wegen zu suchen, ein zunehmend gespaltenes
Land zu einen und weiter an einem Europa zu bauen, damit es nicht innerhalb weniger Monate alles verliert,
was es über Jahre aufgebaut hat. Aber da diskutieren manche Medien lieber über die Frage, wie Günther
Oettinger und Frauke Petry eine Nacht miteinander ohne Schusswaffengebrauch aushalten würden.
Was ist mit der Hoffnung auf die zukünftige Herrlichkeit?
PAULUS POLITISCH – ODER: DIE LEIDENSCHAFT DER HOFFNUNG
Oft, liebe Gemeinde, wurden die Worte des Paulus, wurde seine Beschreibung des christlichen Lebens im
Gnadenraum ganz innerlich gelesen. Nach dem Motto: Schau halt nicht auf die Welt da draußen, freu dich
lieber, dass Du und Deine fromme Seele, dass ihr zwei im Raum der Gnade seid, gerecht geworden und mit
Gott im Frieden.
Aber man muss Paulus nicht so lesen. Im Gegenteil. Er weiß, wie es aussieht auf dieser Welt. Oft genug war
er selbst ein Opfer der Politik und ungerechter Justiz. Auch der Gemeinde in Rom muss er nichts
vormachen. Und tut es auch nicht. Zwei Kapitel vor unseren Versen wirft er ein schonungsloses Licht auf
die Welt, wie sie ist.
Alle, schreibt er, Juden wie Griechen, alle sind „unter der Sünde, 10 wie geschrieben steht: »Da ist keiner, der
gerecht ist, auch nicht einer. 11 Da […] ist keiner, der nach Gott fragt. 12 […] Da ist keiner, der Gutes tut,
auch nicht einer (Psalm 14,1–3). 13 Ihr Rachen ist ein offenes Grab; mit ihren Zungen betrügen sie (Psalm
5,10) […] 14 ihr Mund ist voll Fluch und Bitterkeit (Psalm 10,7). 15 Ihre Füße eilen, Blut zu vergießen; 16 auf
ihren Wegen ist lauter Schaden und Jammer, 17 und den Weg des Friedens kennen sie nicht (Jesaja 59,7–8)“
(Röm 3,9–17).
Das ist die Situation! Und gerade vom Raum der Gnade aus wird sie erkennbar. Von dort aus gesehen
entlarvt sich der Scheinfriede dieser Welt, die „Pax et Securitas“ des Römischen Reiches als leere Floskel
und das Tun und Leben der Menschen als Sünde.
Wer vom Frieden bei Gott spricht, kann von der Gewalt auf dieser Erde nicht schweigen. Wer vom Raum
der Gnade aus auf die Welt sieht, dem ist die gnadenlose Wirklichkeit nicht egal. Wer Gott im Himmel lobt,
fragt nach dieser Erde, wie es einst die Engel taten, als sie über dem Feld von Bethlehem sangen: „Ehre sei
Gott in der Höhe – und Friede auf Erden …“
WAS FOLGT AUF BEDRÄNGNIS?
Man könnte verzweifeln, wenn man vom Raum der Gnade auf diese Welt sieht. Soll man wirklich Hoffnung
haben? Und woher diese nehmen?
Interessant – gleich nachdem Paulus von Hoffnung gesprochen hat, spricht er von Bedrängnis.
Augenscheinlich gehört beides zusammen hier auf dieser Erde. Das eine nicht ohne das andere.
Paulus meint: Bedrängnis bringt Geduld, Geduld aber Bewährung, Bewährung aber Hoffnung. Und wieder:
Hoffnung! Nicht ohne Bedrängnis, sondern durch die Bedrängnis hindurch: Bedrängnis – Geduld –
Bewährung – Hoffnung.
Klingt gut. Aber sagt das Leben nicht etwas anderes? Was folgt auf Bedrängnis?
Bedrängnis bringt Einsamkeit, Einsamkeit aber führt zu Bitterkeit, Bitterkeit endet in Zynismus und
Weltdistanz!
Oder: Bedrängnis bringt Ungeduld, Ungeduld aber bringt Resignation, und Resignation ist die Schwester
der Verzweiflung.
Oder: Bedrängnis bringt Verstörung, Verstörung bringt Mutlosigkeit, Mutlosigkeit aber endet in der
Selbstaufgabe.
Was folgt auf Bedrängnis? Nein, es ist kein Automatismus, dass Bedrängnis zu Geduld, Geduld zu
Bewährung, Bewährung zu Hoffnung führt. Und es wäre zynisch, wenn wir Bedrängten, Leidenden einfach
empfehlen würden: Rühm dich doch einfach deiner Bedrängnisse! Steht schon in der Bibel! Und führt zur
Hoffnung! Nein – tut es nicht. Jedenfalls nicht automatisch und nicht immer.
