Bozena Anna Badura Normalisierter Wahnsinn?

Bozena Anna Badura
Normalisierter Wahnsinn?
Forschung Psychosozial
Bozena Anna Badura
Normalisierter Wahnsinn?
Aspekte des Wahnsinns im Roman des frühen
19. Jahrhunderts
Psychosozial-Verlag
Diese Veröffentlichung beruht auf einer Dissertation der Universität Mannheim.
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ISBN 978-3-8379-2440-4
Inhalt
Danksagung
11
1.
Einleitung
13
1.1
Theoretische Grundlagen
24
1.2
Ausgewählte Forschungsliteratur zum Thema Wahnsinn
32
1.3
Funktionalisierungen des Wahnsinns in der Literatur
35
2.
Einführung in literarische, philosophische und
naturwissenschaftliche Aspekte des Wahnsinns
41
Ein historischer Überblick
2.1
Antike – Der Wahnsinn zwischen Segen und Zorn Gottes
2.2
Von der Besessenheit über eine psychosomatische Störung
zur selbstverschuldeten Narrheit
52
44
Die ersten Versuche einer Taxonomie
2.3
Zwischen den Leidenschaften, der Rationalität des
Wahnsinns und der Vernunft
57
2.4
An der Grenze zum 19. Jahrhundert
62
Der wissenschaftliche Blick auf den Wahnsinn
2.5
Ein Genie, ein Geistesgestörter oder einfach nur ein Narr?
67
Die Figurationen des Wahnsinns
5
Inhalt
3.
Die Gesichter des Wahnsinns
73
3.1
Die wahnsinnigen Figuren der ausgewählten Romane
73
Ein einführender Überblick
3.1.1
Wilhelm Meisters Lehrjahre von Johann Wolfgang von Goethe
(1795/96)
76
3.1.2
Ahnung und Gegenwart von Joseph von Eichendorff (1815)
79
3.1.3
Die Elixiere des Teufels von E. T. A. Hoffmann (1815/16)
92
3.1.4
Maler Nolten von Eduard Mörike (1832)
96
3.2
Über die Ursachen des Wahnsinns
103
4.
Der Wahnsinn auf der Handlungsebene
107
4.1
Die Rolle des Wahnsinnigen in der Figurenkonstellation
109
4.1.1
Der verbindende Wahnsinn
112
4.1.2
Der inspirierende Wahnsinn
118
4.2
Der Wahnsinnige auf dem Weg vom Aufklärer zum Retter
122
4.3
Die erkenntnisleitenden Funktionen des Wahnsinns im
Prozess der Reflexion
129
4.3.1
Der Wahnsinn als Ausdruck des unbewussten Inneren: Die
Bespiegelungsfunktion und ihr Beitrag zur (Selbst-)Erkenntnis 135
4.3.2
Durch den Wahnsinn zum »wahren« Selbst: Die regulative
Funktion
140
4.4
Die Unterhaltungsfunktion der Wahnsinnigen
147
4.5
Zwischenergebnisse
150
5.
Der Wahnsinn als Instrument der Kritik
153
5.1
Wahnsinn als ein Ausnahmezustand zur Erprobung
philosophischer Ansätze
161
5.2
Der Wahnsinn als Kritik am Kollektiv
174
5.3
Kritik am adeligen Bildungsideal
177
5.4
Die wahnsinnige Figur im Auftrag der Säkularisierung
179
5.5
Zwischenergebnisse
183
6
Inhalt
6.
6.1
»Optimum est aliena frui insania«: Der Wahnsinn
als Instrument zur Belehrung des Lesers
Eine wirkungsästhetische Funktionsanalyse
187
Krankheitsbilder und Heilmethoden des Wahnsinns
Eine informative Funktion
Der Wahnsinn im Dienste der weiblichen Emanzipation
Der sanktionierende Wahnsinn
Amantes, amentes: Wahnsinn aus unangemessener Liebe
Der Wahnsinn als Ausdruck von Reue
Zwischenergebnisse
193
7.
Der »normale« Wahnsinn
An der Grenze zwischen Normalität und Wahnsinn
229
8.
