Der Circle

Dave Eggers
Der Circle
Roman, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014
559 S., ISBN 978-3-462-04675-5, 22.99 €
ISBN: 978-3-462-30820-4 (eBook), 19.99 €
Ein richtiges Maß an Transparenz ist ohne Zweifel für eine demokratische und an
Partizipation interessierte Gesellschaft essenziell. Doch Transparenz hat eine Grenze. Wenn
diese überschritten wird, kehrt sie sich in ihrer gesellschaftlichen Wirkung in eine Richtung,
die als zunehmend totalitär zu beschreiben ist.
Dies ist die zentrale Botschaft des vom kalifornischen Schriftsteller Dave Eggers verfassten
Romans „Der Circle“.
George Orwells „1984“ wird in die Zukunft projiziert; dennoch hat man den Eindruck, dass
dieser Roman bereits viele Mechanismen des heutigen Internetzeitalters beschreibt: Der
Wunsch, sich über Facebook, Twitter & CO transparent bis in die kleinsten (und banalsten)
Feinheiten des alltäglichen Lebens darzustellen, steht in einen extremen Kontrast zum
Versuch der Bürgerrechtsbewegung in den 70-er und 80-Jahren des vorherigen
Jahrhunderts, sich gegen die staatlich verordnete Volkszählung in Deutschland zu wehren.
Groß war der zivilgesellschaftliche Widerstand gegen die staatliche Erhebung einfacher
statistischer Daten wie z.B. Lebensalter, Wohnsitz und Haushaltsgröße. Heute entblößt sich
die gesamte Person freiwillig über persönliche Homepages, LinkedIn- oder Facebook-Seiten,
ohne dass es hier eines staatlichen Zwangs bedarf…
Zur Geschichte des Romans:
Die 24-jährige Mae Holland, Psychologin mit diffuser Berufsorientierung, hat durch die
Vermittlung einer Freundin – Annie – überraschend einen Job bei einem die
Marktbeherrschung anstrebenden kalifornischen Internetkonzern ‚Circle‘ erhalten. Die
Botschaften dieses Unternehmens werden bereits beim ersten Passieren des Fußwegs auf
dem Konzerngelände deutlich. Mae Holland durchquert das mit Zitronen- und
Orangenbäumen gesäumte Gelände für ihren Dienstantritt und liest die beschwörenden
Botschaften auf den roten Pflastersteinen des Weges wie „Träumt“, „Bringt euch ein“, „Sucht
Gemeinschaft“, „Seid innovativ“, „Seid fantasievoll“ oder „Atmet“. Obwohl das Unternehmen
‚Circle‘ noch keine sechs Jahre alt war, hat es zu diesem Zeitpunkt bereits über 10.000
Mitarbeiter auf dem Hauptcampus und hunderte von Mitarbeitern in jedem Land der Welt
(„junge Köpfe“). Jeder, der Mitglied bzw. Kunde bei ‚Circle‘ werden will, muss sich einer
einzigen Internetidentität unterwerfen, über die jegliche Kommunikation abzulaufen hat. Alle
Facetten dieser Kommunikation müssen hierbei transparent für jeden anderen Kunden
weltweit sein. Nicht-Transparenz und Nicht-Teilhabe an jedweder Kommunikation und
Partizipation an ‚Circle‘-Events gilt als Verfehlung und wird fein gestuft negativ sanktioniert.
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Doch bevor Mae sich der Transparenz-Problematik der Circle-Welt bewusst wird, lässt sie
sich einfangen und blenden, bewegt sich mit zunehmender Begeisterung und
Professionalität in das mediale Spinnennetz von ‚Circle‘ hinein. Die Circle-Welt ist durch
vielfältige und visionäre Teams junger WissenschaftlerInnen, die unter hohem Arbeitsdruck
unter Aufgabe einer eigenen Identität an vermarktbaren Zukunftsprojekten arbeiten.
Unterstützt wird diese Arbeit durch mediale Selbstinszenierungen der Organisationsspitze –
dem dreiköpfigen legendären Gründer-Team – durch einen gigantischen Freizeitpark auf
dem Haupt-Campus, mit Pools, Fitnesscenter, Heil- und Entspannungscentern, modernsten
Wohnbereichen und Arbeitsbereiche, die mit multimedialen Glaswänden durchsetzt sind.
