planung&analyse 2/2016 Zeitschrift für Marktforschung und Marketing Sonderdruck Simon Deml und Dr. Andreas Unterreitmeier Jedem die richtige Frage stellen D11700F Eine Marke der dfv Mediengruppe wissen&forschung thema Wenn der Proband sich den Fragebogen selber baut: Der neue PROGNOSE-ANSATZ von TNS kann optimale Preis- und Portfoliostrategien für Innovationen finden Jedem die richtige Frage stellen P rognosen für die Markteinführung von Innovationen sind ein wichtiges Instrument für das Management. Simon Deml und Dr. Andreas Unterreitmeier von TNS Infratest stellen ein neues Verfahren vor, in dem erstmals die Umstände des Kaufprozesses explizit berücksichtigt werden. In einer Validierungsstudie mit deutschen Biermarken wurde die neue Methode mit dem herkömmlichen Ansatz verglichen. Die Vorhersagegenauigkeit für die Entwicklung von Marktanteilen wird deutlich erhöht. Wie der Markt auf die Einführung eines neuen Produktes reagiert, ist eine der größten Herausforderungen für das Marketing. Ziel ist es, dem Management fundierte Entscheidungsgrundlagen zur Verfügung zu 40 2 planung&analyse2/2016 2/2016 Sonderdruck planung&analyse stellen. Das Modell soll Kaufentscheidungen robust abbilden, Marktreaktionen auf die Einführung eines Neuproduktes präzise vorhersagen und die Auswirkungen unterschiedlicher Produktportfolios und Preisstrategien im Wettbewerbskontext antizipieren. In der Regel kommt in der Marktforschung bei derartigen Fragestellungen zu Pricing und Produktoptimierung ein sogenanntes Discrete Choice Model (DCM) zum Einsatz. Damit können schon relativ präzise Prognosen abgegeben werden. Da aber bekanntlich das Bessere der Feind des Guten ist, wird hier ein neues, proprietäres Verfahren vorgestellt, das neueste Erkenntnisse aus den Forschungsgebieten Verhaltensökonomie (Behavioural Economics) mit entscheidungsbasierten Me- thoden (Choice Modelling) und statistischen Schätzverfahren verknüpft: Das Individual Self-Balancing Conjoint (ISBC). In einem ersten Schritt wird das Verhalten des Probanden abgefragt. Dann wird das eigentliche ISBC, ein adaptives Interview, eingesetzt und in einem dritten Schritt wird der zu erwartende Marktanteil abgeschätzt. Die Genauigkeit von Marktprognosen erhöht sich mit diesem dreistufigen Verfahren um mehr als 20 Prozent. Der Kontext ist wichtig für die Kaufentscheidung Konsumenten fällen (Kauf-)Entscheidungen nicht rein rational und nutzenmaximierend. Der Homo oeconomicus ist graue Theorie. Vielmehr muss der Kontext bei der Kaufentscheidung berücksichtigt werden. Aus diesem Grund haben wir eine Reihe von Fragen zu verschiedenen Kategorien entwickelt, die sich auf den individuellen und situativen Kontext von Kaufentscheidungen beziehen. Dabei werden Konsumenten über ihr heutiges und vergangenes Kaufverhalten, zu den bevorzugten Produkten, zu ihrem Preiswissen und ihren Kaufgewohnheiten in einer bestimmten Produktkategorie befragt und es werden Informationen über das Verhalten jedes einzelnen Konsumenten eingeholt. Diese Erkenntnisse helfen beim Aufbau eines individuellen, adaptiven Befragungsteils. Zudem können diese Kontextinformationen genutzt werden, um die Treiber des Kaufverhaltens zu identifizieren. Nach der Vorbefragung werden die individuellen Kontextinformationen jedes Befragten genutzt, um daraus individuelle Kaufentscheidungssituationen (Choice Tasks) für die Interviews zu bilden. Eine Choice Task stellt die Teilnehmer einer Befragung vor eine Auswahlentscheidung (Trade-off). Dabei soll eine Kaufentscheidung möglichst realistisch abgebildet werden. In einem Auswahlbildschirm werden einem Befragten verschiedene Produktalternativen mit Preisen gezeigt. Die Befragungsperson wird nun gebeten, das Produkt auszuwählen, das sie kaufen würde, oder auch explizit keines der angezeigten Produkte zu wählen. Vergleiche in derartigen Trade-off-Situationen führen zu präzisen und