Resümee und Ausblick
237
Literatur
243
Primärliteratur
Sekundärliteratur
243
245
6.2
6.3
6.3.1
6.3.2
6.4
202
208
208
218
227
7
Our task is not to find the maximum amount of content in a work of art,
much less to squeeze more content out of the work than is already there.
Our task is to cut back content so that we can see the thing at all.
Susan Sontag
Danksagung
Ich danke meinem Mann, meiner Familie und guten Freunden, ohne deren Unterstützung diese Arbeit vielleicht nie entstanden wäre. Meinem Doktorvater,
Prof. Dr. Jochen Hörisch, danke ich für seine Geduld und die mir eingeräumte
Forschungsfreiheit.
Mein besonderer Dank gilt der Goethe-Gesellschaft in Weimar, die mit einem Forschungsstipendium zur Entstehung dieser Arbeit beitrug.
11
1. Einleitung
Much Madness is divinest Sense –
To a discerning Eye –
Much Sense – the starkest Madness –
’Tis the Majority
In this, as All, prevail –
Assent – and you are sane –
Demur – your’re straightway dangerous –
And handled with a Chain –
Emily Dickinson (1830–1886)1
Kaum ein anderes Phänomen hat die Menschheit so stark geprägt wie der Wahnsinn. Er ist seit dem Ursprung ihrer Geschichte ein fester Bestandteil der Kultur,
Literatur, Philosophie wie auch der Medizin. Es genügt schon, an Figuren wie
Achill, Hamlet oder Gretchen zu erinnern, um die Intensität, mit welcher sich die
schöne Literatur vom Wahnsinn hat inspireren lassen, zu erkennen. Trotz dieser
Allgegenwärtigkeit hat er nichts von seiner magischen Aura oder seinem rätselhaften Zauber verloren. Der Wahnsinn polarisiert. Er erschreckt und fasziniert,
teilt und verbindet zugleich. Ebenso oszillierte seine kulturgeschichtliche, sowohl
synchronische als auch diachronische Wahrnehmung zwischen zwei Extremen
bedingungsloser Glorifikation und grundsätzlicher Ablehnung. Eben zwischen
zwei solchen antagonistischen Positionen steht die gewählte Untersuchungsperiode. Denn während der Wahnsinn in der Epoche der Aufklärung als Gegenbegriff
der Vernunft negativ besetzt wurde, erreichte er Ende des 19. Jahrhunderts, mit
der Neurasthenie als Modekrankheit (vgl. Hörisch, 2006, S. 21), einen Kultstatus. Doch bevor der Wahnsinn im Expressionismus auf der Textoberfläche
offenkundig z. B. als »rauschhafte Glückserfahrung« (Anz, 2006b, S. 121) gepriesen werden konnte, musste er auf- und umgewertet werden. In Nietzsches Also
sprach Zarathustra (1883) wird der Wahnsinn sogar sakralisiert und tritt anstelle des Gottes als die Bedingung der Erhöhung zum Übermenschen: »Wo ist der
Wahnsinn, mit dem ihr geimpft werden müsstet? Seht, ich lehre euch den Übermenschen: der ist dieser Blitz, der ist dieser Wahnsinn!« (Nietzsche, 1968, S. 10).
Auch die Gegenwartsliteratur wird durch eine Faszination für den Wahnsinn dominiert, deren Ausdruck seine Wiederkehr bei vielen Protagonisten ist. Doch die
1
Dickinson, 1979, S. 337.
