Übersetzung I Wodurch zeichnet sich wahre

Baden-Württemberg – Latein
Übungsaufgabe – Übersetzung I
Wodurch zeichnet sich wahre Seelengröße aus?
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Sed ea animi elatio, quae cernitur in periculis et laboribus, si iustitia vacat pugnatque non
pro salute communi, sed pro suis commodis, in vitio est. Non modo enim id virtutis non
est, sed est potius immanitatis omnem humanitatem repellentis. Itaque probe definitur a
Stoicis fortitudo, cum eam virtutem esse dicunt propugnantem pro aequitate. Quocirca
nemo, qui fortitudinis gloriam consecutus est insidiis et malitia, laudem est adeptus: nihil
enim honestum esse potest, quod iustitia vacat.
Fortes igitur et magnanimi sunt habendi non, qui faciunt, sed qui propulsant iniuriam.
Vera autem et sapiens animi magnitudo honestum illud, quod maxime natura sequitur, in
factis positum, non in gloria iudicat principemque se esse mavult quam videri. Etenim qui
ex errore imperitae multitudinis pendet, hic in magnis viris non est habendus. Facillime
autem ad res iniustas impellitur, ut quisque altissimo animo est, gloriae cupiditate. Qui
locus est sane lubricus, quod vix invenitur, qui laboribus susceptis periculisque aditis non
quasi mercedem rerum gestarum desideret gloriam.
(159 Wörter)
Hilfen zu den im Text unterstrichenen Wörtern:
Z. 1
elatio, -onis f.
Aufschwung
Z. 2
in vitio esse
schuld sein, fehlerhaft sein
Z. 3
immanitas, -atis f.
Unmenschlichkeit, Entsetzlichkeit, Wildheit, Rohheit
Z. 4
aequitas, -atis f.
Gerechtigkeit, Humanität
Z. 4
quocirca
daher
Z. 7
magnanimus, -a, -um
hochherzig, mutig
Z. 7
propulsare
abwehren, abwenden
Z. 10
pendere, pendeo ex
abhängen, abhängig sein von
umso leichter … jeder, je (+ Komparativ)
Z. 10 / 11 facillime, ut quisque
Z. 12
lubricus, -a, -um
glatt, schlüpfrig
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Lösung
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Im Unterschied zu vielen anderen philosophischen Schriften Ciceros wie De re publica, De
legibus oder De finibus bonorum et malorum ist das Werk De officiis nicht in Dialogform,
sondern als Traktat verfasst. Dieses letzte philosophische Werk Ciceros, das an seinen Sohn
Marcus adressiert ist, hat die allgemeinen Pflichten, insbesondere die des Staatsmannes, als
Thema.
Das Werk De officiis umfasst drei Bücher, von denen das erste den sittlichen Teil (honestum),
das zweite den nützlichen Teil (utile) der Pflichten behandelt und das dritte das Verhältnis
von honestum und utile zueinander.
Im ersten Buch geht Cicero auf die grundlegenden Tugenden Weisheit (sapientia), Gerechtigkeit (iustitia), Tapferkeit (fortitudo) bzw. Seelengröße (magnanimitas) und Mäßigung (temperantia) ein. Das Buch schließt mit dem Fazit, dass die Pflichten gegenüber dem Vaterland
(patria) wichtiger sind als gegenüber der Familie oder gar einzelnen Personen. Der Übersetzungstext steht ziemlich zu Beginn des Abschnitts zur Seelengröße, über die vor allem ein
Staatsmann verfügen solle. Sie dürfe aber nie ohne iustitia auftreten, wie es nach Ciceros Ansicht bei Caesar der Fall war.
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Im ersten Abschnitt verdient die zweifache Verwendung von est in Verbindung mit einem Genitiv (Z. 2: virtutis, Z. 3: immanitatis) besondere Beachtung, da es im Sinne von „es ist ein
Zeichen von etw.“ übersetzt werden muss, wovon das Verständnis dieser Textstelle abhängt.
In den Z. 3/4 sollte vor der Übersetzung der Aufbau des Konjunktionalsatzes geklärt werden:
Vom eigentlichen Konjunktionalsatz cum … dicunt ist zunächst der AcI eam (= fortitudinem)
virtutem esse abhängig. Das folgende Participium coniunctum propugnantem wiederum
bezieht sich auf virtutem.
Im zweiten Absatz sollten in den Z. 8 /9 vor einer Übersetzung zunächst iudicat, wovon der AcI
illud honestum … in factis positum (esse), non in gloria (positum esse) abhängt, und mavult
als Prädikate des Hauptsatzes identifiziert werden.
Aber dieser Aufschwung der Seele, den man in Gefahren und Mühen wahrnimmt, ist fehlerhaft, wenn er von Gerechtigkeit frei ist und nicht für das allgemeine Wohl, sondern für die
persönlichen Vorteile kämpft. Denn das ist nicht nur kein Zeichen von Tugend, sondern
vielmehr Zeichen einer Rohheit, die jede Menschlichkeit zurückweist. Daher wird die Tapferkeit von den Stoikern richtig definiert, wenn sie sagen, dass diese eine Tugend ist, die für Gerechtigkeit kämpft. Daher hat niemand, der den Ruhm der Tapferkeit mit Hinterlist und Bosheit erreicht hat, Lob errungen: Denn nichts kann ehrenvoll sein, was frei von Gerechtigkeit
ist.
Als tapfer und hochherzig dürfen also nicht diejenigen angesehen werden, die Unrecht tun,
sondern diejenigen, die es abwehren. Aber wahre und weise Seelengröße urteilt, dass jenes
Ehrenvolle, das die Natur besonders erstrebt, in den Taten liege, nicht im Ruhm, und will
lieber das Erste sein als scheinen. Denn wer vom Irrtum der unkundigen Masse abhängig ist,
der darf nicht unter die bedeutenden Männer gezählt werden. Umso leichter aber wird jeder
durch die Begierde nach Ruhm zu ungerechten Handlungen verleitet, je höheren Geistes er ist.
Dieses Gelände ist freilich schlüpfrig, weil kaum einer gefunden wird, der nach Übernahme
von Anstrengungen und dem Angehen von Gefahren nicht gewissermaßen als Lohn für die
Taten den Ruhm ersehnt.
Cicero, de officiis 1, 62.65
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