GAV-Spezial: Was gilt?

10GAV-Spezial
Wie werden die
Rahmenarbeitsbedingungen
in der Branche künftig
geregelt? Der vorliegende
GAV ist eine mögliche
Antwort darauf.
GAV-Spezial: Was gilt?
viscom print & communication association und die Gewerkschaften
syndicom und Syna haben sich auf den Inhalt eines neuen Gesamtarbeitsvertrages für die grafische Industrie geeinigt. Mehrere Dinge sind
zentral: Mit dem neuen GAV fahren die grafischen Betriebe günstiger
und sie werden flexibler. Forderungen bezüglich höherer Lohnkosten
oder Ausbau der Sozialleistungen konnten verhindert werden. Auf
Wunsch der Gewerkschaften wird dafür die Allgemeinverbindlichkeit
angestrebt. Paul Fischer
Bevor man sich Gedanken zum vorliegenden
GAV-Entwurf machen kann, sollte man die
einzelnen, konkreten Verhandlungsresultate genau anschauen:
– Der GAV wird für die Unternehmen langfristig günstiger, dies durch die Pauschalisierung der Mahlzeitenentschädigung
und der doppelten Pause sowie der
Abschaffung der Vermögenbildung.
Abgeschafft wird auch die Besitzstandwahrung für Nachtarbeit im Akzidenzdruck. Gleichzeitig werden finanzielle
Entschädigungen bei Überstunden 1:1
ausgezahlt.
– Das von den Gewerkschaften geforderte
Frühpensionierungssystem, welches die
Unternehmen über höhere Lohnprozente
belastet hätte, kommt nicht.
– Die Minimallöhne bleiben unverändert.
– Die 42-Stunden-Woche kann viel einfacher als bis anhin eingeführt werden.
– Absolute Friedenspflicht.
– Die paritätische Grundbildung wird unter
der Federführung des viscom fortgeführt.
– Keine Anpassung der Schichtzulagen in
der Zeitungsbranche auf das Niveau der
Akzidenzdrucker. Dafür wird die Einführung der 42-Stunden-Woche ebenfalls
möglich.
– Man beantragt die Allgemeinverbindlichkeitserklärung des GAV für die gesamte
grafische Branche.
Vergleicht man den neuen GAV mit dem bestehenden, fallen gewisse Dinge auf. Die 42-Stunden-Woche als Normarbeitszeit konnte zwar
nicht durchgesetzt werden. Ebenso bleiben
die höheren Schichtzulagen bei den Zeitungsbetrieben. Aber grafische Betriebe werden in
Zukunft noch einfacher als bis anhin die
42-Stunden-Woche einführen können. Für
Unternehmen, welche die 42-Stunden-Woche
bereits eingeführt haben, ändert sich nichts.
Neu können nun auch die Zeitungsbetriebe
die 42-Stunden-Woche einführen, sofern die
Betriebskommission diesem Anliegen
zustimmt. Interessanterweise haben bis zum
heutigen Tag bei weitem nicht alle grafischen
Unternehmen die 42-Stunden-Woche eingeführt: Während es im Tessin rund 90% sind,
arbeiten in der Deutschschweiz nur 50% der
Betriebe länger, in der Romandie sind es gar
nur 20%. Ein ähnliches Bild bietet sich bei
den Schichtzulagen. Bis heute haben viele
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Akzidenzdrucker, die regelmässig Schicht
arbeiten, darauf verzichtet, die Zuschläge auf
50% zu reduzieren.
Wichtig ist auch die seit Jahren angestrebte
«Entschlackung» bei Nebenleistungen wie
Pausenregelung, Mahlzeitenzuschlag und
Vermögensbildung. Diese Bereiche werden
pauschalisiert oder ganz abgeschafft. Kurzfristig bringt das den Betrieben noch keine
finanzielle Entlastung. Doch langfristig werden kostentreibende Elemente, die in einem
GAV eigentlich nichts zu suchen haben, daraus entfernt.
AVE
Am meisten Diskussionsstoff liefert die Allgemeinverbindlichkeitserklärung (AVE). viscom hat sich in der Vergangenheit immer
dagegen gewehrt. Teils aus ordnungspolitischen Gründen, teils weil die vielen Nebenleistungen, die im bestehenden GAV eingebaut waren, eine AVE verhinderten. Durch
die Entschlackung wird nun der GAV überhaupt «AVE-tauglich». Wer aus ordnungspolitischen Gründen eine GAV-AVE ablehnt,
sollte sich vor Augen halten, dass es in der
Schweiz mittlerweile über 40 solcher AVE
gibt. Dies vielfach in gewerblichen Branchen,
wo, genau wie in der grafischen Branche, ein
intensiver Wettbewerb herrscht. Unter www.
seco.ch kann man selber einsehen, welche
Branchen einen GAV mit AVE haben.
Bleibt die Frage der Mindestquote, welche
erfüllt werden muss. Dadurch, dass alle
Betriebe mit drei und weniger Arbeitnehmenden sowie alle Verpackungsdruckereien und
die Siebdrucker von dieser Regelung ausgenommen sind, geht man davon aus, dass dieses Quorum erreicht wird.
Ein Wermutstropfen bleibt: In den Verhandlungen hat sich gezeigt, dass die Situation der
Tessiner Druckereien noch schwieriger ist als
in der Deutschschweiz und der Romandie.
«Eingeklemmt» zwischen dem lohnkostenmässig hyperkompetitiven Norditalien und
dem Gotthard als geografischem Riegel, um
nördlich davon Aufträge zu akquirieren, kann
derzeit für das Tessin keine massgeschneiderte Lösung gefunden werden, ohne die
gesamtschweizerisch ausgerichtete Sozialpartnerschaft zu beenden.