13
1. Einleitung
Transformation von einer Ablehnung bis zur die Gegenwart prägenden Begeisterung ist lang. Ein Übergang von einem System in ein anderes ist laut Victor
Turner (2005) durch drei Phasen bestimmt: die Trennungsphase, die Schwellenphase bzw. die sog. Liminalität und die Angliederungsphase. Nach der in der
Aufklärung erfolgten Trennungsphase wird das frühe 19. Jahrhundert von der
Liminalität bestimmt. Dagegen wird ein Wahnsinniger der Gegenwart zwar von
allen Regeln und Grenzen befreit, doch nicht mehr von jeder Verantwortung
entbunden, was von einer vollzogenen Angliederungsphase zeugt. Wann wurden
aber die Weichen für diese Begeisterung für den Wahnsinn gestellt und wie kam
es dazu, dass sich der moderne Diskurs um ihn an der Grenze zwischen Wahnsinn und Normalität bewegt? Wie sind die literarischen Wahnsinnigen vor dem
Hintergrund des oben zitierten Gedichts von Emily Dickinson, das die allgemeine Haltung des 19. Jahrhunderts gegenüber dem Wahnsinn zusammenfasst,
zu betrachten? Gelten sie nur als defekte Teile der im Roman dargestellten Gesellschaft? Oder haben sie eine besondere Funktion oder einen nicht gleich zu
erkennenden Auftrag, eben eine Transformation ins Positive zu befördern, zu erfüllen? Die wissenschaftliche Neugier nach der Antwort auf diese Fragen wurde
zum Auslöser der vorliegenden Studie.
Der Drang der Romantiker nach dem Dunklen, ihr Bedürfnis, bestehende
Grenzen und Systeme zu sprengen, sowie die Suche nach der völligen Subjektivität und Individualität des Menschen, deren stärkste Ausprägung der Wahnsinn
darstellt, erweisen sich als nur einige Gründe der steigenden Integration des
Wahnsinns in literarische Werke. Denn die Faszination für den Wahnsinn in der
Romantik hing mit der allgemeinen Abneigung gegen das Gewöhnliche zusammen (vgl. Pikulik, 1979, S. 29ff.), zu dem auch die herrschenden Konventionen
gehörten (vgl. ebd., S. 43). Zuletzt trägt zu der Aufwertung des Wahnsinns ein
triadisches Geschichtsmodell (auch »romantische Trias« genannt) bei, »das
die Entwicklung der Gattung Mensch nach dem Schema ›Ursprüngliche Einheit (wie im Paradies) – gegenwärtige Entzweiung (wie nach dem Sündenfall) –
Neu zu gewinnende Einheit auf höherem Niveau (im goldenen Zeitalter)‹« (Anz,
2006b, S. 114) betrachtet und die Krankheiten (auch des Geistes) »als krisenhafte Durchgangsstadien zu einer höherwertigen und differenzierten Form einer
Einheit« (ebd.) auffasst.2
2
14
Ein Beispiel hierfür liefert Franz Grillparzers Erzählung Der arme Spielmann (1848). Sein
disharmonisches und ekstatisches Geigenspiel zu Beginn des Textes sind zugleich eine
Bestätigung und Parodie des romantischen Künstlerkonzepts, welches aber im Verlauf der
Narration sich zu sozialer Verantwortung (Normalität) angesichts einer Flutkatastrophe
wandelt.
1. Einleitung
Doch vor allem im Expressionismus fungiert der Wahnsinnige als »Kontrasttyp zum verhassten Bürger und seiner Normalität« (Anz, 2006b, S. 121). Um
den Wahnsinn provokativ als Instrument der Kritik einzusetzen, so Anz, »mussten die jungen Künstler den Wahnsinn nur auf- bzw. umwerten« (ebd.). Diese
Aufwertung, die als ein Paradigmenwechsel zu betrachten ist, erfährt der Wahnsinn jedoch nicht im Expressionismus, wie der gegenwärtige Forschungsstand
besagt, sondern, so die These der vorliegenden Arbeit, bereits zu Beginn des
19. Jahrhunderts und im Anschluss an die Französische Revolution, indem der
Wahnsinn von einer negativen Anschauungsweise, nämlich einem Gegenbegriff
zur Vernunft3 in der Epoche der Aufklärung, in eine bis hin in die Gegenwart
anhaltende positive Perspektive übergeht, die sich zugleich auf mehreren Ebenen
der literarischen Werke äußert und zur langfristigen Rehabilitation des Wahnsinns beiträgt.
