Namen, die keiner mehr nennt

Leseprobe aus:
Marion Dönhoff
Namen, die keiner mehr nennt
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Copyright © 2004 by Heinrich Hugendubel Verlag, Kreuzlingen/München
Inhalt
Vorwort 11
Nach Osten fuhr keiner mehr 15
Ritt durch Masuren 53
Die zu Hause blieben, sind nicht mehr daheim 75
Leben und Sterben eines ostpreußischen Edelmannes 83
Wirtschaftswunder vor 200 Jahren 99
Stets blieb etwas vom Geist des Ordens 117
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7
8
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Vorwort
Jahrzehnte sind vergangen, seit dieses Buch geschrieben wurde. Damals – es war 1961 – lagen die Trennung von
meiner ostpreußischen Heimat und der Schmerz, den dies
bedeutete, weit genug zurück, um sich nüchterner, als dies
zuvor möglich gewesen wäre, Rechenschaft darüber zu
geben. Andererseits war alles noch so nah, dass mir jede
Einzelheit deutlich genug vor Augen stand, um darüber
schreiben zu können.
Es ist ein Buch des Abschieds. Abschied von den Bildern
meiner Jugend: ein großer Himmel, der sich über weiten
Feldern wölbt, bescheidene Dörfer, Kopfsteinpflaster, Sonnenblumen im Vorgarten, Gänse auf den Straßen und allenthalben jene herrlichen Alleen, die im Westen dem motorisierten Verkehr geopfert wurden. Abschied von einer
versunkenen Welt, in der die Jahreszeiten den Rhythmus
des Lebens noch ganz ummittelbar bestimmten: das weidende Vieh auf sommerlichen Wiesen, Regenwolken über
leeren Stoppelfeldern, der Schrei der Wildgänse, die im
Frühjahr gen Norden ziehen, der Ruf der Häher im herbstlichen Gehölz, die Fuchsspur im frisch verschneiten Wald.
Abschied auch von der Welt der vorindustriellen Gesellschaft, in der die Beziehungen der Menschen zueinander
noch nicht so vielfältig versachlicht waren, wie dies heute
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der Fall ist, in der Sinn und Wert des Lebens sich nicht allein nach Tüchtigkeit und Leistung bemessen haben und
der materielle Erfolg noch nicht zum Maßstab aller Dinge
geworden war. Dort und damals zählten noch Imponderabilien. In jener Welt war noch Platz für Vogel, Fischotter, Marder und Iltis, die in der heutigen intensiv wirtschaftenden Gesellschaft keinen Lebensraum mehr finden.
Seeadler, Kraniche und der große Brachvogel fanden noch
verschwiegene Brutplätze, und in den Feldern und an
Wegrändern wuchsen Mohn- und Kornblumen, die der
Verbreitung von Chemikalien aller Art noch nicht hatten
weichen müssen.
Meine Vorfahren waren im 14. Jahrhundert im Westen
aus der Gegend des Ruhr-Flusses aufgebrochen und gen
Osten in die große Wildnis gezogen. 600 Jahre später habe
ich – so wie sie zu Pferd – denselben Weg wieder zurückgelegt, zusammen mit Millionen anderen, die ihre Heimat
verloren. Wir waren mit hineingerissen worden in jenes
große Chaos, in dem freche Anmaßung, bedenkenlose
Brutalität verbrämt mit phantastischen Illusionen zu
schlichter Kopflosigkeit und entwaffnender Unfähigkeit
geworden waren. Damals gingen in dem Gewirr vorwärtsstürmender russischer Panzer, zurückflutender deutscher
Einheiten, fliehender Frauen, Kinder und Greise 600 Jahre
Geschichte unter.
Sechs Jahrhunderte ausgelöscht. In den ersten Jahren
konnte ich es nicht glauben, wollte es nicht wahrhaben,
hoffte gegen alle Vernunft immer noch auf ein Wunder.
Das ist nun lange her. Inzwischen weiß ich: Diesmal gibt
es kein Zurück. Was jener Wahnsinnige verspielt hat, lässt
sich nicht zurückgewinnen.
Ich bin seither mehrfach in Polen – auch in Ostpreu12
ßen – gewesen. Und jedes Mal, wenn ich die Alleen wiedersah, die einsamen Seen und stillen Wälder, meinte ich
nach Hause zu kommen. Landschaft ist eben wichtiger und
gewiss prägender als alles andere. Sie gehört im letzten und
höheren Sinne ohnehin niemandem, allenfalls vielleicht
dem, der imstande ist zu lieben, ohne zu besitzen.
Dass dieses Buch immer wieder neu aufgelegt wurde,
mag damit zusammenhängen, dass es eben nicht nur wie
beabsichtigt die Erinnerungen an Ostpreußen festhält,
sondern ungewollt zu einem «in memoriam» für die alte
Welt, für eine bestimmte europäische Lebensform geworden ist. Eine Welt, die noch von der Natur bestimmt war
und von einer gewissen Ehrfurcht, die inzwischen der gedankenlosen und unbarmherzigen Hybris des Menschen
zum Opfer gefallen ist.
Marion Dönhoff
Nach Osten fuhr keiner mehr