„Öffentlichkeit“ oder „Transparenz“? – Hat der Begriff der Öffent

Gerd Steffens
„Öffentlichkeit“ oder „Transparenz“? – Hat der Begriff der Öffentlichkeit im digitalen Zeitalter ausgedient?
Zusammenfassung: Der Gebrauch des Begriffs der Transparenz in sozialwissenschaftlicher und zeitdiagnostischer Literatur ist eine sehr neue Erscheinung. In der theoretischen
Tradition wie der Realgeschichte Europas war es hingegen der Begriff der Öffentlichkeit,
der eine zentrale Rolle für die Herausbildung einer selbstbewussten Gesellschaft gespielt
hat. Dieser Bedeutung und Leistung von Öffentlichkeit in der europäischen Moderne wird
dann das Konzept von Transparenz im digitalen Zeitalter gegenübergestellt, wie es im
zeitdiagnostischen Roman von Dave Eggers sehr realitäts- und gegenwartsnah entfaltet
wird. Abschließend wird gefragt, was es für kritisches Denken bedeuten könnte, wenn
„Öffentlichkeit“ durch „Transparenz“ verdrängt würde.
Schlüsselworte: Herrschaft, Öffentlichkeit, Kritik, Transparenz, digitales Zeitalter
"Public" or "transparency"? – Is the concept of the public obsolete in the digital age?
Abstract: The use of the concept of transparency in the social sciences and time diagnostic literature is a very new phenomenon. In the theoretical tradition as in the real history of Europe it was the concept of the public, which has played a central role for a selfconfident society. This importance and power of public in the European modernity is then
compared with the concept of transparency in the digital age as it is developed in the actual and time critical novel by Dave Eggers. Finally, the article asks for the consequences
for critical thinking, if "public" would be supplanted by "transparency".
Keywords: rule, public criticism, transparency, digital age
Kaum ein anderer Begriff ist in Gegenwartsdiagnosen so präsent wie Transparenz. Er
scheint sich fast wie von selbst überall dort einzustellen, wo es um die Beschreibung von
asymmetrischen Machtverhältnissen geht. Sein Gebrauch scheint geradezu ein Indikator dafür, dass es in solchen Verhältnissen an Transparenz fehlt; wo sie herrscht, also eine selbstverständliche Wechselseitigkeit von Vertrauen und Offenheit besteht, ist von ihr nicht die
Rede. Die derzeitige Konjunktur des Begriffs könnte auf eine reale Problemverschärfung
verweisen oder auf eine Sensibilisierung der Problemwahrnehmung. Doch möchte ich vor allem der Vermutung nachgehen, dass eine Verschiebung, eine Umcodierung der analytischen
Kategorien eine Rolle spielen könnte. Denn dass Herrschaftsverhältnisse mit einer Asymmetrie der Informationszugänge verbunden sind, ist ja keineswegs neu. Es könnte also sehr
gut sein, dass das, was heute unter dem Begriff der Transparenz verhandelt wird, früher unter anderen Begriffen eine ähnlich wichtige oder gar wichtigere Rolle gespielt hat.
Nach einem kurzen Blick auf die statistische Karriere des Transparenz-Begriffs im deutschen Sprachraum werde ich deshalb in einer historischen Argumentation versuchen, Problemlagen und Denkansätze aufscheinen zu lassen, die die reichhaltige europäische Erfahrung mit dem Verhältnis von Herrschaft und Öffentlichkeit konturieren (1). Als gegenwartsdiagnostischen Zugang nutze ich dann den Roman von Dave Eggers: Der Circle (2014), den
ich im Horizont meiner vorangehenden Ausführungen lese und interpretiere (2). Der – wie ich
hoffe – aufschlussreiche Blick von Eggers auf Transparenz im digitalen Zeitalter rechtfertigt,
so meine ich, den Verzicht auf eine Durchmusterung der zahlreichen empirischen Felder, an
denen sich das Problem der Transparenz heute thematisieren ließe. Mir geht es aber nicht
um den Nachweis, dass Transparenz heute in Politik, Wirtschaft, Medien etc. ein erstrangiges Problem darstellt, sondern um die Frage, was eine Verdrängung des Begriffs der Öffentlichkeit durch den der Transparenz für heutige gesellschaftliche Selbstverständigung möglicherweise nach sich zieht (3).
1.
Öffentlichkeit als Gegenmacht
Die Vermutung, dass die Hochkonjunktur des Transparenz-Begriffs eine relativ neue Erscheinung ist, wird durch einen Blick mit dem Google Ngram Viewer auf die in Google Books
erfassten deutschen Texte seit 1800 geradezu spektakulär gestützt: Die Kurve verläuft von
1800 bis in die 1920er Jahre nahe der Nulllinie, löst sich dann etwas, um Mitte der 1960er
Jahre zu einem steilen Anstieg anzusetzen, der sich seit 1985 noch einmal beschleunigt.1
Ergänzt man diesen statistischen Blick auf ein großes Text-Corpus über zwei Jahrhunderte hinweg durch einen Blick in Konversationslexika aus dem Ende des 19. Jahrhunderts, also
ungefähr in der Mitte des Zeitraums, so liegt die Erklärung für den auffälligen Kurvenverlauf
klar zu Tage: Sowohl Meyers Konversationslexikon in der 4. Auflage von 1885-1892 wie der
Brockhaus in der 14. Auflage von 1894-18962 verweisen für „Transparenz (neulat.)“ auf
„Durchsichtigkeit“ und behandeln den Begriff allein als physikalisch-optischen Begriff:
„Durchsichtigkeit, Diaphanität, Transparenz, die Eigenschaft der Körper, Licht durchzulassen“, so beginnt der Artikel im Brockhaus. Transparenz ist also ein fachwissenschaftlicher
Begriff, der im Deutschen erst seit den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in
jene sozialwissenschaftliche und öffentliche Sprache einwandert, in der Menschen ihre persönlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse beschreiben und reflektieren. Eine naheliegende Vermutung ist, dass die Anglisierung der sozialwissenschaftlichen Begriffe wie der
globalisierten Umgangssprache dabei eine Rolle spielt.