Eine weitere These der vorliegenden Arbeit, die als Konsequenz der positiv
besetzten Auffassung des Wahnsinns in der Literatur zu verstehen ist, thematisiert
seine Entwicklung vom Zustand des Andersseins zu einem Zustand der Normalität. Dies formuliert programmatisch der berühmte Satz von Oskar Panizza: »Der
Wahnsinn, wenn er epidemisch wird, heißt Vernunft« (1978, S. 216). Der Drang
des sich nach der Französischen Revolution neu positionierenden Subjekts, sich
von den gewohnten Regeln und Normen und somit von der Masse abzuheben,
wird des Öfteren mit Wahnsinn gleichgestellt. Da diese Tendenz des Anderswerden-Wollens eine steigende ist, führt sie im Laufe der Zeit dazu, dass der
Wahnsinn in der Gegenwartsliteratur sich an die Normalität annähert, wodurch
eine Figur (wie auch ein realer Mensch), die in der untersuchten Periode noch als
»wahnsinnig« gilt, nun weitgehend akzeptiert wird.
Der entscheidende Schritt zur neuen Auffassung des Wahnsinns im »langen«
19. Jahrhundert4 – im bürgerlichen Zeitalter – ist die französische Deklaration
3
4
Eine Unterscheidung zwischen Vernunft und Verstand ist für die deutsche Philosophie des
18. Jahrhunderts charakteristisch, die sich vordergründig aus der Umkehrung mittelalterlicher Übersetzungen entwickelte. Ihr Höhepunkt liegt in Deutschland in der klassischen
philosophischen Epoche zwischen Kant und Hegel (vgl. HWPh, 2001, Vernunft, Verstand,
Bd. 11, S. 748). Für Christian Wolff (1697–1754) bedeutet dieser Begriff: »Die Kunst zu
schliessen […], daß die Wahrheiten mit einander verknüpfet sind« (ebd., S. 817). Kant erkennt in der Vernunft neben ihrem realen Gebrauch, den Ursprung gewisser Begriffe zu
beinhalten, zugleich »einen bloß formalen, d. i. logischen Gebrauch, da die Vernunft von
allem Inhalte der Erkenntniß abstrahiert« (ebd., S. 821).
»Die Jahreszahl 1789 symbolisiert demnach […] den Beginn eines neuen Zeitalters, in dem
die Geburtsvorrechte aufgehoben waren und in dem prinzipiell jeder ›Bürger‹ aufgrund
seiner Arbeitsleistung seine Position in der Gesellschaft verändern konnte« (Schneider,
15
1. Einleitung
der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789: »Die neugewonnene
bürgerliche Freiheit bedeutete nicht nur Aufhebung des Zwangs, sondern auch
Umwandlung des willkürlichen in gesetzlichen Zwang, erforderte eine Neubestimmung der für die Sicherheit erforderlichen Grenzen der Freiheit« (Dörner,
1975, S. 144). Dies führte zu einer Überprüfung der Lage aller Insassen der Irrenhäuser und Gefängnisse, woraufhin einige der »Wahnsinnigen« freigelassen
wurden und den anderen medizinische Hilfe zu gewähren war. Einen weiteren
Meilenstein stellt eine Abhandlung von Philippe Pinel (1798)5 dar, die als Spiegel
der sich verändernden Epoche und zugleich als Befreiungsschrift aller Wahnsinnigen gilt, da Pinel ihnen (anders als die Aufklärung) Vernunft zubilligt:
»Die wahrhafte psychische Behandlung hält darum auch den Gesichtspunkt fest,
daß die Verrücktheit nicht abstracter Verlust der Vernunft weder nach der Seite
der Intelligenz noch des Willens und seiner Zurechnungsfähigkeit, sondern nur
Verrücktheit, nur Widerspruch in der noch vorhandenen Vernunft […] ist. Diese
menschliche, d. i. ebenso wohlwollende als vernünftige Behandlung […] setzt den
Kranken als Vernünftiges voraus und hat hieran den festen Halt« (HWPh, 2004,
Wahnsinn, Bd. 12, S. 38f.).
Die Freiheit der Irren erwies sich jedoch als ein soziales Problem und verlangte
nach weiteren Reformen, von denen die von Pinel durchgeführte Medizinreform6
nur den Anfang machte (vgl. Dörner, 1975, S. 145f.).
