Greta Schoch entschied sich an einem schönen Frühlingstag, nach einigen Wochen der Zurückgezogenheit, wieder am öffentlichen Leben teilzunehmen. Meist erledigte sie nur schnell Lebensmitteleinkäufe, die für mindestens eine Woche reichten. Sie genoss die Freiheit, Erledigungen aufschieben zu können. Ihr regelmäßiges Bewegungstraining absolvierte sie ohne Ausnahmen jeden Tag frühmorgens, wenn die Straßen noch leer waren. Zu diesen frühen Stunden marschierte sie flotten Schrittes eine Stunde lang ihre gewohnte Runde und genoss die Freude an der Bewegung. Ihr Weg führte sie dabei durch einen riesigen Park, der sie nie langweilte, ja immer wieder aufs Neue faszinierte. Der Wechsel der Jahreszeiten, das Blühen und Vergehen der Bäume und Pflanzen. Am meisten liebte sie die Tiere, welche im Park lebten. Eichhörnchen, Amseln und Raben. Manche von ihnen konnte sie am Gefieder unterscheiden, auch die Tiere schienen sich schon an sie gewöhnt zu haben. Sie konnte nicht verstehen, wie Menschen die Unterhaltung durch Fernsehen und Nachrichten der Natur und einem guten Buch vorziehen konnten. Die täglichen Meldungen verfolgte sie schon lange nicht mehr. Freilich machte sie sich oft Gedanken, dass sie eigentlich am Weltgeschehen teilnehmen müsste, doch die ewigen schlechten Nachrichten deprimierten sie. Nun hatte sie seit Jahren die Gewohnheit, gerade so viel aufzunehmen, dass sie das Wichtigste wusste, ohne sich in die Details des Weltgeschehens und die unterschiedlichen Meinungen der Politiker zu vertiefen. Wie sollte die Welt besser werden, wenn sich die Menschen auf das Negative konzentrierten. Wobei ihr das Schicksal der Welt nicht egal war. Im Gegenteil, sie wünschte sich sehnlichst den großen Wandel herbei, das die Menschen endlich begriffen wie sinnlos die ewigen Auseinandersetzung und Kriege waren. Doch wie sollte das geschehen, wo schon im Kleinen, unter den einzelnen Menschen wegen Banalitäten gestritten und Kleinkriege geführt wurden. Solche Gedanken überfielen sie oft, doch dann riss sie sich schnell wieder zusammen und versuchte sich vorzustellen, wie endlich auf jeder Ebene Frieden unter den Menschen herrschte. Ihre Lieblingsvorstellung war, dass in hundert Jahren, die Kinder in ihrem Geschichtsunterricht mit Staunen die damaligen Zustände erfahren würden und nicht verstehen konnten, wie die Menschheit so leben konnte. Sie hatte auch die Gewissheit, dass ihr kleines Geheimnis sich der Menschheit immer weiter offenbaren würde. Noch gehörte sie zu einer Minderheit, die begriffen hatte, wie sinnlos und unnötig die Gebrechlichkeit im Alter war. Als sie die Lebensmitte erreicht hatte und einzelne Beschwerden sie zu tangieren begannen, entdeckte sie durch Zufall, wie sie diese zum Verschwinden bringen konnte. Sie hatte in einem Buch eine kurze Erwähnung entdeckt und aus einer übermütigen Laune heraus die Szene aus dem Buch nachgespielt und mit Erstaunen das Verschwinden ihres Schmerzes erlebt. Da begriff Greta eine große Wahrheit, die sie jedoch noch nicht ganz verstand. Seit diesem Erlebnis verschlang sie jedes Buch, dessen sie habhaft werden konnte, um mehr herauszufinden. Immer wieder stieß sie auf die Erkenntnis, dass Schmerzen und Unwohlsein, sowie seelische Verstimmung immer Botschaften ihrer Seele waren. Botschaften, die sie anstießen, ihr Leben