«Wer mehr Zeit braucht, sollte nicht bestraft werden»

Nachteilsausgleich
«Wer mehr Zeit braucht, sollte nicht bestraft werden»
Berufslernende mit Beeinträchtigungen können für das Qualifikationsverfahren
einen Nachteilsausgleich beantragen. Sarah Jost machte von dieser Möglichkeit
Gebrauch. In der Ausbildung zur Köchin litt sie in hektischen Situationen unter
Angststörungen. Diese verhinderten, dass sie ihre volle Leistung abrufen konnte.
diese Angstgefühle aus. Trotzdem versu­
che ich, mich zu konzentrieren und alles zu
geben. Aber dann passieren eben Fehler.
Das wiederum bestätigt mir, dass ich nicht
gut bin, und macht alles noch schlimmer.
Wie fühlt sich so eine Angstattacke an?
Gar nicht gut. Meine Hände werden kalt,
ich beginne zu schwitzen, der Kopf ist wie
ausgeschaltet. Das ist kein angenehmes
Gefühl.
Die Angstgefühle traten zu Beginn Ihrer
Kochlehre auf. Was genau geschah?
Ich bin jemand, der schon immer etwas
mehr Zeit brauchte. Im ersten Lehrjahr
jedoch erhöhten sich die Schwierigkeiten
sprunghaft. Ich konnte mich einfach nicht
an den Zeitdruck und den ruppigen Um­
gang im Lehrbetrieb gewöhnen und wurde immer wieder aufgefordert, meine Ar­
beit schneller zu erledigen. Aufgrund der
Schwierigkeiten wechselte ich für das zweite Lehrjahr den Lehrbetrieb. Fortan war ich
in der Küche des Alters- und Pflegeheims
«Schärme» in Melchnau. Hier nahm man
sich Zeit und war sehr verständnisvoll. So
konnte ich bald wieder Fuss fassen und
Fortschritte erzielen. Ich durfte zuneh­
mend Verantwortung übernehmen.
Der Nachteilsausgleich half ihr, das Qualifikationsverfahren zu bewältigen: Sarah Jost.
Peter Brand
Frau Jost, Sie leiden an Angststörungen. Was genau muss man sich darunter
vorstellen?
Stress löst bei mir Angstattacken aus.
Diese blockieren mich, sodass ich nicht
mehr konzentriert arbeiten kann und
langsamer werde. Das realisiere ich und
gerate noch mehr in Stress. Mein Ar­
beitstempo geht weiter zurück. Die Angst
hindert mich daran, meine normale Leis­
tung zu erbringen. An sich vertraute Ar­
beiten fallen mir plötzlich schwer.
Wodurch werden diese Attacken aus­
gelöst?
In der Regel durch zeitlichen Stress. Aber
auch eine ruppige Bemerkung kann mich
aus dem Gleichgewicht bringen. Wird je­
mand zum Beispiel laut oder fordernd,
bereitet mir das grosse Mühe und löst
Und wann kam der Nachteilsausgleich
ins Spiel?
Am letzten überbetrieblichen Kurs vor dem
Qualifikationsverfahren lieferte ich eine
dermassen schlechte Leistung ab, dass das
Thema auf dem Tisch lag. Ich war ziemlich schockiert und fragte mich, ob ich die
Prüfungen überhaupt schaffen würde. In
der Folge unterstützte mich die Bera­
tungsstelle der Gewerblich-Industriellen
Berufsfachschule. Aufgrund der diagnos­
tizierten Angststörung erhielt ich dann
gewisse Erleichterungen beim Qualifika­
tionsverfahren.
Woraus bestanden sie genau?
Mir standen 20 Prozent mehr Zeit zur Ver­
fügung als den anderen Kandidatinnen
und Kandidaten. Zudem waren meine Prü­
fungen auf zwei statt auf einen Tag ver­
teilt. Weiter wurde mir ein etwas abge­
schotteter Prüfungsplatz zugewiesen, damit ich in Ruhe arbeiten konnte und nicht
unnötig abgelenkt war und in Konkur­
renzstress kam.
Sie haben die Prüfungen bestanden. In
dem Fall haben die Erleichterungen ihren Zweck vollumfänglich erfüllt?
Absolut. Ohne die Erleichterungen hätte
ich es wohl nicht geschafft. Schon nur zu
wissen, dass ich mehr Zeit hatte, beruhig­
te mich ungemein.
Sie absolvieren nun vollzeitlich die Berufsmaturität. Wie kommen Sie im Schulalltag zurecht?
Gut. Die Attacken treten in diesem Umfeld
nicht mehr auf. Einzig wenn ich etwas vor­
tragen muss, werde ich ab und zu nervös.
Aber das war schon immer so. Mittlerweile habe ich mich längst daran gewöhnt.
Wir sind eine gute, kleine Klasse. Da geht
das eigentlich prima. Die Schulleistungen
stimmen – einzig in der Mathematik muss
ich noch etwas mehr Gas geben.
Angenommen, es tritt wieder eine At­ta­­
cke auf. Wie verhalten Sie sich? Haben
Sie eine Strategie entwickelt?
Es gibt durchaus Dinge, die helfen. Ich ver­
suche in solchen Momenten zum Beispiel,
Wasser zu trinken. Dann bin ich auf das
Trinken fokussiert, zudem beruhigt Was­
ser. Auch das Händewaschen hilft. Bevor
ich einen Vortrag halte, gehe ich zudem
immer noch kurz zur Toilette. Allgemein
versuche ich, gute Gedanken zu haben
und nicht an mögliche Pannen oder Prob­
leme zu denken. Wichtig ist auch, dass ich
gut atme.
Was raten Sie anderen Lernenden, die
körperliche oder psychische Nachteile haben, im Hinblick auf das Qualifikationsverfahren?
Sie sollten das Thema unbedingt anspre­
chen und einen möglichen Nachteilsaus­
gleich geltend machen. Dazu gehört auch,
dass man allfällige Beeinträchtigungen
möglichst frühzeitig meldet. Das Anspre­
chen braucht zwar Mut, denn man weiss
nie, was die anderen denken. Aber man
hat diese Erleichterung einfach zugute. Es
geht nicht darum, dass man dumm ist
oder etwas schlechter kann. Aber man
braucht etwas länger, um zu einem guten
Resultat zu kommen. Darin steckt auch
Qualität. Wer mehr Zeit braucht, sollte
nicht bestraft werden.
[email protected]
Buchtipp
Die Publikation «Nachteilsausgleich für
Menschen mit Behinderung in der Be­
rufsbildung» des SDBB ist eine wichtige
Arbeitsgrundlage für Fachpersonen und
Fachstellen, die sich mit der konkreten
Umsetzung von Massnahmen des Nach­
teilsausgleichs beschäftigen.
Mehr zum Bericht: www.berufsbildung.
ch/dyn/20116.aspx
Mehr zum Thema: www.erz.be.ch/na
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