Ferner gilt um 1800 die Individualität als das zentrale Wesensmerkmal des
Menschen, dessen soziale und individuelle Bestimmung, Lebensziel und Verhaltensnormen »unter verschiedenen gesellschaftlichen Bedingungen anders
semantisiert und funktionalisiert« ( Jannidis, 1996, S. 44) werden. So suchen
auch die Wahnsinnigen in Zeiten der funktionalen Ausdifferenzierung7 des In-
5
6
7
16
2004, S. 164). Demzufolge wird im vorliegenden Band diese Jahreszahl als der Anfang des
»langen« 19. Jahrhunderts angenommen.
Philippe Pinel: Nosographie philosophique (1798). Deutsche Übersetzung: Philosopisch-medicinische Abhandlung über Geistesverirrungen oder Manie (1801).
Philippe Pinel arbeitete seit 1793 in demselben Krankenhaus/Gefängnis in Paris (Bicêtre),
in dem 1770 die Zwangsjacke erfunden wurde. Pinel gilt als derjenige, der die Kranken
dort wortwörtlich von den sie bezwingenden Ketten befreite. Zu den Veränderungen in
Deutschland in der Folge der Französischen Revolution und ihrem Einfluss auf die Romantik vgl. Pikulik, 1979, S. 122–129.
»Eine funktionale Differenzierung liegt vor, wenn die Untersysteme nicht als gleiche Einheiten nebeneinandergesetzt, sondern auf spezifische Funktionen bezogen und dann
miteinander verbunden werden« (Luhmann, 1997, S. 242). Die Ausdifferenzierung erfolgt,
1. Einleitung
dividuums8 ihren Platz in der neuen Gesellschaft, in der die Aufwertung jedes
einzelnen Subjekts (vgl. ebd., S. 47) eine entscheidende Rolle spielt: Vom Außenseiter entwickelt sich der Wahnsinnige allmählich zu einem nicht mehr
wegzudenkenden Mitspieler. Es wird versucht, ihn zu (re)integrieren, auch wenn
manche Beweggründe eine rein wirtschaftliche Natur vermuten lassen.9 Die
zu untersuchende Periode gilt somit als eine Umbruchszeit und als ein Ausnahmezustand, während dessen sich die Gesellschaft, das Bürgertum sowie die
Wahnsinnigen neu erfinden mussten. Jedes Individuum wird zum »Subjekt, das
damit fertig werden muss, dass es viele Rollen zu erfüllen hat« (Luhmann, 2005,
S. 237).
Seit der Romantik verändern sich gleichfalls die Assoziationen, die der implizite Leser dem Wahnsinn gegenüber entwickelt. Denn für die modernen Leser,
die mit der romantischen Textstruktur vertraut sind,
»sind ›Regel‹ und ›Wahnsinn‹ einander entgegengesetzte Pole, und der Übergang
in den Raum des Wahnsinns bedeutet automatisch den Bruch aller Regeln. Im mittelalterlichen Bewusstsein werden wir Zeugen einer völlig anderen Struktur: die
ideale, die höchste Stufe eines Wertes (der Heiligkeit, des Heldentums, des Verbrechens, der Liebe) wird erst im Zustand des Wahnsinns erreicht. Auf diese Weise
kann nur der Wahnsinnige die höchsten Regeln erfüllen. Die Regeln gelten nicht
für das Verhalten der Masse, sondern nur für einen einmaligen Helden in einer einmaligen Situation. Während also die Regeln im romantischen Bewusstsein banal
8
9
so Luhmann, durch zwei Zugriffe auf die Differenz: Einerseits funktioniert die Reproduktion
des Systems nur dank der erzeugten Differenz zur Umwelt, indem eine Grenze gezogen
wird, durch die sich das System neu definiert. Andererseits kann diese Differenz vom System beobachtet werden, indem es sich von seiner Umwelt unterscheidet und sich an den
festgelegten Unterschieden orientiert. Das Ergebnis dieses Prozesses wird als Autonomie
(Systemautonomie) bezeichnet (vgl. Luhmann, 2002, S. 112f.).