nicht gedankenlos zu verbringen, sondern bewusst zu leben. Wenn gar nichts mehr ging, sie einfach nicht wusste worauf sich ihr Unwohlsein bezog, zog sie sich in die Stille zurück. Heutzutage nannte man es Meditation. Dieser Begriff klang ihr zu exotisch, sie nannte es einfach „ihre Stille“. Wenn sie so vollkommen still dasaß, tauchten in ihr Bilder über Szenen aus ihrem Leben auf und sie begriff ohne viel logisches Nachdenken, worum es ging, brauchte sich diese Szene nur genau anzusehen. Und der Schmerz verschwand still und leise wieder – wie ein Bote, der ein Paket erfolgreich zugestellt hatte. Ihre Kinder und Enkel lebten seit langem bereits ihr eigenes Leben. Im Gegensatz zu den meisten Eltern, hatte Greta nicht das Bedürfnis, ständig informiert zu sein. Sie konnte es schätzen, nicht mit allem konfrontiert zu werden. Helfen konnte und sollte sie nicht, zuhören genügte meist. Erfuhr sie über Probleme, machte sie sich wieder Gedanken und wälzte diese im Kopf herum. Ein sinnloses Unterfangen, wie sie meinte. Da war es sinnvoller, man hörte seltener voneinander und konnte sich dann länger über interessante Dinge austauschen. Obwohl sie wusste, dass die jungen Menschen ihre Lebenserfahrungen auch auf negative Weise machen mussten, tat es ihr leid, dass sie noch nicht die Reife für ihre Strategie hatten. Freilich passte ihr im Leben vieles nicht. Doch ihre langjährige Gewohnheit, mit Bestimmtheit die positiven Dinge zu fordern, wenn sie genug hatte, führte sie immer wieder zu ihren Wünschen hin, statt sich in Negativem zu suhlen und darüber zu lamentieren. Nachdem Greta sich eine kleine Mahlzeit zubereitet hatte und sich für ein kurzes Nickerchen in ihren Polstersessel gesetzt hatte, erinnerte sie sich beim Aufwachen an ihr Vorhaben. Verwirrt stellte sie fest, dass sie sich eigenartig leicht fühlte, fast als ob sie schwerelos wäre. Kopfschüttelnd schritt sie leichtfüßig in ihr Schlafzimmer und schlüpfte in ihre Jeans und eine leichte Jacke. Als Greta in den zweiten Schuh schlüpfen wollte, verharrte sie mitten in der Bewegung. Ihre Unlust, die Wohnung zu verlassen wurde mit einem Mal übermächtig. Seufzend setzte sich auf den kleinen Hocker im Vorraum. Ihre Finger trommelten nervös auf dem Oberschenkel. Sie fühlte sich einfach eigenartig, konnte sich nicht erklären weshalb. Sie atmete tief ein, stand auf und griff nach ihrer Handtasche. Auf dem Schlüsselbord an der Wand hing nur ihr Wohnungsschlüssel neben vielen frei gewordenen Schlüsselhaltern. Dieser Anblick deprimierte sie zusehends mehr. Ein einzelner Haken in die Wand eingeschlagen, würde vollauf reichen, überlegte sie und beschloss, diesen Gedanken gleich nach ihrer Rückkehr in die Tat umzusetzen. Mit ihren 83 Jahren bewegte sie sich zum Erstaunen ihrer Umgebung geschmeidig und schnell, doch an diesem Tag schien sie regelrecht über dem Boden zu schweben. Wenn ihr graues Haar und die faltige Haut nicht gewesen wären, hätte man sie auf knapp sechzig Jahre schätzen können. Sie wollte nicht jugendlicher wirken als ihrem Alter entsprach, doch in Jeans fühlte sie sich seit Jahrzehnten am wohlsten. Greta überwand ihre Unlust endgültig und schlüpfte rasch aus der Wohnung. Da sie nicht gerade ihren leutseligen Tag hatte, hoffte sie, nicht über die Hausbesorgerin zu stolpern. Deren endloses Gerede über