Offene und/oder geschlossene Gesellschaft: Der "Osten" als diskursiver Knotenpunkt zu Flucht, Migration und Integration Die Bundesrepublik hat in ihrer Geschichte schon häufiger gesellschaftliche Aushandlungsprozesse auf Grundlage von Migration, Flucht und Vertreibung führen müssen. Zeitmarken sind beispielsweise das Ende des Zweiten Weltkrieges, die Anwerbung der südeuropäischen sogenannten Gastarbeiter_innen und die Massenflucht im Zusammenhang mit der politischen Wende in Mittel-Ost-Europa zum Ende der 1980er Jahre. Jede dieser Öffnungen der Grenzen für Zuwanderung hat auch die hiesige Gesellschaft selbst geöffnet und verändert. Ähnlich wie zuletzt so tiefgreifend vor rund 25 Jahren mit der Öffnung des „Ostens“, ist die bundesrepublikanische Wohlstandsgesellschaft aktuell erneut vor große Herausforderungen gestellt. Besonders die Menschen in Ostdeutschland haben diese Erfahrungen des Umbruchs in ihrer eigenen Biografie gemacht und liest man Artikel führender Zeitschriften von 1990 gleichen sich die ablehnenden Äußerungen und auch die Überforderungsberichte aus den Gemeinden, in denen viele Geflüchtete aus der DDR aufgenommen wurden mit denen heute. Wir möchten die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen 1989/90 und 2015/16 in dieser Ad-hoc-Gruppe herausstellen: Gerade auch weil die Gegenwehr gegen die Öffnung der Gesellschaft durch Geflüchtete im Osten besonders hoch scheint, ist „der Osten“ eine wichtige Referenzfolie. In den vergangenen Jahren haben Veröffentlichungen, wie „Der ‚Ossi‘ – Mikropolitische Studien über einen symbolischen Ausländer“ (Pates und Schochow 2013), „Die Generation der Wendekinder“ (Lettrari et al. 2016) und „Der Osten“ (Matthäus und Kubiak 2016) gezeigt, dass es sinnvoll ist, diesen neuen Blick auf den „Osten“ einzunehmen. Ostdeutschland dient hier den Wissenschaftler_innen als diskursiver Knotenpunkt um sich mit gesamtgesellschaftlichen bundesrepublikanischen Fragen auseinanderzusetzen, die mit diesem Gegenstand auch immer mit einem Wechselspiel aus Schließung und Öffnung verbunden sind. Anhand der vergangenen 25 Jahre lässt sich u.a. an dem Ost/West-Diskurs gut ablesen, dass die Bundesrepublik einer Einheitsfiktion verhaftet ist. Politische Einheit muss scheinbar auch immer kulturelle Gleichheit bedeuten. Gewünscht sind in der Ad-hoc-Gruppe Präsentationen empirischer Ergebnisse theoriegeleiteter qualitativer Sozialforschung. Ostdeutsche haben ihre erste Sozialisation in einer sehr geschlossenen Gesellschaft – in der DDR – verbracht. Es gab einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel um sie herum und sie sind aus der starren, überwachten und planwirtschaftlichen – eben geschlossenen - DDRGesellschaft in eine sich stark wandelnde, individualisierte und neoliberal ausgerichtete – eben offene – gesamtdeutsche Gesellschaft gewandert, ohne sich teilweise wirklich räumlich bewegt zu haben. Sie sind somit „symbolische Ausländer“. So kann anhand der Lebensverläufe von Ostdeutschen und der Diskurse über „den Osten“ abgelesen werden wie diese Wanderung von einer geschlossenen zu einer offenen Gesellschaft gelingen oder eben scheitern kann. Die Parallelen zu den Flüchtenden aus Syrien, Irak, Afghanistan, etc., also aus ebenfalls geschlossenen Gesellschaften in eine sich wandelnde BRD, sind offensichtlich. 1990 wurde die Integration der Ostdeutschen als große Herausforderung angesehen, nun dient 2015/2016 die Aufnahme von ca. 1 Mio. Geflüchteten als weiterer diskursiver Knotenpunkt. Dabei sind diverse Themenfelder im „Osten“ interessant und geben auch immer Aufschluss, darüber wie mit den aktuellen Herausforderungen umgegangen werden könnte. Interessant für die Ad-hoc-Gruppe sind Beiträge mit folgenden Fragen: • • Wie wird sich an den Osten erinnert und wie hat er das soziale Gedächtnis und das soziale Erinnern von Ostdeutschen und der gesamten Bundesrepublik beeinflusst? Inwieweit lohnen sich postkoloniale Theorieansätze, um sich der eigenen Forschung zu nähern? Die Orientalisierung des Ostens findet sich sowohl in der Bundesrepublik • • • vor und nach der Wiedervereinigung, aber auch in den Diskussionen zu Geflüchteten in der Bundesrepublik. Wie hat die Wiedervereinigung die Identitätskonstruktionen in der Bundesrepublik verändert und auf welche Kategorien und Narrative wird dabei zurückgegriffen? Welche Rolle spielt Religion für die oben genannten Fragen? Wie wirken sich die Umbrüche auf die jeweilige Infrastruktur vor allem in den Städten aus? Während die Wiedervereinigung das Phänomen der schrumpfenden Städte im Osten beförderte, ist die anhaltende Zuwanderung eine Chance für die Bundesrepublik dem demografischen Wandel entgegenzuwirken? Literaturverzeichnis: Lettrari, A., Nestler, C. & Troi-Boeck, N. (Hrsg.). (2016). Die Generation der Wendekinder. Elaboration eines Forschungsfeldes. Wiesbaden: Springer VS. Matthäus, S. & Kubiak, D. (Hrsg.). (2016). Der Osten. Neue sozialwissenschaftliche Perspektiven auf einen Gegenstand jenseits von Verurteilung und Verklärung. Wiesbaden: Springer VS. Pates, R. & Schochow, M. (Hrsg.). (2013). Der "Ossi". Mikropolitische Studien über einen symbolischen Ausländer. Wiesbaden: Springer VS. Abstracts mit einer Länge von maximal 600 Wörtern werden bitte bis spätestens 15.4.2016 an [email protected] gesendet. Die ausgewählten Referent_innen müssen am Kongress der DGS teilnehmen und lesen sich bitte auf der Homepage die Voraussetzungen dafür durch. Die genaue Terminplanung erfolgt erst im Mai.
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