Während für Aristoteles die Gemeinschaft vor dem Individuum steht, führen Fichte und
Hegel eine neue Sicht auf die Individualität des Menschen ein, und zwar durch die Selbstvervollkommnung des Geistes. »Individualität im Sinne des einmaligen und einzigartigen
Individuums kann anschließen an die ästhetische Diskussion um das »Genie«, ein Wort,
das zum ersten Formulierungsmuster für Individualität wird« (Jannidis, 1996, S. 46).
Luhmann zufolge ist »im Bereich der funktionalen Differenzierung […] in allen Funktionssystemen die Inklusion aller Personen vorgesehen. Jeder soll sich nach Möglichkeit an
der Wirtschaft beteiligen« (Luhmann, 2005, S. 275). Die Inklusion, entsprechend auch die
Exklusion (»negative Inklusion«), erfolgt durch die Arbeitsfähigkeit und die Teilnahme an
der Geldwirtschaft (vgl. ebd., S. 277). Ähnliche Argumente gebraucht auch Foucault in
Wahnsinn und Gesellschaft, wenn er hervorhebt, dass zum Wahnsinnigen erklärt wird, wer
arbeitsunfähig sei (Foucault, 1969, S. 11).
17
1. Einleitung
und leicht erfüllbar sind, sind sie im mittelalterlichen Bewusstsein unerreichbares
Ziel einer einmaligen Persönlichkeit. […] Für das mittelalterliche Bewusstsein ist
die Norm […] lediglich ein idealer Punkt, auf den alles Streben gerichtet ist« (Lotman, 2010, S. 67f.).
Während der Wahnsinn im Mittelalter einen wichtigen Bestandteil auf dem Weg
zur angestrebten Vervollkommnung des Einzelnen darstellt, wird er seit der Aufklärung zunehmend als ein die Regeln infrage stellender Störfaktor und somit in
einem kritischen Kontext aufgefasst. An diesen Umbruch knüpft die vorliegende
Arbeit an, sofern sie auf verschiedenen Textebenen die Anfänge der erneuten Positivierung aufspürt und untersucht.
Die Analyse erstreckt sich auf folgende ausgewählte Werke, die im ersten
Drittel des langen 19. Jahrhunderts geschrieben wurden:
Wilhelm Meisters Lehrjahre (WML) von Johann Wolfgang von Goethe
(1795/96)
Ahnung und Gegenwart (AG) von Joseph von Eichendorff (1815)
Die Elixiere des Teufels (ET) von E. T. A. Hoffmann (1815/16)
Maler Nolten (MN) von Eduard Mörike (1832)
Gattungsgeschichtlich lassen sich diese Romane als Bildungs- oder Entwicklungsromane einordnen und sind als besonders einschlägig zu bezeichnen.10 Sie
überzeugen einerseits durch eine besondere Fülle an breit angelegten Figurationen des Wahnsinns sowie durch verschiedene Wahnsinnsdarstellungen und lassen
somit eine entsprechende Breitenwirkung der Ergebnisse erwarten. Andererseits
stellt in diesen Werken der Wahnsinn einen die Handlung dominierenden Faktor dar, auch wenn dies nicht immer offenkundig ist. Die besondere Eignung
dieser bereits kanonisierten Werke ergibt sich außerdem aus zwei weiteren Tatsachen: Erstens sind sie in der historischen Gegenwart des jeweiligen Autors
angesiedelt und wurden in regelmäßigen Abständen, zu Beginn (Wilhelm Meis10
18
Im Vergleich zu anderen literarischen Genres erweist sich die Gattung des Romans als das
geeignetste Medium zur Darstellung des Wahnsinns. Zwar kann die Lyrik die subjektiven
Eindrücke konzentriert und ästhetisch hochwertig auf den Punkt bringen, dennoch vermag sie meist nur einen Aspekt zu behandeln, wie dies an dem zu Anfang der Arbeit
zitierten Gedicht sichtbar wird. Ähnlich ermöglicht ein Drama selten eine deskriptiv differenzierte Darstellung. In der zu untersuchenden Zeit war der Wahnsinn ebenfalls ein
beliebtes Motiv vieler Erzählungen und Novellen (z. B. Der goldne Topf oder Der Sandmann
von E. T. A. Hoffmann und Lenz von Georg Büchner). Zwar verfügt eine Erzählung über gleiche Darstellungsmöglichkeiten wie ein Roman, dennoch ist sie durch die »kleine Form«
begrenzt.