CHRISTUS – DER GRUND DER HOFFNUNG
Aber dann geschieht etwas. Man kann es Wunder nennen. Jedenfalls handeln nicht Menschen, sondern
Gott. „… die Liebe Gottes“, schreibt Paulus, „ist ausgegossen in unsre Herzen durch den Heiligen Geist“.
Die Liebe Gottes – so sehr sie sich zur theologischen Floskel und leeren Rhetorik geistlich-nichtssagender
Beruhigung verwandeln kann, so sehr kann sie sich zugleich als dynamische Kraft erweisen. Näher als alles
andere, näher als jede Bedrängnis.
Die Liebe Gottes – sie ist mitten unter uns, in uns. Denn da ist Christus selbst. Nicht irgendwo. Nicht
jenseits der Welt! Nein: inmitten dieser Welt und aller Bedrängnis. Er geht den Weg der Liebe, der Hoffnung
bis in den Tod. Stirbt für uns, als wir noch Sünder waren. – Und bleibt nicht im Tod. Er stirbt für mich und
lebt mit mir und holt mich heraus aus Sünde und Tod, aus Einsamkeit und Gottesferne, aus armseligem
Hochmut und tiefer Verzweiflung. Das Kreuz wird zum Grund des Lebens, das Symbol abgrundtiefer
Gnadenlosigkeit zur Quelle der Gnade. „Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn
gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“
Mit ihm an der Seite ist diese Welt kein hoffnungsloser Ort. Und sind Christinnen und Christen immer auch
Protestleute gegen den Tod und lobsingende Hoffnungsträger auf dieser Erde – trotz allem und im
Angesicht von allem.
Im Krieg – und im Raum der Gnade
Was folgt auf Bedrängnis? Es ist Gottes Gnade, wenn darauf Hoffnung folgt.
Am 11. März 1945, kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs, predigte der evangelische Theologe Hans
Joachim Iwand in Dortmund zum fünften Kapitel des Römerbriefs. Nur einen Tag nach dieser Predigt
fielen mehr als 5000 Tonnen Bomben auf Dortmund verwandelten die Stadt in ein Trümmermeer. Iwands
Predigt einen Tag zuvor ist ein Zeugnis der Hoffnung inmitten der Bedrängnis des Krieges. Er sagte:
„Der Tod, die Nacht, die Finsternis, die Gewalt des Bösen, dieser furchtbare Aufruhr der Menschen
gegen Gott, alles das kann und wird nicht bleiben. Es ist unmöglich, von mir zu verlangen, daß ich
ernsthaft mit diesen Größen rechnen soll, ernsthaft kann ich eigentlich nur damit rechnen, daß Gott
endgültig Sieger ist, d. h. aber, daß das Leben, das Gute, die Wahrheit, die Gerechtigkeit, mit einem
Wort: alles, was zur Ehre Gottes dient, den Sieg behält. Das ist die große Perspektive, der
Durchblick des Glaubens, darin leben wir nun einmal und daß wir darin leben, vielmehr daß unser
Glaube trotz aller Belastungen immer wieder darin leben muß, das läßt sich […] nur von Jesus
Christus her verstehen; denn er ist ja nicht nur der Leidende, der Gekreuzigte, der Gefolterte und
Mißhandelte, sondern er ist gleichzeitig der Auferstandene, der Triumphierende, der, der die
Schlüssel der Hölle und des Todes in seiner Hand hält. So, ausgerichtet auf diese Hoffnung, steht
unser Glaube in der Welt, steht und fällt eben nicht.“
Hans Joachim Iwand stellt die Gemeinde inmitten der Verwüstung des Zweiten Weltkriegs hinein in den
Raum der Gnade. Paulus stellt die ihm persönlich unbekannte Gemeinde in Rom dorthin, wo
Christenmenschen stehen und von wo aus sie die Welt sehen: in den Raum der Gnade. Und wir, liebe
Gemeinde, feiern Gottesdienst – damit wir neu entdecken, wo wir hingehören: in den Raum der Gnade.
Zehn Lebensworte
Und damit wir dort erfahren, dass zehn große Worte zugleich Lebensworte sind:
Glaube, Friede, Gnade, Hoffnung, Herrlichkeit,
Bedrängnis, Geduld, Bewährung, (wieder) Hoffnung,
Liebe, Herzen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.
Prof. Dr. Alexander Deeg
Leipzig