Das Wort des Rabbiners Liebe Freunde, das Fest Chanukka nähert

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Das Wort des Rabbiners
Liebe Freunde, das Fest Chanukka nähert sich. Was denken Sie, worin besteht
der Sinn dieses Festes, dessen Geschichte wir kennen, für unsere Liberale
Jüdische Gemeinde Hamburg?
Nach den Hohen jüdischen Feiertagen erlebten wir noch ein wichtiges Ereignis im
Leben der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland: Erinnerungen an den 9.
November 1938! Das bedeutet für uns, dass die schlimmen Zeiten des NationalSozialismus oder andere dunkle Seiten der Unmenschlichkeit nie wieder nach
Deutschland zurückkehren dürfen.
Das Licht des Festes Chanukka vertreibt die Finsternis der Unmenschlichkeit!
Ich möchte die Geschichte einer Chanukka- Feier in Auschwitz erzählen. Als die Zeit
des Chanukka- Festes kam, wollte ein alter Jude unbedingt die erste ChanukkaKerze anzünden. Er tauschte Portionen von Brot, seine und die seines Sohnes,
gegen einen kleinen Docht und Margarine für die Herstellung des Leuchters. Als es
Zeit war, die erste Kerze anzuzünden, kamen viele Gefangene, um den seltsamen
Menschen anzuschauen, der Brot gegen den selbst gemachten Leuchter tauschte.
Der alte Mann sprach den Lichtersegen über die Chanukka- Kerze, aber der
Leuchter brannte nicht, weil die Margarine von einer sehr schlechten Qualität war.
Der Sohn fragte den Vater bitter: „Papa, was hast du denn gemacht? Jetzt haben wir
nichts zum Essen, und die Chanukka- Kerze konntest du auch nicht anzünden!“
Darauf antwortete der Vater: „Mein Sohn, wir lernten hier sehr viel. Wir lernten, ohne
Brot eine ganze Woche lang zu leben. Es gab Tage, wo wir sogar ohne Wasser
überlebten. Aber ohne Hoffnung können wir keine Minute leben.“
Das Licht dieser Hoffnung leuchtet für uns hier in Hamburg durch die Geschichte des
liberalen Israelitischen Tempels. Wir können uns heute daran erinnern, dass 400
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jüdische Kinder diesen Tempel in der Nazi-Zeit besucht haben. Die Zeitzeugin Eva
Stiel1 spricht für diese Generation:
„Wir haben, wie die ersten liberalen Juden, unsere Glaubenshaltung aus der Welt
des Zweifels gewonnen. In der Auseinandersetzung mit dem Alten haben wir sehen
und urteilen gelernt. Jeder neue Schritt verlangt von uns Selbständigkeit im Denken
und Entscheiden. Würden wir diese Selbständigkeit aufgeben und stattdessen uns
blind und kritiklos der Tradition überliefern, so würden wir das Beste in unserem Tun
aufgeben, nämlich die innere Lebendigkeit und Ehrlichkeit. Wir wollen nur das von
der Tradition übernehmen, was wir als ganze Menschen mit Verstand und Herz
verwirklichen können“…
Wenn wir in diesem Jahr die Chanukka- Kerzen anzünden werden, wird das das
Symbol für unsere gemeinsame Hoffnung mit denjenigen sein, die man in den KZs
vernichtet hat. Wir können das Licht der inneren Lebendigkeit und Ehrlichkeit wieder
anzünden. Wir können nun verstehen, dass das von uns ausgerechnet jetzt abhängt.
Heute hat jeder von uns auch viele Lebenssorgen und Ängste, die Zeit und Kraft
erfordern, jedoch sagt die Erfahrung unserer Vorfahren, dass wir immer Zeit für das
Anzünden der festlichen Kerzen finden können. Wir können nur gut daran denken.
Aber was bedeutet das – gut daran denken?