Wie aber ist vorher das heute mit Transparenz/Intransparenz gemeinte Problem asymmetrischer Zugänge zu Wissen und Information bezeichnet und diskutiert worden? Seit je
stellt ja ein privilegierter Zugang zu Information und Wissen, oft ein Monopol, ein zentrales
Merkmal von Herrschaft dar. Von den Weltdeutungs-Monopolen theokratischer Herrschaft
ganz zu schweigen, bildete ja noch in den schon rationalisierten Herrschaftsformen der europäischen frühen Neuzeit das Arkanum des Fürsten, sein Geheimbereich, das Zentrum der
Herrschaft. Wie Blitze aus einer dunklen, undurchdringlichen Wolke sollten die Entscheidungen von hier ausgehen, für die Untertanen unerforschlich nach ihren Gründen und Absichten. Auctoritas, non veritas, facit legem, hatte Thomas Hobbes, der große Theoretiker des
Absolutismus, im 17.Jahrhundert geschrieben. Nicht die Wahrheit bestimmt, was gilt, sondern die Autorität der Herrschaft.3
Die „Wahrheit“, der Hobbes keinesfalls die Gesetzgebung überlassen wollte, war die für
absolut gehaltene Wahrheit des religiösen Gewissens, Quelle und schier unerschöpflicher
Antrieb der religiösen Bürgerkriege seiner Zeit. Die mörderische Energie der „Wahrheit“ der
Konfessionen und Sekten und ihr jenseitig legitimierter Anspruch auf Durchsetzung ihrer religiösen Überzeugung durch Waffengewalt war, so argumentierte Hobbes, nur durch ein mit
1
https://books.google.com/ngrams/graph?content=Transparenz&year_start=1800&year_end=2000&corpus=20&s
moothing=3&share=&direct_url=t1%3B%2CTransparenz%3B%2Cc0. Abruf 03. 05. 2015
2
http://www.retrobibliothek.de/retrobib/seite.html?id=135703. Abruf 04.05. 2015
3
Zur Bedeutung der religiösen Bürgerkriege seiner Zeit für die Theoriebildung von Thomas Hobbes vgl. Reinhard
Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Frankfurt 1973
Gewalt durchgesetztes und garantiertes Gewaltverbot stillzustellen, eben die Etablierung
dessen, was heute das Gewaltmonopol des Staates heißt. Die historisch realen Entsprechungen dieser Theorie waren bekanntlich die absolutistischen Monarchien, denen in der Tat
die Beendigung der etwa zwei Jahrhunderte lang tobenden religiösen Bürgerkriege in Europa gelang.4
Die Theorie von Hobbes hat eine zweite Seite, die unter dem hier interessierenden Aspekt
wichtig ist und eine weitere nun anhebende historische Dynamik bezeichnet. Wenn das religiöse Gewissen durch das staatliche Gewaltmonopol daran gehindert wurde, seine Überzeugungen durch Waffengewalt durchzusetzen, so war andererseits die Freiheit des individuellen Gewissens zu respektieren und zu schützen, sofern sie sich an das Gewaltverbot
hielt. Die strikte Entkoppelung von Politik und - jenseitig legitimierter - Moral, von Staat und
Individuen, von Staatsraison und persönlichem religiösen Gewissen schuf zwei Domänen, in
die die jeweils andere Seite nicht hineinzuschauen hatte. Noch das berühmte Wort des aufgeklärten Absolutisten Friedrich von Preußen - „Räsoniert, so viel ihr wollt, aber gehorcht“ –
legt davon ein beredtes Zeugnis ab, wie es auch schon zeigt, dass es auf der Seite der Individuen keineswegs beim bloß individuellen religiösen Gewissen als eines persönlichen Geheimbezirks des Denkens und Meinens geblieben war. Denn Räsonieren, wir würden heute
sagen: Argumentieren, geschieht im Hinblick auf andere, setzt, wie Kant sagt, ein Publikum,
also eine – wie immer begrenzte – Öffentlichkeit voraus.5 Und diese Öffentlichkeiten waren
nicht mehr die der religiösen Gemeinden, sondern – dies ist bekanntlich der sozialgeschichtliche Kern der Aufklärung – Zirkel und Netze literarischer, philosophischer und zunehmend
politischer Diskussion. In ihnen wurden nach und nach – zunächst wie in den Freimaurerlogen durch Geheimhaltungsregeln geschützt - alle relevanten Fragen der Weltdeutung und
des individuellen wie gesellschaftlichen Selbstverständnisses verhandelt.6 Dies bedeutete der philosophische Kern der Aufklärung - vor allem: An die Stelle jenseitiger Begründungen
für richtiges Handeln aus geglaubter religiöser Offenbarung traten Begründungen, die sich
vor der diesseitigen menschlichen Vernunft rechtfertigen mussten. Wenn Wahrheit nicht
mehr die des religiösen Gewissens war, der Hobbes um des Friedens willens die Fähigkeit
zur Gesetzgebung abgesprochen hatte, sondern die Wahrheit des öffentlichen Diskurses
nach den Geltungsregeln der Vernunft, dann war der Grund entfallen, aus dem Hobbes die
Gesetzgebung allein dem Herrscher reserviert hatte. Denn an die Stelle der Unzugänglichkeit der jeweiligen religiösen Gewissen, die ja per definitionem durch keinen diesseitigen
Vernunftgrund zu überzeugen waren, konnte nun die Wahrheit des öffentlichen Diskurses als
4
Diesen Zusammenhang von autokratischer Herrschaft und Stillstellung des religiösen Bürgerkriegs in der
eigenen europäischen Geschichte scheinen die Regierungen des Westens heute vergessen zu haben, wenn sie
mit der Begründung, es gelte Despotien zu beseitigen, autokratische Regime in den muslimischen Ländern
entweder selbst wegbomben (wie Saddam Hussein im Irak oder Gaddafi in Libyen) oder Aufstände gegen sie
wohlwollend fördern (wie gegen Assad in Syrien). Immerhin hatten diese Regime in ihren Ländern durch ein
despotisch ausgeübtes Gewaltmonopol den religiösen Bürgerkrieg neutralisiert und eine Koexistenz von
Religionen und Konfessionen möglich gemacht. Ihre Beseitigung hat folgerichtig eine neue Ära rücksichtloser und
brutaler religiöser Bürgerkriege eröffnet, die etwa mit den Brutalitäten des Dreißigjährigen Krieges in Europa
mindestens mithalten können. In Europa ist – daran erinnert meine nun oben folgende Argumentation - die
Neutralisierung der religiösen Kämpfe durch autokratische Gewaltmonopole die unerlässliche Voraussetzung der
Entstehung von politisch selbstbewussten Gesellschaften und von Demokratie gewesen.