realistischen Ergebnissen und stellen die Datenbasis für Marktsimulationsmodelle dar. Dabei lernt das Programm während des Interviews in Echtzeit aus den gegebenen Antworten und berechnet die nächste Kaufentscheidungssituation. Individuelles Kauf- und Wechselverhalten kann somit noch präziser gemessen werden. Ist ein Proband etwa sehr markentreu, dann testet das Programm so lange mit verschiedenen Produkten und Preisen, bis er bereit ist, die Marke zu wechseln. Bei Studien mit Fokus auf die Einführung von Neuprodukten und deren Preisstrategie eignet sich dieser Ansatz besonders gut, da auf Basis der Fragen zum Kontext das individuelle Relevant Set, also die Markenprädispositionen, das Preisbewusstsein, die Offenheit für Innovationen und die Suche nach möglichen Alternativen (Variety Seeking) erhoben und explizit für die Zusammenstellung der Auswahllisten berücksichtigt werden. Statt wie bei herkömmlichen Modellen aus einem zufällig angebotenen Set an Produktalternativen auszuwählen, „bauen“ sich die Probanden ihre Tasks sozusagen selbst. Die gezeigten Auswahloptionen an Bestandsprodukten, die Anzahl der eingeführten Neuprodukte und die jeweiligen Preise sind individuell auf den Befragten zugeschnitten. Der Algorithmus lernt während des Interviews Das Interview wird dadurch für den Befragten relevanter und bildet eine weitaus realistischere Kaufsituation ab. Der adaptive Algorithmus von ISBC lernt während des Interviews in Echtzeit aus den gegebenen Antworten, wodurch die Schätzgenauigkeit der individuellen Präferenzen erhöht und die gezeigten Auswahloptionen immer besser an die Bedürfnisse der Befragten angepasst werden können. Die Beschränkung auf zirka 10 bis maximal 15 Tasks stellt sicher, dass die Aufmerksamkeit und die Entscheidungsfähigkeit der Befragten nicht überstrapaziert werden. Durch das adaptive Choice Modelling bei ISBC werden die Antworten der Probanden realistischer, sie sind stärker in die Aufgabe involviert und die Datenqualität nimmt zu, während gleichzeitig die Interviewdauer kurz bleibt. Sie liegt in der Regel unter zehn Minuten. Damit wird den besonderen Gegebenheiten bei der Einführung eines Neuproduktes bereits während der Befragung Rechnung getragen, wodurch bessere Marktprognosen erstellt werden können. Denn je besser die individuellen Kontextfaktoren berücksichtigt werden und je näher das Interview einer realen Kaufsituation kommt, desto präziser sind auch die Ergebnisse der Simulationen. Eine weitere Besonderheit des beschriebenen Ansatzes liegt darin, dass im Gegensatz zur Auswertung bei anderen Tradeoff-Befragungen auch das typische Kaufverhalten in dieser Kategorie zur Schätzung der individuellen Präferenzen herangezogen wird. Damit werden alle relevanten Einflussfaktoren beim Kauf von Produkten zu unterschiedlichen Anlässen berücksichtigt. Die Identifikation eines optimalen Produktportfolios inklusive möglicher Neuprodukte und deren Preise kann dadurch insgesamt deutlich erhöht werden. Um die verbesserte Prognosegüte mit realen Daten zu untermauern und nicht nur mittels simulierter Testdaten zu beweisen, wurde unter anderem auch eine Pilotstudie im deutschen Biermarkt durchgeführt. Dabei sieht beispielsweise ein Proband in der Befragung seine Stammbiermarke (A), weitere bisher gekaufte Biermarken (B bis E) sowie bisher nicht gekaufte Biere (F bis M) zu bestimmten Preisen. Wählt der Befragte nun in der ersten Fragerunde sein Hauptprodukt A, werden in der zweiten Runde die Preise von einem Teil der anderen Biere gesenkt und somit geprüft, ob die Wahl aufgrund des Preises geändert wird. Entscheidet sich der Befragte wieder für sein Stammbier A, werden in der dritten Runde weitere Biere mit niedrigen Preisen inklusive einer neuen Biermarke (X) gezeigt. Der Vorgang wird so lange wiederholt, bis der Proband planung&analyse planung&analyse 2/2016 41 3 wissen&forschung thema gewillt ist, ein anderes