Mae stürzt sich in die berufliche Aktivität, die vor allem in der Vermarktung des
Geschäftsmodells von ‚Circle‘ und in der Neuwerbung von Kunden besteht. Hierbei werden
ihre Arbeitsnormen ständig hochgesetzt, permanente Feedbacks von Supervisoren
versuchen ihre Leistungsmotivation und den Prozentsatz ihres Werbeerfolgs bis nahe an die
100% zu steigern. Zwischendurch wird sie ständig aufgefordert mit anderen Mitarbeitern und
Kunden von ‚Circle‘ Kommunikation zu betreiben und an Circle-Events teilzunehmen.
Nicht-Teilnahme und kommunikative Abstinenz führen zu negativem Feedback,
Abstufungen in Rankings bis hin zu Vorladungen bei Vorgesetzten, die mit dem Entzug von
Privilegien drohen, z.B. der Übernahme der Krankenversicherung für ihren schwer
erkrankten Vater. Dennoch setzt sich Mae beruflich durch und steigt in der Hierarchie des
Internetkonzerns soweit auf, dass sie zur Konkurrenz ihrer Freundin Anne wird. Der Preis
hierfür ist hoch: Selbstaufgabe, Vernichtung von privaten Beziehungen und Arbeit bis zur
Erschöpfung und zum mehrfachen Zusammenbruch. Die Abhängigkeit von Klicks und
Zustimmungswerten in der Circle-Community und der immer drängender werdende Wunsch,
alle Aktivitäten und Kommunikationen medial zu verfolgen, ständig online zu sein, wird für
Mae zunehmend zur Sucht, der sie sich nur in seltenen Augenblicken der Bewusstwerdung
und des Sich-Ausklinkens entziehen kann. Doch auf den Ameisen-affinen Einbezug und der
Gleichschaltung der Gesamtexistenz basiert das Erfolgskonzept des Konzerns, der mit
wachsendem Erfolg das Monopol über den Internetbereich, der Kontrolle zentraler
ökonomischer Bereiche bis hin zur Beherrschung von Politikern und Wirtschaftsführern
anstrebt. So führt eine Kampagne des Konzerns dazu, dass sich zunehmend mehr Politiker
eine mit dem Internet verbundene Mikrokamera am Körper befestigen lassen, die die CircleKunden an ihren Tagesaktivitäten in politischen und privaten Entscheidungssituationen
teilhaben lässt. Politiker, die sich diesen Anforderungen totaler Transparenz unterwerfen,
werden mit Wählerstimmen von Millionen Circle-Kunden belohnt. Dies erfolgt unter dem
Motto ‚Transparenz, Partizipation und Demokratie‘ und legt die Grundlage für ein mediales
Überwachungssystem feinmaschig kontrolliert durch den ‚Circle‘. Doch auch
Gegentendenzen formieren sich, Mae begegnet einem geheimnisumwitterten Mann, der sie
verunsichert und Zweifel an der Circle-Welt aufkeimen lässt …
Mehr soll hier nicht über den Roman verraten werden, der durchgehend dicht geschrieben
ist sich insgesamt packend liest. Zum Abschluss noch ein Zitat aus dem Klappentext des
Buches:
„Mit seinem neuen Roman ‚Der Circle‘ hat Dave Eggers ein packendes Buch über eine
bestürzend nahe Zukunft geschrieben, einen Thriller, der uns ganz neu über die Bedeutung
der Privatsphäre, Demokratie und Öffentlichkeit nachdenken und den Wunsch aufkommen
lässt, die Welt und das Netz mögen uns bitte manchmal vergessen.“
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Das hier vorgestellte Buch ist allen sehr zu empfehlen, die sich selbst – und das dürften
die meisten sein – umfangreich mit hoher Intensität in der Internetwelt aufhalten (müssen?).
Möglicherweise kann es zu einer kritischen Nachdenklichkeit führen, angesichts der
Buchlektüre und des dort nachvollziehbar beschriebenen klammheimlichen Verlusts von
Maes Subjektivität, der immer repressiver werdenden Abhängigkeit und des Gefühls von
Leere und Diffusion, das Mae zunehmend in der Welt des Circle überkommt, und sie vor
eine existenzielle Entscheidung stellt…
‚Der Circle‘ ist ein Buch, das man unbedingt lesen sollte, wenn man sich mit dem Thema
‚Transparenz‘ beschäftigt bzw. sich hiervon berührt fühlt – sehr empfehlenswert.
Klaus Moegling
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