Viele jüdische Migranten, die aus der ehemaligen Sowjetunion seit 1990 kamen,
dachten, wie sie aus den Orten herauskommen, an denen sie sich schwer taten, dort
zu leben; und vielleicht wurde die Hilfe, die die deutsche Gesellschaft ihnen leistete,
für selbstverständlich genommen. Jedoch basierte all das auf dem jüdischen
Glauben der Menschen, die selbst den Holocaust überlebten. Der große liberale
Rabbiner Leo Baeck, der das KZ überlebte, ließ uns dazu ein ganz klares Testament
zurück: „Was wir an unserem Mitmenschen tun ist Gottesdienst“. Es ist ein
moralischer Kompass für liberales Judentum in Deutschland nach der Schoa! Das ist
das einzige Bindeglied, das uns mit denjenigen verbindet, die hier einst lebten, schon vor 200 Jahren. Und jetzt, wenn die Leute bereits etabliert sind, jeder auf
Andreas Brämer (2003): The Dialectics of Religious Reform: The Hamburger Israelitische Tempel in Its Local
Context 1817-1938, in: Yearbook Leo Baeck Institute, Jahrgang 48, S. 25 - 37
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seine Art, am neuen Ort, kann jeder daran denken, was er für die wieder hergestellte
liberale jüdische Gemeinde tun kann, damit das Licht dieser Hoffnung nicht erlischt.
Aber was kann ein ungesunder älterer russischsprachiger Mensch, der selbst
Hilfe braucht, machen?
Die Geschichte über den alten Juden in Auschwitz ist meine Antwort. Er hat selbst
nicht überlebt, jedoch gab er den Lebenswillen an seinen Sohn durch dieses Beispiel
weiter – an seinen Sohn und an alle seine Nachkommen. Ältere Menschen, die den
Friedens- und Verständnisgeist in die Gemeinde mit einbringen, indem sie ihre reiche
Lebenserfahrung benutzen, können sehr viel für künftige Generationen tun.
Als ich das Gebet vor dem Platz sprach, an dem das Denkmal der zerstörten Tora-
Rollen steht, - vor dem liberalen Israelitischen Tempel in der Oberstraße in Hamburg
- wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass die schlimme Explosion der
Unmenschlichkeit, die die Schicksale aller Juden Europas für viele Generationen
zerstörte, unser Schicksal, gerade hier begann, in den zerstörten Synagogen
Deutschlands.
In der Sowjetunion wurde uns immer eingetrichtert, dass die Juden nur eine
ethnische Gemeinschaft sind, die kein Verhältnis zur Religion haben. Jedoch begann
die Vernichtung unseres Volkes aus irgendeinem bestimmten Grunde mit der
Zerstörung der Synagogen in Deutschland. Und die Wiederbelebung des jüdischen
Lebens in Deutschland beginnt mit der Wiederbelebung jüdischer synagogaler
Gemeinden. Nun ist die Zeit für die junge Generation gekommen und für diejenigen,
die lernen, studieren und arbeiten, auch darüber nachzudenken.
Hat das irgendeine Beziehung zum alten religiösen Fest Chanukka?
Ursprünglich hängt das Chanukka- Fest damit zusammen, dass die Juden den
Kampf um die religiöse Freiheit damals gegen unmenschliche Diktatur begannen.
Dann wurde diese Bewegung zum Kampf für die eigene Staatsunabhängigkeit, die
mit Erfolg gekrönt war und zum Prototyp für die Gründung des Staates Israel nach
2000 Jahre wurde.
Jene sowjetischen Juden, die der „guten“ Bearbeitung des totalitären Regimes
unterzogen wurden, ja, zwei unmenschliche Diktaturen überlebten, können jetzt
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endlich verstehen, dass jüdische Volkszugehörigkeit und jüdische Religiosität sich
auf natürliche Art und Weise ergänzen.
Es kann koexistieren, weil die jüdische Religion viele Gesichter hat, viele Optionen
für die freie Wahl. Wir haben jetzt die Freiheit in Deutschland, uns die Form des
Judentums zu wählen, in dem wir uns zu Hause fühlen. Und nur dann kann es
gelingen, unser persönliches Leben zu leben, auch wenn es nötig ist, es zu
beschützen. Die Kinder vor 1938 fragen uns, ob wir “diese Selbständigkeit aufgeben“
können? – Nur das Licht kann die Dunkelheit besiegen! Die Zeit ist gekommen, um
das lebendige menschliche Licht in deiner Seele und in deiner Gemeinde zu
entzünden.
Ich wünsche Dir ein fröhliches jüdisches Fest des Lichts - Chag Urim
Sameach!
https://de.wikipedia.org/wiki/Israelitischer_Tempel_(Hamburg)
Dr. Navon,
Liberaler Landesrabbiner für Hamburg