Fragen an Thomas Gsponer,
Direktor viscom, zum Resultat der
GAV-Verhandlungen:
Die Branche ist einem radikalen Wandel
unterworfen. Ist da die überbetriebliche
So­zialpartnerschaft nicht eine hinderliche
Zwangsjacke?
Die Frage wird an der Urabstimmung am
30. November 2015 durch die viscom-Mitglieder beantwortet. Die Alternative zum Branchengesamtarbeitsvertrag ist das OR/
Arbeitsgesetz. Bis dato wollte eine grosse
Mehrheit einen GAV.
Das Frühpensionierungsmodell der Gewerkschaften ist vom Tisch. Welche finanzielle
Belastungen hätte es für die Unternehmen
gebracht?
Die Arbeitgeber wären mit zusätzlichen
Lohnprozenten in der Höhe von 2,5% belastet worden. Unverantwortbar!
Ein zentrales Ziel, die 42-Stunden-Woche als
Normarbeitszeit zu verankern, konnte nicht
erreicht werden. Trotzdem sind Sie mit der
jetzt vereinbarten Lösung zufrieden. Weshalb?
Über die Hälfte der Mitglieder hat bereits die
42-Stunden-Woche. Diese kann nahtlos und
ohne Hickhack weitergeführt werden. Neu
können auch die Zeitungen die 42-StundenWoche einführen. Das Verfahren wurde für
den neuen GAV radikal vereinfacht.
Im GAV gibt es viele kleine Veränderungen,
die sich summieren: Pauschalisierung Mahlzeitenentschädigung und doppelte Pause,
Abschaffung der Vermögensbildung, keine
Besitzstandwahrung bei den Schichtzulagen
bei Nachtarbeit für Akzidenzbetriebe. Was
bedeutet dies langfristig für die Unter­
nehmen?
auf das Niveau der Akzidenz. Dies wurde
nicht erreicht, dafür können die Zeitungen
auch die 42-Stunden-Woche einführen.
Genau. Was für den Akzidenzdruck erreicht
wurde, gilt leider nicht für die Zeitungen. Die
Zuschläge für Nachtarbeit konnten in den
Verhandlungen nicht reduziert werden. Bei
dieser Forderung wäre ein Abbruch der Verhandlungen die Alternative gewesen. Dies
wollten wir nicht. Die 42-Stunden-Woche für
die Zeitungen ist nicht nichts.
viscom übernimmt mit dem neuen GAV vollständig die Führungsrolle bei der beruf­
lichen Grundbildung. Was bedeutet dies
­k onkret?
Unser Leadership in der Berufsbildung wird
im neuen GAV bestätigt. Paritätisch werden
die Berufsbilder erarbeitet. viscom übernimmt die vollständige Umsetzungsverantwortung.
Die AVE wurde in der Vergangenheit von
­v iscom immer abgelehnt. Nun willigt man
ein, den Antrag zu stellen. Warum?
Die AVE ist eine Forderung der Gewerkschaften. Die erfolgte inhaltliche Entschlackung
des GAV, die Regelung der Besitzstände im
alten GAV und die 42-Stunden-Woche sowie
transparente und einfache Umsetzungskontrollen erlaubten der viscom-Verhandlungsdelegation eine Zustimmung zur AVE.
Um die AVE zu erreichen, braucht es eine
erforderliche Mindestquote. Wie will man die
weit über 1500 grafischen Betriebe in der
Schweiz erreichen?
Der neue GAV bringt keine zusätzlichen
­Kosten. Der Handlungsspielraum für die Unternehmen wird ausgebaut. Flexible Regelungen
auf Unternehmensebene sind möglich. Der
neue GAV erlaubt Produktivitätssteigerungen.
Gerade aus dem Tessin, wo die Lage für die
grafischen Betriebe noch schwieriger ist als
in der restlichen Schweiz, kam die Forderung,
die Mindestlöhne zu senken oder ganz abzuschaffen. Dass diese Forderung von den
Gewerkschaften abgelehnt wird, war zu
erwarten. Wie zu vernehmen ist, war auch
die viscom-Verhandlungsdelegation dagegen. Können Sie das erklären?
Lohnreduktionen lassen sich nicht über einen
GAV dekretieren. Im Rahmen der unveränderten Minimallöhne sind die Unternehmen
frei in der Gestaltung ihrer Lohnpolitik. Der
Markt soll auch in Zukunft die Löhne in der
Branche bestimmen.
Eine wichtige Forderung der Zeitungsbetriebe war die Angleichung der Schichtzulagen
Wir zählen noch etwas über 800 Unternehmen in der Druckindustrie. Unsere Zahlen
aus dem Berufsbildungsfonds sind verlässlich. viscom zählt gegen 600 Aktivmitglieder in der Druckindustrie. Im Übrigen sind
die reinen Verpackungsdrucker, die Siebdrucker und die Kleinstbetriebe nicht der AVE
unterstellt.
Wie sehen die Kontrollmechanismen aus?
Die Kontrollen lassen sich mit den bekannten Sozialversicherungskontrollen vergleichen. Die AVE wird durch spezialisierte
Dienstleister kontrolliert. Alle rechtsstaatlichen Verfahrenswege bleiben selbstverständlich gewahrt.
Was passiert, wenn der GAV abgelehnt
wird?
Dann haben wir zumindest im kommenden
Jahr keinen GAV mehr. Neue Verhandlungen
sind nicht vor 2017 denkbar. Selbstverständlich bestünde dann auch das Risiko, dass es
zu Arbeitskonflikten kommen könnte.
viscom print & communication | Nr. 22 | 17. November 2015