Bier als A zu kaufen (siehe Kasten). In dieser Eigenstudie wurden die beiden Methoden auch in ihrer Prognosegüte für Marktanteile und die Preissensibilität verschiedener Konsumentengruppen miteinander verglichen. Bekannt ist, dass Konsumenten mit Kenntnis der Preise im Markt deutlich stärker auf Preisveränderungen reagieren als Konsumenten ohne Preiswissen. Das ISBC-Verfahren zeigte die Preissensibilität der Personen mit Preiswissen wesentlich realistischer und deutlicher an. Insgesamt kann durch den neuen Preisund Produktforschungsansatz mit ISBC die Genauigkeit von Marktprognosen um Prognosen im Biermarkt D den Prognose-Ergebnissen der beiden Forschungsansätze verglichen. Mit dem herkömmlichen Ansatz DCM können bei mehr als 60 Prozent der Produkte die tatsächlichen Marktanteile mit einer maximalen Abweichung von einem Prozentpunkt prognostiziert werden. Der neue Ansatz ist jedoch bei der Prognose der aktuellen Marktanteile nochmals um 20 Prozent genauer. Auch das Wechselverhalten wird präziser vorhergesagt. In Ostdeutschland (außer Berlin) werden häufig Biermarken aus der Region gekauft. Überregionale Marken besitzen dagegen – gemessen an ihrem GesamtMarktanteil – weniger Relevanz in dieser Gegend. Außerdem kaufen Konsumenten mehrheitlich nicht nur ein bestimmtes Produkt oder eine Marke, sondern haben mehr Alternativen für den Kauf. Sie wechseln somit auch zwischen bestimmten Biermarken ihrer Region. Getestet werden sollte, ob sich dieses (bekannte) Verhalten auch in den Ergebnissen der Task 1 A Der Algorithmus berechnet ein maßgeschneidertes „Angebot“ für den Probanden €€€ D €€€ G €€€ Task 2 B €€€ E C €€€ F €€€ €€€ H keines €€€ Der Befragte trifft die „Kaufentscheidung“ für das Produkt A A Hauptprodukt (zum Preis ���) B-E Quelle: TNS Infratest 42 4 planung&analyse2/2016 2/2016 Sonderdruck planung&analyse 46 In der Vergangenheit schon gekaufte Produkte A €€€ Z D €€ G €€€ B E €€€ F E C €€ I €€ €€ €€ H keines M X keines € Der Befragte trifft wieder die „Kaufentscheidung“ für das Produkt A Existierende, bisher nicht gekaufte Produkte X € Jetzt werden alle anderen Produkte billiger angeboten und es wird zusätzlich ein günstiges (�) Neuprodukt eingeführt andreas.unterreitmeier @tns-infratest.com präsentieren. Die Berücksichtigung des Kontextes erhöht die Vorhersagegenauigkeit. Und weil das individuelle Umfeld bei Kaufentscheidungen sehr heterogen sein kann, reagieren wir im Interview flexibel auf die Antworten jeder Befragungsperson. Sie haben das ISBC-Verfahren entwickelt, das die Fragen an die Antworten des Probanden anpasst. Wie ist denn dann eine Übertragbarkeit auf alle Konsumenten möglich? Wie lange hat es gedauert, bis das Modell entwickelt war, und was war der Anstoß dazu? Bereits 2004 begann unser F&ETeam um Peter Kurz mit der Entwicklung dieses Ansatzes, um die Lücke von bisherigen adaptiven Conjoint-Verfahren zu schließen. Diese reagieren zwar auf die Antworten der Befragten, berücksichtigen aber beispielsweise die Kaufgewohnheiten und das Preisbewusstsein nicht explizit. Neben der Entwicklung des Algorithmus war vor allem die technische Umsetzung sehr herausfordernd. Haben Sie das Modell schon bei Kunden getestet und wie war deren Reaktion? Im Gespräch: Simon Deml, TNS Infratest Mittlerweile haben wir den Ansatz schon in einigen Studien eingesetzt. Die Kunden sind ausnahmslos beeindruckt und daher scheint der neue Ansatz einen Nerv zu treffen. Eine Kundin aus Frankreich formulierte es folgendermaßen: „So hätte ich mir Conjoints schon immer gewünscht!