5
I. Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Kant Werke in zehn Bänden. Hrsg. v. W. Weischedel. Bd.
9. Darmstadt 1975. S. 53 – 61 – Dort auch der zitierte Ausspruch Friedrichs II
6
Zu Herausbildung der Öffentlichkeit im 18. und 19. Jahrhundert vgl. J.Habermas.: Strukturwandel der
Öffentlichkeit. Mit einem Vorwort zur Neuauflage 1990. (Zuerst Neuwied 1962). Frankfurt 1990
Medium des wechselseitigen argumentativen Überzeugens treten, als unerlässliche Grundlage der gesellschaftlichen Selbstermächtigung zur Demokratie.7
Die Entstehung von Gesellschaften, die sich als Subjekte ihrer politischen Gestaltung begreifen und in öffentlichen Diskursen ihre Zukunft verhandeln, war mithin die substantielle
Voraussetzung dafür, dass Demokratie als Selbstgesetzgebung der Bürger an die Stelle der
autokratischen Herrschaft der Monarchen treten konnte. Idealerweise würde nun die im öffentlichen Diskurs gefundene veritas mit der auctoritas der demokratischen Selbstgesetzgebung zusammenfallen und der Arkanbereich der Herrschaft würde sich auflösen.
In der europäischen Realgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts war das aber keineswegs so. Obgleich der Bereich der Öffentlichkeit sich erheblich ausweitete, blieb er in seiner
Geltung ebenso umkämpft wie in seiner Wirksamkeit als Herrschaftskontrolle. Herrschaft und
Öffentlichkeit blieben Gegenspieler, und Herrschaft galt als umso effektiver, je stärker sie Öffentlichkeit einengen oder kolonialisieren, d. h. selbst im Bereich der Öffentlichkeit effektiv
operieren und Zustimmung der Bevölkerung organisieren konnte. An zahlreichen Beispielen
könnte gezeigt werden, dass gerade in historischen Schlüsselsituationen die herrschaftskritische, aufdeckende, kontrollierende Kraft der Öffentlichkeit durch die Herrschaftsseite nicht
nur neutralisiert, sondern ins Gegenteil völlig unkritischer, emotional bestimmter Identifikationen mit Herrschaft und deren politischen Zielen verkehrt werden konnte. Die Zeit des Ersten
Weltkriegs etwa bietet besonders drastische Beispiele. Den politischen Eliten des deutschen
Kaiserreiches gelang es ja nicht nur, ihre sehr aktive Rolle bei der Herbeiführung des Krieges zu verschleiern, den Angriffskrieg als einen Verteidigungskrieg zu maskieren und nahezu die gesamte Bevölkerung in einen Taumel der Kriegsbegeisterung zu versetzen, sondern
auch, durch die „Dolchstoßlegende“ die militärische Niederlage am Ende der kriegsmüde
und kritisch gewordenen Öffentlichkeit zu Hause in die Schuhe zu schieben und damit den
Boden für ein Wiedererstarken eines aggressiven Nationalismus zu bereiten.
Nachdem der Nationalsozialismus die Erzeugung von Identifikation durch Kolonialisierung
und Instrumentalisierung der Öffentlichkeit auf die Spitze getrieben hatte und es ihm gelungen war, eine Folgebereitschaft der Bevölkerung bis in den Untergang zu erzeugen, wuchs
in den Nachkriegsjahren in der Bundesrepublik erst nach und nach die Einsicht, dass die
herrschaftskritische Rolle der Öffentlichkeit in einer Demokratie ganz und gar unverzichtbar
ist. Erst in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts konstituierte sich in einem
bis dahin undenkbaren und nun heftig umkämpften Prozess der Selbstermächtigung die Gesellschaft als kollektives Subjekt der als Staatsform schon bestehenden Demokratie. Dieser
Prozess, der historisch als Wiedergewinnung und Fortführung der Aufklärung, philosophischmoralisch als Wiederherstellung und Präzisierung eines moralischen Universalismus Kantischer Herkunft in der Perspektive globaler Geltung der Menschenrechte, kulturell und pädagogisch als Neuerschließung der emanzipatorischen, selbstbefreienden Potenziale in Bildung, Lebensführung und kulturellen Ausdrucksformen, gesellschaftlich und politisch als
Aufbau eines zivilgesellschaftlichen Fundaments der Demokratie beschrieben werden kann,
wäre ohne permanente Aktivierungen von Öffentlichkeit und ohne spektakuläre Ausweitungen ihrer Reichweite unmöglich gewesen.8
7
Die Unterscheidung zwischen den Ansprüchen des religiösen Gewissens und denen des öffentlichen Diskurses
trifft Koselleck nicht, wohl aber Habermas, bei dem die Legitimität öffentlicher Diskurse in der Demokratietheorie
zentral ist.