Probleme mit dem Garten und achtlosen Mietern ging ihr auf die Nerven. An manchen Tagen konnte sie es leichter ertragen, an diesem wollte sie lieber darauf verzichten. Erleichtert atmete sie auf der Straße auf. Ihre Stimmung hob sich sprunghaft und sie freute sich, nun doch im Freien zu sein. Es war ein strahlender Tag, blauer Himmel mit ein paar weißen Schleierwolken. Ihre Laune bekam nach einigen Metern gleich wieder einen Dämpfer. Wäre Greta nicht ausgewichen, hätten die jungen Leute sie einfach umgerannt. Erstaunt sah sie den jungen Männern nach, die sich gut gelaunt unterhielten, keinen aggressiven Eindruck machten. Die Jugendlichen hatten auf ihr „Aber Hallo!“ überhaupt nicht reagiert. Es wunderte sie jedoch immer mehr. Wenigstens eine halbherzige Entschuldigung hatte sie schon erwartet. Nichts dergleichen war geschehen. Außerdem, die jungen Leute heutzutage schienen völlig zu spinnen. Die liefen in kurzen Hosen und ärmellosen Shirts herum. Ihr war mit der Jacke nicht zu warm. Sie fand, dass sie für die Jahreszeit passend gekleidet war. Auf diese Tatsache aufmerksam geworden, sah sie sich genauer unter den übrigen Passanten um. Verunsichert über ihr Urteilsvermögen, bemerkte Greta nun, dass alle Menschen überaus leicht gekleidet waren. Sie blinzelte in die Sonne und versuchte die Wärme der Strahlen zu erhaschen. Nichts. Kein Wind, keine Hitze, nicht mal laue Wärme. Greta fuhr der Schreck in die Glieder. Mit unruhigem Blick versuchte sie eine freie Sitzbank auszumachen und steuerte hastig darauf zu. Greta ließ sich auf die hölzerne Bank fallen, parkte ihre Handtasche auf dem Schoß und lehnte sich zurück. Nachdem sie die Augen kurz geschlossen hatte, wagte sie wieder einen Blick auf die Umgebung. Sie wunderte sich, dass niemand sie zu beachten schien, da sie mit ihrer relativ warmen Kleidung wie ein bunter Vogel auffallen musste. Schlagartig drängte sich ihr die Erinnerung an ihre Vergangenheit auf. Greta hatte oft über die alten Menschen, die im Sommer mit warmen Mänteln bekleidet waren, gerätselt. Fragte sich, wie sie die Hitze ertragen konnten. Sie überlegte die Möglichkeit, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Sicher, körperlich fühlte sie sich fit und kräftig, nur an diesem Tag viel zu leicht – fast schwerelos. Nicht so, wie viele in ihrem Alter. Ob sie geistig abbaute, vielleicht einen leichten Schlaganfall nicht mitbekommen hatte? Mit Grausen bedachte sie diese Möglichkeit. Ein Arztbesuch sollte nun ihr erster Weg sein. Sie hatte keine Ahnung, ob ihr Hausarzt noch praktizierte. Dr. Hasler war bereits vor 15 Jahren, nachdem sie die letzte Routineuntersuchung über sich ergehen hatte lassen, alt gewesen. In den vergangenen Jahren hatte sie sich nie um solche Banalitäten gekümmert. Greta beharrte felsenfest auf ihrer Überzeugung, dass man erst richtig krank wurde, wenn man wegen jeder kleinen Unpässlichkeit zum Arzt lief, verließ sich lieber auf ihre Methode mit Beschwerden umzugehen. Dabei viel ihr ein, dass sie schon seit geraumer Zeit nichts mehr bemerkt hatte. Zwei Tage zuvor hatte Greta noch mit ihrem Sohn telefoniert. Er wäre sicher vorbeigekommen, wenn ihm bei ihr etwas aufgefallen wäre. Oder konnte es sein, dass er mit seinem eigenen Leben zu sehr beschäftigt war, um es zu bemerken? Ganz entgegen ihrer Gewohnheit