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Schockierende Zustände in städtischer Notunterkunft | Manuskript
Schockierende Zustände in städtischer Notunterkunft
Bericht: Albrecht Radon
Alltag in der Notunterkunft Köthen. Peter Modrack raucht und trinkt auf der Couch. Seine
einzige Beschäftigung: der Fernseher. Der 67-Jährige vermisst seine Tochter.
Reporter: Haben Sie noch Kontakt zu Ihrer Tochter?
Peter Modrack: Ganz schwer, ich habe sie schon seit drei Jahren nicht mehr gesehen. Sie
ist auf Schifffahrt. Wie nennt man das? Stewardess.
Vor zwei Jahren wurde sein altes Wohnhaus abgerissen - seitdem lebt er hier. Für das
winzige Durchgangszimmer wird eine Benutzungsgebühr von rund 99 Euro fällig, für die das
Amt aufkommt.
Reporter: Ist es das wert?
Peter Modrack: Normalerweise nicht. Denn hier sind zwei Türen drin, ein Fenster drin. Im
Winter wird es hier nie warm. Nie.
Einzige Wärmequelle: Ein veralteter Ofen. Da Peter Modrack stark gehbehindert ist, hilft
Zimmernachbar Fred Mattern.
Fred Mattern: Und dann haue ich erstmal ein bisschen Holz rein.
Auch die Kohlen schleppt ihm sein Freund in den dritten Stock. Im Haus gibt es keine
zentrale Heizung. Der alkoholkranke Fred Mattern will uns in seinem Zimmer den schweren
Schimmelbefall an den Wänden zeigen.
Fred Mattern: Die ganze Wand runter. Und das ist ganz schlimm, wenn das nass wird.
Und er berichtet von ungebetenen Gästen. Mäusen. Nicht nur mit Fallen kämpft er gegen die
Plagegeister an.
Fred Mattern: Im Essen habe ich sie auch schon gesehen. Dann habe ich ihr eine mit
meinem Schlappen gegeben.
Gesammelt in einem Eimer: Die Ausbeute weniger Stunden.
Die Toiletten sind auf halber Treppe und für gehbehinderte Bewohner nur schwer
erreichbar. Badezimmer oder Duschen gibt es nicht. Für die Körperhygiene kommt der
Wasserkocher zum Einsatz.
Reporter: Warum müssen Sie das machen mit dem Wasserkocher?
Fred Mattern: Sonst kannst du dich nur kalt waschen.
Reporter: Sie haben nur kaltes Wasser?
Fred Mattern: Ja.
Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf nur für den privaten Gebrauch des Empfängers
verwendet werden. Jede Verwertung ohne Zustimmung des Urheberberechtigten ist unzulässig.
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Reporter: Im ganzen Haus?
Fred Mattern: Ja.
Eine beachtliche Knastkarriere hat den 52-Jährigen auf die Straße gebracht. Mit dem Alltag
ist er überfordert. Beim Rasieren hilft ein anderer Hausbewohner.
Fred Mattern: Weil ich alleine nicht klar komme.
So etwas wie Sozialarbeiter gibt es hier nicht. Die Bewohner sind sich selbst überlassen.
Reporter: Das heißt, Sie unterstützen sich hier gegenseitig, sonst würde das nicht
funktionieren?
Fred Mattern: Ja.
Familie Ritter wohnt seit August hier.
Karin Ritter: Mache. Komm, mache.
Der Familienclan ist polizeibekannt, fast alle haben eine kriminelle Vergangenheit. So wie
Rene Ritter. Der 34-Jährige ist durch eine jahrelange Alkoholsucht gezeichnet.
Rene Ritter: Zwei Jahre geben sie mir noch, aber die sind vorbei.
Reporter: Zwei Jahre geben Ihnen die Ärzte noch? Weswegen, was ist das Problem? Sagen
Sie es nochmal.
Rene Ritter: Leber kaputt.
Reporter: Aber Sie können und wollen nicht aufhören mit dem Trinken?
Rene Ritter: Ne, ich kann es nicht.
Auch Bernd Ritter ist ein starker Trinker und so neben der Spur, dass er am Türschloss
scheitert. Seine Ex- Frau Karin ist genervt.
Reporter: Wo kommt er jetzt her?
Karin Ritter: Hat sein Geld weg, aber hat Alkohol geholt und fragt schon wieder nach Geld.
Der verdummt uns auf dem Meter drei Mal. Mensch, mache das Brett auf. Musste mal
weniger saufen.
Karin Ritter ist die einzige im Haus, die nach eigenen Angaben keinen Alkohol trinkt. Sie
ersetzt nicht selten den fehlenden Sozialarbeiter.