8
Diesen Prozess der Rekonstruktion gesellschaftlicher Öffentlichkeit habe ich näher beschrieben in: Gerd
Steffens: Vom „kommunikativen Beschweigen“ zur „Ergreifung des Wortes“ – Anmerkungen zur
Diskursgeschichte der Nachkriegszeit. In: Jahrbuch für Pädagogik 2009. Entdemokratisierung und
Gegenaufklärung. Frankfurt 2009
„Öffentlichkeit“ ist die Schlüsselkategorie dieser „Wahrnehmungsrevolution“ (GilcherHolthey 2008, 201ff) gewesen, die sich in den sechziger und siebziger Jahren ereignete und
alle Ebenen und Dimensionen gesellschaftlichen und politischen Handelns durchdrang; vom
Kampf gegen das Meinungsmonopol der Springer-Presse über die „Herstellung von Öffentlichkeit“ in Entscheidungsgremien durch studentische Go-Ins, die Umwandlung von Vorlesungen in Diskussionsarenen, durch die „Ergreifung des Worts“ (de Certeau 1994) durch
Menschen, die ohne irgendein offizielles Mandat ihre Fragen und Forderungen laut stellten,
durch Aneignung des öffentlichen Raums durch Demonstrationen und demonstrative Akte
zivilen Ungehorsams, durch eine Unzahl selbstproduzierter Veröffentlichungen in Flugblättern und Broschüren, durch Reaktivierung, Neuzuschneidung, Intensivierung der Arbeit in
Mitbestimmungsgremien jeder Art. Kurz: In einem intensiven Vorgang der Aneignung von unten eroberte sich die Gesellschaft Öffentlichkeit als ihren Handlungsraum in der Demokratie
zurück und erweiterte die Reichweite von Herrschaftskritik und –kontrolle ebenso wie den
Spielraum eigener politischer Aktion und Themensetzung ungemein. Die Wirkung, die die
gesellschaftliche Öffentlichkeit dabei entfaltete, beruhte auf einer sprunghaft erhöhten Produktion und Verbreitung politischen Wissens durch eine sich rasch ausbreitende Kultur des
Hinterfragens von Gegebenheiten und Vorgegebenheiten, wie die konservative Gegenkritik
beklagte. In der Tat waren „Hinterfragen“ von angeblichen Sachzwängen und „Entlarvung“
von Täuschungen und Irreführungen durch Regierungen oder Medien, von handfesten Eigeninteressen hinter Entscheidungen im vorgeblichen Allgemeininteresse die wirksamsten
Instrumente im Kampf um die Wiedereroberung von Öffentlichkeit als allseitige Gegenmacht
von Herrschaft.
Der Begriff der Transparenz spielte dabei keine Rolle, auch wenn es in großen Teilen
eben um das ging, was heute damit bezeichnet wird. Zwar weist der Google Ngram Viewer
(s. o.) schon für die sechziger Jahre ein deutlich erhöhtes Vorkommen nach, doch fand
Transparenz damals weder Eingang in die Sprache der Öffentlichkeits-Aktivisten, noch in die
Texte der äußerst elaborierten theoretischen Diskurse. Wenn selbst in diesen so umfassenden und differenzierten Debatten wissenschaftlicher Selbstverständigung9 kein Bedarf für
den Gebrauch des Transparenzbegriffs bestand, liegt die Vermutung nahe, dass das sozialwissenschaftliche Begriffsinventar zur Beschreibung und Analyse des damaligen „Strukturwandels der Öffentlichkeit“10 völlig ausreichend war.
2.
Transparenz im digitalen Zeitalter – ein Fall von abgründiger Dialektik
Warum der Roman von Eggers (Der Circle 2014) ins Zentrum der heutigen Debatte um
Transparenz führt und warum er Anstöße für eine problembewusste Reflexion bieten kann,
lässt sich an einer interpretierenden Vorstellung seines Inhalts verdeutlichen. Protagonistin
und Perspektivfigur des Romans ist eine junge, ehrgeizige Absolventin einer Elite-Uni, Mae
Holland, die darauf brennt, ihre perfekte Fähigkeit der Anpassung an Erwartungen und Ansprüche mächtiger Unternehmen erfolgreich anzuwenden. Als es ihr mit Hilfe einer Freundin
gelingt, im mächtigsten IT-Unternehmen der Welt Fuß zu fassen, beginnt ein unaufhaltsamer
Aufstieg, der sie selbst schließlich zum perfekten öffentlichen Ausdruck, zur transparenten
Repräsentantin eines Unternehmens macht, das sich anschickt, eben unter der Parole der
Transparenz die reale Weltherrschaft zu übernehmen. Der Circle, wie sich das Unternehmen
9
Weder bei Habermas noch bei Luhmann (um die beiden soziologischen Großtheorien der Zeit heranzuziehen)
hat der Begriff Transparenz einen theoretischen Status, sondern wird allenfalls beschreibend gebraucht.
