«Die Schweiz ist blind und taub»

«Die Schweiz ist blind und taub»
Nach Brüssel wird Kritik am Nachrichtendienst des Bundes laut. Politiker fragen sich, ob der Schutz des
Landes gewährleistet ist.
Kritisiert die beschränkten Befugnisse des Nachrichtendienstes: Pierre Maudet, FDP-Sicherheitsdirektor des Kantons Genf. (3.
Dezember 2015) (Bild: Keystone/Martial Trezzini)
Nach den Anschlägen in Brüssel stehen die Nachrichtendienste weltweit vermehrt im Fokus – auch in der
Schweiz. Politiker zweifeln, ob der Nachrichtendienst des Bundes unter der aktuellen Gesetzeslage den besten
Schutz der Schweiz gewährleisten könne. «Es ist schon verrückt, wie dem Nachrichtendienst die Hände gebunden
sind. Und das in Zeiten wie diesen», so der Urner CVP-Ständerat Isidor Baumann zur «NZZ am Sonntag».
Verschärfung «frühestens Mitte 2017»
Letzten September verabschiedete der National- und Ständerat eine Verschärfung des Nachrichtendienstgesetzes,
welches auch in privaten Gebäuden und Computern die Überwachung erlaubt. Aufgrund eines Referendums von
SP, Juso und Grünen werden jedoch voraussichtlich im Herbst die Stimmbürger darüber abstimmen. Selbst bei
einem Ja würde die neue Gesetzeslage gemäss Carolina Bohren, Sprecherin des Nachrichtendienstes, aber erst
«frühestens Mitte 2017» in Kraft treten.
So bleibt der einzige Weg, die Befugnisse des Nachrichtendienstes bereits jetzt auszubauen, im Notrecht. Dies
erlaubt die Bundesverfassung bei «unmittelbar drohenden schweren Störungen» der Landessicherheit. Doch
damit sind nicht alle einverstanden: «Die demokratischen Prozesse müssen eingehalten werden», kritisiert SPNationalrätin Rebecca Ruiz in der «NZZ am Sonntag». Zusätzlich würde selbst das Notrecht die Informationsflut
nicht beschleunigen. Alleine die für die ausgebaute Überwachung notwendige Infrastruktur würde erst in einem
Jahr bereitstehen.
Von ausländischen Nachrichtendiensten abhängig
Die Aargauer FDP-Nationalrätin und Vizepräsidentin der parlamentarischen Geschäftsprüfungskommission
Corina Eichenberger kritisiert den aktuellen Kompetenzbereich des Nachrichtendienstes, der auf die
Überwachung des öffentlichen Raumes begrenzt ist: «Wegen der heutigen Rechtsgrundlage hat er nur
beschränkte Überwachungsmöglichkeiten, vor allem im Bereich der modernen Kommunikationsmittel. Deshalb
verfügt der NDB auch nur über verhältnismässig wenige Daten, und deshalb ist er auf Daten von ausländischen
Nachrichtendiensten angewiesen.»
Ein Ohr des Geheimdienstes: Die Einsatzzentrale des Abhörsystems Onyx in Zimmerwald. (Foto: Keystone; Archiv)
Wenn die Schweiz zum Datenaustausch weiterhin wenig beitragen kann, drohen Quellen zu versiegen: «Der
Nachrichtendienst verfügt über wenig Informationen und kann deshalb an der Tauschbörse der Geheimdienste
nicht wirklich mitmachen», so Eichenberger.
«Wir nehmen die Situation nicht ernst genug»
Auch der Genfer Sicherheitsdirektor Pierre Maudet zeigt sich in der «Sonntagszeitung» über den Status quo
verärgert: «Wir nehmen die Situation nicht ernst genug. Die Schweiz ist blind und taub. Es ist europaweit wohl
einzigartig, wie wenig Kompetenzen der Schweizer Nachrichtendienst hat.» Das neue Nachrichtendienstgesetz
bezeichnete der Genfer als «absolute Minimalvariante». Es brauche nun endlich eine öffentliche Debatte über
Sicherheit und Persönlichkeitsrechte und ein «dauerhaftes nationales Konzept».
Aber auch der internationale Informationsaustausch müsse verbessert werden. So kritisiert Maudet etwa, dass
Frankreich Informationen zu zögerlich weitergebe. Am Flughafen Genf Cointrin hätten die Genfer Behörden ein
eigenes Vorsorgekonzept entwickelt, nachdem entdeckt worden sei, dass zwei radikalisierte Franzosen bei der
Gepäckabfertigung angestellt waren. «Als diese beiden Personen von den französischen Behörden erfasst wurden,
waren sie bereits nicht mehr am Flughafen in Genf tätig», so der Sicherheitsdirektor.
Konzept für Fussball-Europameisterschaft
Der Genfer hat denn auch direkt mit der Sicherheitsbeauftragten der französischen Botschaft in Bern das
Gespräch gesucht. Ziel sei es, aus dem Nachbarland einfacher und systematischer informiert zu werden, etwa über
Erkenntnisse zu «radikalisierten Kreisen in Frankreich, aber auch im Raum Genf».
Es stelle sich aber die Frage, «ob die Nachrichtendienste die Mittel haben, allen Spuren nachzugehen». Die vom
Bundesrat angekündigte Stellenaufstockung für den NDB werde etwa erst im April in den Kantonen wirksam.
Eine zusätzliche Herausforderung ist die im Juni beginnende Fussball-Europameisterschaft in Frankreich. Der
Kanton Genf erarbeitet derzeit eine Vorsorgeplanung, wie Maudet sagte. Darin soll geklärt werden, wie viele
zusätzliche Polizeikräfte es brauche, welche Areale schwierig zu kontrollieren seien und welche neuen technischen
Mittel man einsetzen könne.
(sep)