suchte sie ihre Umgebung nach einem bekannten Gesicht ab. Ja, wünschte sich verzweifelt die lästige Hausbesorgerin herbei. Da entdeckte sie Frau Wiegand, die Nachbarin, die zwei Stockwerke unter Gretas Wohnung lebte. Meist wich sie der Quasselstrippe aus, wenn es irgendwie möglich war. Jetzt war sie über deren Auftauchen erleichtert. Erwartungsvoll sah sie ihr entgegen. Die Nachbarin schien Greta jedoch nicht zu sehen. Komisch, dachte sie, die entdeckt mich immer noch bevor ich merke, dass sie kommt. Sie rief Frau Wiegand von ihrer Bank aus laut an. Das durfte doch nicht wahr sein! Die Wiegand hörte sie einfach nicht, wurde schwerhörig! Ging einfach an ihr vorbei. Verdutzt sah sie ihr nach. Konnte es sein, dass die nur so getan hatte, als ob sie sie nicht gesehen hätte? Wenn das zutraf, musste sie sich an der eigenen Nase nehmen. Wie oft hatte sie das bei anderen gemacht? Sehr oft. Bei diesem Gedanken schluckte sie ihren Ärger hinunter und erhob sich wieder. Einige Sekunden verharrte sie noch unschlüssig, ob sie umkehren oder ihren Weg fortsetzen sollte. Greta straffte sich und entschied sich zur Fortsetzung ihres Weges. Sie wollte im nahe gelegenen Einkaufszentrum ein neues Buch kaufen. Über ihren eigenartigen Zustand konnte sie nach ihrer Rückkehr weiter sinnieren. Greta fühlte sich bloß anders und mehr zählte für sie im Moment nicht. Sie beachtete die Menschen auf der Straße nicht mehr. Völlig überwältigt bemerkte sie das Schillern der Luft in allen Regenbogenfarben und die Blütendüfte aus dem nahen Park, der ihr gerade in den Sinn kam. Auch die üblichen Straßengeräusche hörte sie an diesem Tag nicht, schien sie vollkommen auszublenden. Wehmütig dachte sie an die Jahre zurück, an denen sie die Motorengeräusche und heulenden Sirenen genervt hatten. Hätte sie nur damals schon diese Fähigkeit besessen. Völlig glückselig blickte sie nach oben gen Himmel, sah die Vögel und hörte ihr fröhliches Gezwitscher. So konnte sie jeden Tag genießen! In Greta sträubte sich alles gegen das Gewühl im Einkaufszentrum, so sehr gefiel ihr die neue Art die Umgebung wahr zu nehmen. Sie wollte sich beeilen und so bald wie möglich wieder draußen sein. Ungeduldig wartete sie an der Fußgängerampel, dass diese auf Grün umschaltete und lief eilig auf den Eingang zu. Greta hatte die Gewohnheit, in den Spiegel beim Eingang zu gucken und ihre Frisur mit einem hastigen Blick im vorüber Gehen zu überprüfen. Diesmal bremste sie ihren Schritt jedoch abrupt ab. Greta drohte die Fassung endgültig zu verlieren, stand da und konnte sich nicht mehr bewegen, begann zu zittern wie ein verängstigter Hund und starrte ihr leeres Spiegelbild an. Sie sah darin nur die Menschen in ihrer Umgebung. „Hallo Greta“, hörte sie hinter sich die tiefe, sonore Stimme, die sie so gut kannte, während sie die Spiegelfläche ohne ihr Abbild anstarrte. „Paul?!“, ihre Stimme, die bereits schwach klang, brach endgültig. Langsam drehte sie sich um und starrte ihrem Mann ins Gesicht. Dem Mann, den sie so unglaublich vermisste - den sie fünf Jahre zuvor beerdigen musste. Ihr leicht geöffneter Mund brachte keinen Ton hervor. Er trat vor und nahm sie bei der Hand, drückte ihr einen leichten Kuss auf die Wange. „Willkommen im Klub, meine Süße“, sagte er und zog sie behutsam mit sich fort.
© Copyright 2025 ExpyDoc