10
Das Erkenntnisinteresse von Habermas an der Entstehung der bürgerlichen Öffentlichkeit war zweifellos – wie
viele seiner weiteren Arbeiten zeigen – durch ein starkes Gegenwartsinteresse an der Rekonstruktion
gesellschaftlicher, diskursiver Öffentlichkeit geleitet.
nennt, ist ersichtlich den derzeitigen IT-Giganten nachgebildet. Eggers fügt deren öffentliche
Ikonographie, ihre alle Poren der Gesellschaft durchdringende Kommunikations-Macht, ihre
als Projekt der jungen Generation und als Lifestyle-Angebot verkleidete ökonomische Potenz
sowie die in die Zukunft greifenden Strategien zur Umformung des Lebens und der Gesellschaft (wie sie insbesondere Google praktiziert) zum Bild eines Unternehmens zusammen,
welches seine Reichweite und Durchsetzungskraft permanent und unaufhaltsam erweitert.
Zwar weiß der Leser sich in einem Zukunftsraum, doch erkennt er zugleich alles als reale
Möglichkeiten der Gegenwart. Dieser kleine zeitliche Hiatus, dieser Spalt zwischen „jetzt“
und „noch nicht“, aktiviert die kritischen Potenziale des Textes, weil er als beiläufiges Moment der Verfremdung Distanz schafft und den Blick für Fragen öffnet, die dem sonst
scheinbar Selbstverständlichen und deshalb Unbefragten gelten. Solche verhaltenen Signale
der Distanz braucht der Leser, um sich von der Wucht der Zustimmung zu lösen, die durch
die Sichtweise der Protagonistin vermittelt wird. Denn ebendies, das fraglose und begeisterte
für richtig Halten, der unbeirrbare Glaube, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen,
ist es, der die zahlreichen jungen Mitarbeiter des „Circles“ ebenso wie ihre Millionen Kunden
und Followers in der ganzen Welt zu einer Gemeinschaft zusammenschweißt, die jeden
Zweifel an den menschheitsbeglückenden Zielen des Unternehmens, insbesondere am großen Projekt der Transparenz, für eine Ausgeburt des Irrsinns hält. Glaube und Gemeinschaft
bilden den außerökonomischen Antrieb, dessen – wie wir spätestens seit Max Weber11 wissen – der Kapitalismus bedarf, um Produktivität und Wachstum aufrecht zu erhalten. Die
Grenzen zwischen „System“ und „Lebenswelt“12 sind völlig aufgehoben, das System ist die
Lebenswelt, und die Angestellten des „Circle“, die sich lieber als Mitglieder denn als Mitarbeiter betrachten, bewegen sich Tag und Nacht im Bannkreis ihrer Arbeit, immer präsent, immer
für alle anderen elektronisch zu orten, immer arbeitsbereit. Ein Abtauchen in Privatheit – die
Anklänge an Orwells „1984“ sind unüberhörbar – gilt als eine Art sozialen Verbrechens. Als
Mae, die Hauptfigur, auf dem Rückweg von einem Wochenendbesuch bei ihren Eltern –
auch dies schon ein unerwünschtes Ausbüchsen – ihrer spontanen Lust auf eine nächtliche
Kajakfahrt in einer kalifornischen Bucht folgt und sich dazu bei einem ihr bekannten, aber
schon geschlossenen Bootsverleih ein Kajak beschafft, wird dies zum Anlass eines Erziehungsgesprächs, einer veritablen Gehirnwäsche, bei einem der „Drei Weisen“, vulgo der Besitzer und Chefs des „Circle“. Natürlich hatte die vom „Circle“ ausgelöste Kampagne der
Sichtbarmachung von Allem und Jedem durch Minikameras auch das Gelände der Bucht erfasst und Maes nächtlichen Ausflug dokumentiert. Nun hält ihr „der Weise“ nicht nur die illegale Entleihung des Kajaks vor, sondern auch, dass sie ihrerseits aus „Selbstsucht“ (Eggers
2014, 321) die Eindrücke ihres nächtlichen Ausflugs nicht mit allen anderen Menschen „geteilt“ habe, und er exerziert daran mit Mae, wie Transparenz im Sinne des „Circle“ zur moralischen Grundlage des Zusammenlebens überhaupt werden soll. Wie in totalitären Gehirnwäschen immer die Grundlage ihres Funktionierens, setzt „der Weise“ auch in diesem Gespräch darauf, dass Mae die Zugehörigkeit zum Circle über alles geht und sie sich deshalb
einer Sicht der Dinge aus dessen Perspektive vollständig unterwerfen wird. Angelpunkt dieser sozialen Konstruktion ist deshalb eine in dieser Unterwerfung akzeptierte Law-and11
Der Titel des berühmten Aufsatzes „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ von 1905 gibt
schon in Kurzfassung die These: Die Hingabebereitschaft der Menschen an die Arbeit bedarf der
außerökonomischen Motivierung, in der Entstehungsphase des kapitalistischen Unternehmergeistes durch
spezifische protestantische Ethik der beruflichen Askese. (Weber 2010)
12
Diese Unterscheidung wird von verschiedenen Soziologen (z.B. Habermas 1981) vorgenommen, um zu
verdeutlichen, dass Menschen in der Moderne auf zwei grundlegend verschiedene Weisen vergesellschaftet sind:
einerseits durch „Systeme“ (Staat, Wirtschaft, Bildungseinrichtungen etc.), deren Regeln sie unterliegen,
andererseits durch die „Lebenswelt“, worunter alle Bereiche selbst – mindestens tendenziell – gestaltbarer
Gesellschaftlichkeit begriffen werden.
