Die Erinnerung hat jetzt Namen und Gesichter

Pogromgedenken: Schleusingen gibt einstigen jüdischen Mitbürgern die Identität zurück
Die Erinnerung hat
jetzt Namen und Gesichter
In Mitteldeutschland ist am
vergangenenWochenende
mit zahlreichen Veranstaltungen und Gotttesdiensten
an die antisemitische Pogromnacht vor 70 Jahren und
die judenfeindliche Politik in
der NS-Zeit erinnert worden.
Von Ingrid Ehrhardt
J utta Pajenkamp-Rhode ist 82 Jahre
alt, ihr Geist hellwach. Sie lebt
heute bei Münster. Couragiert trat
sie während der Gedenkveranstaltung
zum 70. Jahrestag der Pogromnacht
im Künstlerhof Schleusingen ans Rednerpult. Sie erzählt die Geschichte ihres Großvaters, des jüdischen Arztes
Dr. Benno Koppenhagen. Seine Praxis
in Schleusingen war anerkannt, im
Krankenhaus hatte er Belegbetten.
Bereits 1933 stellten Schleusinger SAMänner vor seinem Haus die Schilder
auf: »Deutsche geht nicht zu Juden.«
Kurze Zeit später kündigte das Krankenhaus dem angesehenen Gynäkologen den Vertrag.
»Großvater ertrug diese Demütigungen nicht, wahrscheinlich ahnte
er, dass dies erst der Anfang von etwas
ganz Schrecklichem war. Er wählte am
20. Januar 1934 den Freitod. Ich war
acht Jahre alt, als ich das Haus der Familie in der Neumarktstraße zum letzten Mal sah und ahnte nicht, dass es
über 60 Jahre dauern würde, bevor ich
wieder an diese Stelle zurückkehrte«,
berichtete die zierliche Frau. Aber dieser Besuch 1996 sei richtig gewesen.
Denn danach habe sich Kerstin Möhring bei ihr gemeldet. »Und ohne
Kerstin Möhring und ihre
unermüdlich orschungsarbeit, ohne ihre HartF
näckigkeit, wäre dieses nachhaltige
Gedenken an diesem Wochenende
nicht zustande gekommen.«
Bereits 1996 begann die Lehrerin
für Deutsch und Kunst mit der Erforschung der jüdischen Schicksale in
Schleusingen. Ihre Oma hatte sie neugierig gemacht, allerdings konnte sie
Kerstin Möhring (2. v. I.) hat jüdische Geschichte in Schleusingen erforscht und
dabei jüdische Freunde in der ganzen Welt gefunden. Drei von ihnen waren
am Wochenende in die Stadt ihrer Kindheit eingeladen: Ernest Lang, Jutta
Pajenkamp-Rhode und Henry Frankenberg (v.l.n.r.).
Foto: Ingrid Ehrhardt
keine Antwort geben, was aus diesen
Menschen wurde. Kerstin Möhring.
befragte Zeitzeugen, las alle Ausgaben
des Henneberger Kreisblattes von 1811
bis 1945, suchte in Archiven, knüpfte
Kontakte in die ganze Welt.
Jutta Pajenkamp-Rhode sind nur
zwei Erinnerungsstücke an ihren
Großvater geblieben. Eines, ein goldenes Briefsiegel, überreichte sie Kerstin
Möhring: »Weil du meinem Großvater
die Ehre wiedergegeben hast.« Die beiden Frauen verbindet inzwischen eine
herzliche Freundschaft. Spontan erheben sich zwei andere Gäste, um ebenfalls Anerkennung zu zollen. Henry
Frankenberg und Ernest Lang. Beide
leben heute in den USA. Der eine war
zehn, als die Eltern noch rechtzeitig
emigrierten, der andere fünf.
Zu Wort gemeldet hatten sich die
Gäste bereits beim Empfang des Bürgermeisters Klaus Brodführer und dem
Eintrag ins Ehrenbuch der Stadt. »Ich
habe lange überlegt, ob ich diese Einladung nach Schleusingen annehme,
denn ich habe schlimme Erinnerun-
gen an meine Schulzeit und überhaupt
an diese Jahre. Aber ich möchte sagen,
dass ich froh bin, da zu sein. Ich habe
hier wunderbare Veranstaltungen und
aufrichtige Begegnungen erlebt, einen
hoffnungsvollen ökumenischen Gottesdienst. Das alles macht mich sicher,
dass sich ein 9. November 1938 nicht
wiederholen wird«, erklärte Henry
Frankenberg bewegt.
Abschließender Höhepunkt dieser
lebendigen Aktionstage gegen Antisemitismus, organisiert vom Schleusinger Bündnis gegen Rechtsextremismus in Zusammenarbeit mit der
evangelischen Kirche, war die Enthüllung einer Stele an jenem Ort, an dem
am 9. November 1938 die Synagoge
brannte. Wolfgang Rossen, Vorsitzender der jüdischen Landesgemeinde,
würdigte diese in Gegenwart von
mehr als 200 Bürgern als »Denkmal
der Zivilcourage«. Die Stele trägt die
Namen von 46 jüdischen Bürgern.
Nur wenige konnten dem Holocaust
entkommen, die meisten überlebten
ihn nicht.