Und sie hat auch Jens Böckelmann von der Straße aufgelesen. Der 33-Jährige zeigt uns den
Ort, an dem er vorher geschlafen hat: Dieses Abrisshaus direkt neben der
Obdachlosenunterkunft. Im Erdgeschoss finden wir benutzte Spritzen. Unvorstellbar, dass
hier ein Mensch überleben konnte. Vergessen von der Gesellschaft.
Reporter: Hier hast du gewohnt? Wie lange?
Jens Böckelmann: Ein halbes Jahr.
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Schockierende Zustände in städtischer Notunterkunft | Manuskript
Nach der Trennung von seiner Freundin stürzt er ab - und landet hier. Zuvor hatte er ein
geregeltes Leben.
Reporter: Du bist gelernter Koch, hattest wahrscheinlich auch einen Job gehabt, hast Geld.
Warum suchst du dir nicht eine andere Wohnung?
Jens Böckelmann: Weiß ich nicht. Kann ich so nicht sagen. Einfach Kopf zu.
Seit einem Monat wohnt er nun in der Notunterkunft. Karin Ritter hat organisiert, dass er im
Zimmer von Eckhard Zoch unterkommt.
Jens Böckelmann
Dadurch, dass hier keine Duschen sind, ist es eigentlich auch eine Katastrophe. Das Haus
gehört der Stadt und die müssten sich ja darum kümmern.
Reporter: Was glaubst du, steckt dahinter? Warum kümmert sich die Stadt nicht?
Jens Böckelmann: Ich weiß es nicht.
Reporter: Werdet ihr vergessen?
Jens Böckelmann: Ich glaube schon.
Der Versuch einer Nachfrage im Rathaus. Doch vor der Kamera will sich niemand äußern.
Zum Thema Heizung, Waschmöglichkeiten und Toiletten heißt es schriftlich: Der geforderte
Mindeststandard ist … erfüllt.
Doch warum ist das Haus in solch einem desolaten Zustand? Von den Bewohnern wurde kein
Schimmelbefall beim Ordnungsamt gemeldet…
Warum leisten hier keine Sozialarbeiter Alltagshilfe und warum werden schwerkranke
Menschen ihrem Schicksal überlassen? Zitat: Für die soziale Betreuung ist die Stadt nicht
zuständig…
Wir zeigen unsere Aufnahmen Thomas Specht in Berlin. Der Geschäftsführer der
Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe ist entsetzt.
Dr. Thomas Specht
Die Zustände in dieser sogenannten Notunterkunft, die sind schockierend, die sind
menschenunwürdig, sie sind auch skandalös.
Er widerspricht der Stadt. Die Mindeststandards seien in fast allen Punkten nicht erfüllt.
Dr. Thomas Specht
Zum Beispiel Warm/Kaltwasser, eine Heizung muss da sein, die Toiletten müssen in
Ordnung sein - das ist alles dort nicht gegeben. Das ist ein Riesenversäumnis der Kommune
dort, der Gemeinde. Das ist rechtswidrig durch und durch.
Außerdem hätte längst der Landkreis informiert werden müssen. Denn der ist für die soziale
Betreuung zuständig.
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Dr. Thomas Specht
Hier sind schwerkranke Alkoholiker, hier sind möglicherweise psychisch Kranke, die
brauchen Betreuung, die brauchen Hilfe.
Wir treffen einen, der hilft. Peter Riedmann wohnt in der unmittelbaren Nachbarschaft. Seit
vielen Jahren kümmert er sich um die vergessenen Bewohner der Notunterkunft. Wenn er es
nicht tut, tut es niemand, sagt er. Als einer der Söhne von Karin Ritter aus dem Gefängnis
entlassen wird, hilft er bei der Wiedereingliederung.
Peter Riedmann: Monatelang ist er herumgeirrt und hat versucht, ein Konto zu
bekommen, damit man seine Sozialhilfe auf das Konto überwiesen kann. Keiner hat ihm
ein Konto gegeben. Ich habe ihm innerhalb eines Tages ein Konto verschafft.
Karin Ritter: Noch nicht mal, eine Stunde.
Die Notunterkunft ist als kurzzeitiger Unterschlupf gedacht, bis die Bewohner wieder Fuß
gefasst haben. Doch für viele ist hier Endstation. In Würde alt werden, sieht irgendwie
anders aus.
Peter Riedmann: Ich bin der Meinung, dass man als Verantwortlicher des Betreibens einer
solchen Notunterkunft, das so nicht durchgehen lassen kann, sondern man muss
eingreifen.
Es sind Bilder, die uns tief betroffen machen. Peter Modrack hat die Hoffnung auf ein
besseres Leben bereits verloren.
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