Order-Moral, also eine konventionelle Moral in der Terminologie Kohlbergs und Habermas‘
(vgl. Habermas 1976), für deren Einhaltung die permanente Sichtbarkeit aller Handlungen,
also vollkommene Transparenz, sorgen soll. Denn Menschen können - nach dem Menschenund Ordnungsbild des „Circle“ - nicht etwa deshalb, weil sie als freie, autonome Subjekte ihre
Handlungen an den Regeln einer postkonventionellen Vernunftmoral zu prüfen imstande
sind, richtig handeln, sondern nur, weil sie die durch vollkommene Transparenz hergestellte
Gewissheit der – sozialen oder juristischen – Sanktionierung fürchten. Der Reduktion der
Moral auf Folgebereitschaft entspricht eine Reduktion des Wahrheitsbegriffs auf eine extrem
trivialisierte Abbildtheorie: wenn alles klar wie in einem Spiegel zu Tage liegt, ist es wahr.
„Ein Spiegel ist wahrhaftig, richtig?“, fragt „der Weise“, und Mae antwortet: „Natürlich. Es ist
ein Spiegel. Es ist Realität.“ (Eggers 2014,329)
Der Welt der Transparenz, die auf hoch elaborierter Technologie beruht, entspricht ein
völlig unterkomplexes Denken in allen Belangen gesellschaftlicher und menschlicher Selbstverständigung. Die permanente und kurz getaktete Kommunikation übers Netz ist ganz auf
Ja-Nein-Strukturen, Smiles und Frowns, angelegt, durch die auf diese Weise trivialisierbare
Bedürfnisse und Zufriedenheiten von Kunden ermittelt werden oder untereinander ausgetauscht werden müssen, was durch ein „Partizipations-Ranking“ (Eggers 2014,119) überprüft
wird. Nachdenken oder Erörterung kommen als Form geistiger und kommunikativer Tätigkeit
nicht vor. Das gilt auch und vor allem für Politik und Demokratie, wie der Circle sie sich vorstellt. Sehr rasch gelingt es, nahezu alle Politiker „transparent“ zu machen, d.h. mit einer um
den Hals getragenen Streaming-Kamera auszustatten, damit jeder jederzeit die Tätigkeit des
Politikers aus dessen Blickwinkel wahrnehmen und ihn so „kontrollieren“ kann. Doch das ist
nur eine Zwischenstufe auf dem Weg zur völligen Ausschaltung einer erwägenden und debattierenden Öffentlichkeit im Namen der totalen Transparenz: Mit einem Zwangsaccount eines jeden Wahlberechtigten beim Circle könnte der Circle nicht nur Wahlen anstelle des
Staates durchführen, sondern auch Abstimmungen über Gesetze mit 100 % Beteiligung
durchführen; Unwilligen oder Stimmfaulen würden einfach die Netzzugänge so lange gesperrt, bis sie abgestimmt hätten! „Keine Lobbyisten mehr. Keine Stimmauszählung mehr.
Vielleicht gäbe es sogar keinen Kongress mehr. Wenn wir den Willen des Volkes jederzeit
feststellen können, ungefiltert, ohne Fehlinterpretationen und Verfälschungen, wäre dann
nicht sogar Washington größtenteils überflüssig?“, fragt einer der „Weisen“ (Eggers 2014,
444).
In der Gedankenwelt des „Circle“ spielt die Autonomie eines vernünftigen Selbst keine
Rolle mehr, Aufklärung, oft pathetisch beschworen, ist wirklich halbiert, auf die instrumentelle
Dimension der Vernunft radikal zurückgeschnitten. Spuren eines autonomen Selbst, wo sie
noch auftreten, irritieren. Deshalb wischt der „Weise“, als er nach dem Erziehungsgespräch
Mae Circle-öffentlich als „Erwachte“ und nun unbeirrbare Propagandistin der Transparenz
vorführt, jedes reflexive Zögern Maes beiseite, weil es noch einen inneren Selbstverständigungsprozess anzeigen könnte. „Ich gehöre ganz Euch“, hat Mae früher schon einmal gesagt und damit ihr Einverständnis in die Auflösung ihres Selbst in die Gemeinschaft des
Circle signalisiert. „Einzeln wisst ihr nicht, was ihr kollektiv tut“ (Eggers 2014, 297), hält Mercer, ein früherer Freund, Mae vor. Mercer ist eine Gegenfigur, die nicht mehr zum Gegenspieler werden kann, weil er weiß, dass das Spiel gegen den Circle und seine lawinenartig
anwachsende Gefolgschaft schon verloren ist. Deshalb zieht sich Mercer in eine – wie er
glaubt – unzugängliche Waldregion zurück, wird dort aber in einer durch Mae dirigierten öffentlichen Verfolgungsjagd aufgespürt, die die Effizienz des Transparenz-Projektes beweisen
soll, weil die Welt mit der Circle-Technologie und der Folgebereitschaft seiner Anhänger so
durchsichtig und für jeden Zugriff offen geworden ist, dass soziale Abweichler und Verbre-
cher auch in entlegenen Verstecken in kürzester Zeit aufgespürt werden können. Mercer, der
es vorzieht, dieser Jagd durch einen Sturz in den Tod zu entkommen, ist einer der wenigen,
die noch von außen in die Schöne Neue Welt13 blicken können, aus einer Perspektive noch,
aus der die enorme Erweiterung der technischen Kommunikationsmittel als eine radikale
Verarmung menschlicher Kommunikation erkennbar ist. Sie werde „bereitwillig sozial völlig
autistisch“, hält er Mae vor. „Du kriegst die einfachsten menschlichen Kommunikationssignale nicht mehr mit. Du sitzt mit drei Leuten an einem Tisch, die dich alle anschauen und versuchen, mit dir zu reden, und du starrst auf ein Display“ (Eggers 2014, 298). Doch Mercers
Kritik ist ebenso auf verlorenem Posten wie der Versuch des geheimnisvollen Kalden, Mae
davon zu überzeugen, dass sie ihre Rolle als Frontfrau der Transparenz dazu nutzen müsse,
eine Erklärung über „Die Rechte des Menschen im digitalen Zeitalter“ zu verlesen, um damit
ein Zeichen für einen Aufstand zu geben.