“ Wird das Kind noch einen richtigen Namen bekommen? Einen eigenständigen Markennamen hat das Kind bisher tatsächlich nicht. Letztendlich ist dies eine konsequente Weiterentwicklung unseres bisherigen Vorgehens in der Preis- und Produktforschung. Somit verstehen wir ISBC als jüngstes Kind unserer Choice Modelling-Familie, die bei uns als „ValueManager“ geführt wird. L €€ €€€ simon.deml @tns-infratest.com Dr. Andreas Unterreitmeier ist Director im Bereich Innovation & Product Development bei TNS Infratest. Er ist Experte für Consumer Insights, Innovationsforschung, CRM und Data Mining. Unsere Kundenstrategie: Precision Growth D €€ €€€ Eine neue Auswahl wird berechnet mit niedrigeren (��) Preisen für einen Teil der anderen Produkte F-M A C €€ u welchem Preis und warum ist ein Konsument bereit, ein neues Produkt zu kaufen? Das hängt von vielen Kriterien ab. Das TNS-Modell ISBC kann dies wesentlich besser vorhersagen als bisherige Verfahren. Wir haben gelernt, dass Ergebnisse gerade dann gut übertragbar sind, wenn sie die jeweiligen individuellen Bedingungen widerspiegeln und gleichzeitig alle relevanten Käufergruppen re- Task 3 €€ Simon Deml ist Senior Consultant im Bereich Innovation & Product Development bei TNS Infratest. Er ist Experte für Innovations-, Produktund Preisforschung, Trade-off-Verfahren und multivariate Statistik. Der Kontext verbessert die Prognose Schematische Darstellung einer adaptiven ISBC Befragung Individuelle Kontextdaten – Kaufgewohnheiten – Wertwahrnehmung – Preiswissen – etc. €€€ Marktsimulationen widerspiegelt. Käufer des Produktes Ur Krostitzer wurden gefragt, welche Produkte sie wählen würden, wenn das Produkt Ur Krostitzer nicht mehr am Markt verfügbar wäre. Die Produkte Radeberger und Hasseröder würden stark profitieren. Das war absehbar und es wird in beiden Ansätzen vorhergesagt. Auch Krombacher zeigt in diesem Test einen hohen Nachfrage-Zuwachs, was auf die Überregionalität bei einer gleichzeitig guten Positionierung in Ostdeutschland zurückzuführen ist. Wie stark allerdings die Marke Freiberger durch ein solch fiktives Setting gewinnen würde, zeigt nur der ISBC-Ansatz deutlich. Diese Prognose weist eine höhere Konsistenz auf und wird den Erwartungen besser gerecht. Das heißt, das Wechselverhalten folgt einer regionalen Logik und geschieht nicht zufällig. Auch dem individuellen Wechselverhalten wird der neue Ansatz also tendenziell besser gerecht. FOTO: TNS INFRATEST ie Studie fokussierte sich auf nationale und regionale Pils-Marken aus norddeutschen Getränke- und Supermärkten. Es wurden nur bereits im Markt vorhandene Produkte – ohne Handelsmarken – berücksichtigt. Außerdem wurden nur Bierkästen mit 20 bis 27 Flaschen und Flaschengrößen von 0,33 und 0,5 Liter einbezogen, um auch zeitliche Volumeneffekte oder Auswirkungen von Mehrfachkäufen so gering wie möglich zu halten. Befragt wurden 2.541 repräsentative Bierkäufer. Um einen Vergleich der Prognosegüte des neuen Ansatzes ISBC zu dem bisher im Markt gängigen Ansatz DCM vornehmen zu können, wurden die Ergebnisse der beiden Verfahren im Hinblick auf Preissensibilität, Wechselverhalten und die Vorhersagegenauigkeit von aktuellen Marktanteilen analysiert. Zunächst wurden die tatsächlichen Marktanteile der untersuchten Pilsner Produkte mit mehr als 20 Prozent gegenüber dem traditionellen DCM erhöht werden. Die simulierten Marktanteile weichen dabei im Durchschnitt nur um einen Prozentpunkt von den tatsächlichen Marktanteilen ab. Auch in verschiedenen Kundenprojekten konnte der Markterfolg von Produktersetzungen und von Neuprodukten mit diesem Ansatz erfolgreich getestet werden. Dabei zeigte sich, dass der Ansatz mit ISBC zu einer genaueren Prognose des Marktes führte als der herkömmliche Ansatz. Dadurch konnte in allen Projekten jeweils ein optimales Portfolio einschließlich neuer Produkte identifiziert und erfolgreich am Markt platziert werden. Wir wollen zu Erfolg und Wachstum unserer Kunden beitragen. ... Die Marktanteile werden aufgrund der Befragung prognostiziert Konsequent. Jederzeit. Überall. Neuprodukt, bisher nicht erhältlich www.tns-infratest.com planung&analyse 2/2016 © TNS 2016 planung&analyse planung&analyse 2/2016 43 5
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