1. Einleitung
ters Lehrjahre), in der Mitte (Ahnung und Gegenwart und Die Elixiere des Teufels)
und am Ende (Maler Nolten) der untersuchten Periode veröffentlicht. Zweitens
vertreten sie verschiedene Strömungen einer Kunstperiode: Deutsche Klassik
(WML)11, Romantik (AG und ET) und Biedermeier (MN)12, was die Wahl
repräsentativ für den untersuchten zeitlichen Rahmen macht und epochenübergreifende Erkenntnisse erwarten lässt. Der Wahnsinn hält sich darüber hinaus
in den zu besprechenden Werken als ein konstantes Motiv und stellt eine kardinale Ausdrucksform für dichterische Fantasie und literarische Produktivität dar.
Der Gegendiskurs-Charakter im Sinne Foucaults wird gerade bei diesen Texten
sehr deutlich. Ähnliches gilt für die Vielseitigkeit der literarischen und formalästhetischen Darstellung des Wahnsinns. Durch die Auswahl der vier sehr unterschiedlichen Texte ist ein Reichtum an ästhetischen und thematischen Varianten
garantiert. Zudem wird zu jener Zeit die Darstellung des Wahnsinns zum ersten
Mal mit individuellen, psychischen Problemen verbunden und von der fortschreitenden Ausdifferenzierung des Subjekts beeinflusst. Schließlich lässt sich an den
Werken, trotz des historisch gesehen kurzen Zeitraums von 40 Jahren, eine in den
Tiefenstrukturen der Texte angelegte Umwertung des Wahnsinns beobachten.
Zwar ist aufgrund der Unbestimmtheit der Schwellenphase weder eine allgemeine
Definition der wahnsinnigen Figur noch die genaue Bestimmung ihrer Grenzlinien möglich. Doch erst dies ist sowohl für ihre literarische Rehabilitation als
auch die Verschiebung der Grenze zwischen Wahnsinn und Normalität entscheidend, sodass der Wahnsinn in den Tiefenstrukturen der Texte als Werkzeug im
Dienste des emanzipierten Bürgertums auftritt.
Doch im Fokus der Arbeit stehen nicht der Wahnsinn selbst, seine Beschaffenheit oder Behandlungsmethoden, sondern die handlungsbezogenen Aufgaben
und intratextuelle Funktionen einer wahnsinnigen Figur und ihre Instrumentalisierung im Hinblick auf die außertextuelle Realität oder den Leser sowie ihre in
der Wahrnehmung des Lesers dadurch entstehende positive Konnotation (ihre
emotive Bedeutung). Zwar wurden solche Funktionszuschreibungen vereinzelt
unternommen (vgl. Kap. 1.3), dennoch liegt eine umfassendere Analyse mit
11
12
Wie Borchmeyer bemerkt ist die Einordnung von Goethe und Schiller in die Reihe der
Klassiker eine deutsche Angelegenheit, die sich außerhalb des deutschen Sprachraums
(Frankreich, angelsächsische Länder), wo sie zu den Romantikern gezählt werden, nicht
durchsetzen konnte (vgl. Borchmeyer, 1988, S. 15).
Rohmer und Hager (2004) bemerken hierzu, dass Mörike »einerseits den Zwängen und
Konventionen seiner Zeit ausgesetzt und für die kulturellen Anregungen offen war, sich andererseits aber keiner ästhetischen oder philosophischen Richtung zuordnen ließ« (S. 43),
was erschwert, Mörike eindeutig literaturhistorisch einzuordnen.
19
1. Einleitung
Unterteilung in intra- und außertextuelle Funktionen, wie sie in dieser Studie angestrebt wird, bisher nicht vor.