Der Roman von Eggers zeigt – und darin liegt m. E. seine zeitdiagnostische Anregungskraft – wie auch Transparenz, wird sie wie ein tool, ein Instrument zur Konstruktion der digitalen Welt benutzt, aus einem Mittel der Kritik in eines der Selbstunterwerfung und der Herrschaft verwandelt werden kann. Insofern führt Eggers eine neue Gestalt, eine zeitgemäße
Variante der Selbstzerstörung vor, zu der Aufklärung fähig sein kann, wie wir spätestens seit
Horkheimer/Adornos Dialektik der Aufklärung (1944/1969) und Horkheimers Kritik der instrumentellen Vernunft (1947/1967) wissen. Die Instrumentalisierung von Rationalität und ihrer modernsten technologischen Ausprägungen zu Herrschaftszwecken kann ihre volle, umfassende Wirkungskraft aber nur dann entfalten, wenn die Menschen ihr auf den Leim des
Lebensverbesserungs- und Freiheitsversprechens gehen und die soziale Konstruktion totaler
Kontrolle für ein selbstgewähltes Paradies ihrer Möglichkeiten halten. Gegenüber der allgegenwärtigen Kontrolle durch grenzenlose Transparenz, wie sie der Roman von Eggers dicht
an der heutigen Wirklichkeit (man denke nur an NSA-Affäre und Vorratsdatenspeicherung)
zeichnet, wirken das Blockwart-System der Nazis oder der Stasi-Apparat geradezu vorsintflutlich. Die totale Transparenz einer digital beherrschten Welt verspricht nicht nur eine vollendete Kontrolleffizienz (deshalb ist die Vollendung, die Schließung des Kreises das emblematische Handlungsziel der „drei Weisen“), sondern sie erscheint den im vollendeten Kreis
Eingeschlossenen als das ultimative Reich der Freiheit selbst, welches sie durch permanente Aktivität reproduzieren. Durch ein damit stetig erneuertes Einverständnis in den Verzicht
auf die andere Hälfte der Aufklärung bekräftigen sie damit immer auch den Verzicht auf die
Autonomie des Selbst und den Gebrauch einer Vernunft, die selbstreflexiv und selbstkritisch
ist und deshalb eine gesellschaftliche Ebene des Denkens hervorbringen kann, auf der über
Geltungsgründe, Ziele und Zwecke „transparent“ diskutiert werden kann. Die einleuchtenden
Gründe oder Gegengründe, Argumente oder Gegenargumente bringen aber eine ganz andere Art der Transparenz hervor als die digitale Präsenz von allem und jedem.
3.
Öffentlichkeit oder Transparenz?
Was unterscheidet diskursive Öffentlichkeit, deren Entstehung und gesellschaftlich-politische
Bedeutung oben dargelegt wurde, von einer Transparenz im digitalen Zeitalter, wie sie sich
unter zeitdiagnostischen Blick an Eggers Roman erschließt? Ich will abschließend durch die
Hervorhebung wesentlicher Unterschiede Folgerungen für zeitdiagnostisches und kritisches
Denken heute nahelegen.
13
Aldous Huxleys 1932 erschienener Roman Brave New World bildet unverkennbar eine andere literarische
Referenz.
1. Die diskursive Öffentlichkeit ist eine autonome Sphäre, die sich in der regelsetzenden
und regelprüfenden Kommunikation von Menschen herstellt und die nichts anderem verpflichtet ist als dem vernünftigen Austausch von Argumenten. Diese ideale Bestimmung ist
keine Zustandsbeschreibung, sondern eine regulative Idee fairer, vernunftgeleiteter Kommunikation, auf die sich ein jeder beziehen kann und die die entscheidende Möglichkeitsbedingung gesellschaftlicher Kritik bildet. Die Bedingungen von Transparenz in der digitalen Gesellschaft hingegen werden durch die Herren ihrer technischen Möglichkeiten bestimmt, die
Besitzer der großen IT-Unternehmen, nach deren Profit- und Weltgestaltungsinteressen. Die
Anspielungen auf die „Geheim-Projekte“ der „drei Weisen“ im Roman von Eggers (selbstverständlich besteht der Arkanbereich der Herrschaft auch bei „vollendeter Transparenz“ fort)
unterbieten vermutlich die Reichweite dessen, worüber heut schon in den Laboratorien etwa
von Google nachgedacht wird.14
2. Unter digitalen Bedingungen ist die Privatheit privater Kommunikation völlig aufgehoben, weil der Komplex aus IT-Unternehmen, Geheimdiensten und Regierungen auf jede digital vermittelte Kommunikation Zugriff hat und mittels gigantischer Rechner- und Speicherkapazitäten und entsprechenden Suchmaschinen und Selektoren der gesamte Kommunikationsverkehr nicht nur potenziell, sondern de facto und wirkungsvoll kontrolliert werden kann.
Die totale Durchsichtigkeit der privaten Welt von oben trifft nicht nur die Intimität, sondern gerade auch den Bezirk vertrauensvoller zwischenmenschlicher Kommunikation, in dem sich
Meinungen und Argumente herausbilden, bevor sie in öffentliche Diskurse eingehen. Debatten über „informationelle Selbstbestimmung“ sind in einer so gestalteten Welt der Transparenz reine Augenwischerei. Auch die Bundesregierung scheint mittlerweile dem Eindruck
kaum noch entgegentreten zu wollen, dass sie sich lieber zu einvernehmlicher Komplizenschaft mit der NSA entscheidet als gegen die gesetz- und grenzenlose Überwachung ihrer
Bürger vorzugehen.
3. Ähnlich wie in Eggers‘ Roman (auch darin ist er realistisch) regt sich weder hierzulande
noch irgendwo auf der Welt Empörung gegen totale Transparenz als Möglichkeit und Wirklichkeit unentrinnbarer Kontrolle. Offenbar ist die Attraktivität des globalen Marktplatzes der
Information und Kommunikation so hoch, dass auch das Wissen darüber, dass alles, was auf
diesem Marktplatz vor sich geht, von interessierten Mächtigen abgefischt wird, weder zur
Empörung noch zum Ausstieg führt. Neben den enormen Erleichterungen, Beschleunigungen und Gewinnen an Reichweite scheint dafür die Befriedigung ausschlaggebend zu sein,
selbst wahrgenommen zu werden, auch wenn diese Wahrnehmung in Beobachtung und
Überwachung besteht. „Ich. Ich will gesehen werden. Ich will den Beweis, dass ich existiert
habe“, sagt Eggers Hauptfigur auf die Frage, wer denn überhaupt dauernd beobachtet werden wolle (Eggers 2014, 550). Das Bedürfnis nach Anerkennung, eigentlich Antrieb sozialer
Produktivität, gibt sich mit der Schwundstufe der Registrierung zufrieden, und das Muster
des Zeichens, mit dem der Einzelne bemerkt werden will, ist nicht mehr irgendetwas Besonderes, gar Originelles, ein neuer Gedanke, eine anziehende Eigenart, eine produktive Herausforderung der anderen, sondern die leere Wiederholung des immer Gleichen als bloßer
Beleg der Zugehörigkeit. Die uniforme Welt der digitalen Gemeinschaft ist eine extrem konventionelle Welt und ihre Transparenz misst Übereinstimmung und Abweichung. In ihr ist
weder Platz für unkonventionelle Ideen, Ausdrucks- oder Lebensweisen, noch für die postkonventionelle Erörterung der Regeln und Prinzipien, nach denen wir unser Leben gestalten
wollen. Wenn wir daran weiter festhalten wollten, werden wir uns gegen die Verheißungen
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Vgl. dazu und zu den Konsequenzen für Bildung und Pädagogik Jahrbuch für Pädagogik 2014:
Menschenverbesserung – Transhumanismus.
einer Transparenz zur Wehr setzen müssen, die vor allem als perfekte Maschine zur Herstellung eines Einheitsdenkens funktioniert.
Literatur
de Certeau, M. (1994): La prise de parole (1968). Paris.
Eggers, D. (2014): Der Circle. Roman. Köln.
Gilcher-Holtey, I. (2008): 1968. Eine Zeitreise. Frankfurt/M.
Habermas, Jürgen (1990): Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962). Mit einem Vorwort zur Neuauflage
1990. Frankfurt/M.
Habermas, J. (1976): Moralentwicklung und Ich-Identität. In: J. Habermas: Zur Rekonstruktion des
Historischen Materialismus. Frankfurt/M.
Habermas, J. (1981): Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde. Frankfurt/M.
Horkheimer, M. (1967): Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. (deutsche Fassung von Eclipse of
Reason, 1947). Frankfurt/M.
Horkheimer, M. & Adorno, T. W. (1969): Dialektik der Aufklärung (1944). Frankfurt/M.
Kluge, S.; Lohmann, I. & Steffens, G. (Hrsg.) (2014): Jahrbuch für Pädagogik 2014 - Menschenverbesserung - Transhumanismus. Frankfurt/M.
Koselleck, R. (1973): Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt
(1954/1959).Frankfurt/M.
Steffens, G. (2009): Vom „kommunikativen Beschweigen“ zur „Ergreifung des Wortes“ – Anmerkungen
zur Diskursgeschichte der Nachkriegszeit. In S. Kluge; G. Steffens & E. Weiß (HRSG): Jahrbuch
für Pädagogik 2009. Entdemokratisierung und Gegenaufklärung. Frankfurt/M. 15 – 40.
Steffens, G. (2007): Politik als Diskurs. In D. Lange; V. Reinhardt (Hrsg): Basiswissen Politische Bildung. Handbuch für den sozialwissenschaftlichen Unterricht. Bd. 2 Strategien der politischen Bildung. Baltmannsweiler. 10 – 21
Weber, M. (2010): Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904/1905). Herausgegeben und eingeleitet von Dirk Kaesler. 3. durchgeseh. Aufl.. München.
Prof. Dr. phil. Gerd Steffens
geb. 1942, lehrte bis 2007 Politische Bildung und ihre Didaktik am
Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Kassel und
ist Mitherausgeber des „Jahrbuchs für Pädagogik“ und Mitglied im
Wissenschaftlichen Beirat von Attac. Gegenwärtige Arbeitsschwerpunkte: Transformationskrisen und gesellschaftliche Lernprozesse;
Historische Kompetenz und Politische Bildung.