Zur objektiven Analyse der Darstellung des Wahnsinns in den ausgewählten
Werken ist eine Distanz des Interpreten notwendig, die hier durch die Untersuchung der literarischen Funktionen13 der wahnsinnigen Figuren innerhalb und
außerhalb des Werkes erreicht wird. Denn erst anhand dieser Funktionsanalyse wird ersichtlich, wie sich die Darstellung der Figuren verändert, z. B. indem
sie allmählich aus dem Schatten einer Nebenfigur in die Rolle des Protagonisten übergehen, oder positiv besetzte Aufgaben in der Handlung übernehmen:
Sie stellen ein verbindendes Element dar, verfügen über ein Mehrwissen und tragen aktiv zur Rettung anderer Figuren bei oder verhelfen ihnen zur Reflexion
über das eigene Selbst. Mit diesen Aufgaben übernehmen die wahnsinnigen Figuren zunehmend eine Schlüsselfunktion, die ein reibungsloses Funktionieren
der literarischen Gesellschaft ermöglicht. Darüber hinaus können die Bilder des
Wahnsinns auf der außertextuellen Ebene eines literarischen Werkes als eine praktische Anleitung zum Selbstschutz des sich konstituierenden Subjekts aufgefasst
sowie als ein Instrument zur Ausübung von Kritik eingesetzt werden. Daraus ergibt sich die Forschungsfrage: Wie tragen die von den wahnsinnigen Figuren
oder vom Wahnsinn als Phänomen14 in den ausgewählten literarischen Werken
13
14
20
Sollten dem Leser Zweifel bezüglich der Zweckmäßigkeit solcher Funktionsanalyse aufkommen, kann mit Wolfgang Iser folgendermaßen argumentiert werden: »In contradistinction to aesthetics, the various modern theories allow us to perceive that art cannot
be explained ontologically, but only in terms of how it functions. Even statements about
form and structure are a means of grasping function […]. Hence the emphasis on function not only marks a break away from classical aesthetics, but also alerts us to important
twentieth-century trends that are brought into focus by the theories concerned« (Iser,
2006, S. 163). Die von Iser als das wichtigste Element einer wissenschaftlichen Untersuchung präsentierte Funktion ist umso gewichtiger, da, wie Talcott Parsons in seinem Buch
The Social System (später auch Niklas Luhmann) behauptet, ein Individuum der modernen
Gesellschaft des 20. Jahrhunderts nicht mehr nach seiner Angehörigkeit zu den gesellschaftlichen Schichten zu beurteilen, sondern nach seiner Funktion in der Gesellschaft
einzuordnen sei. Diese Transformation beginnt bereits im späten 18. Jahrhundert, mit der
industriellen und politischen Revolution, und dauert bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts
an (vgl. Parsons, 1972, S. 96). Zudem ist sie nicht nur in der Struktur der Gesellschaft zu
beobachten, sondern überträgt sich unverkennbar auf ihre Kunst und Literatur. Außerdem
darf nicht vergessen werden, dass es nicht die Literatur ist, die dem Werk eine bestimmte
zu erfüllende Funktion zuschreibt, sondern die Macht der Gesellschaft (vgl. Bredella, 1996,
S. 101).
Die wahnsinnigen Figuren werden in der vorliegenden Arbeit zum Teil mit dem Phänomen des Wahnsinns gleichgestellt. Hierfür kann auf Paul de Man hingewiesen werden,
der in seinem Werk Allegorien des Lesens (1979/dt. 1988) eine Lösung für ein solches Pro-
1. Einleitung
zu erfüllenden Funktionen und Rollen zur positiven Darstellung des Wahnsinns
zu Beginn des 19. Jahrhunderts bei?
Die aktuelle Beschäftigung einiger Wissenschaftler (vgl. Porter, 2007; Gruen,
[1989] 2009) mit dem »Wahnsinn« konzentriert sich auf das Zusammenspiel
zwischen Wahnsinn und Normalität und stellt die Existenz der Letzteren in Frage. Diese Verschiebung im Diskurs ist mit dem bereits erwähnten Begriff der
»Liminalität« zu erläutern:
»In der ersten Phase (der Trennung) verweist symbolisches Verhalten auf die Loslösung eines Einzelnen oder einer Gruppe von einem früheren fixierten Punkt
der Sozialstruktur, von einer Reihe kultureller Bedingungen (einem ›Zustand‹)
oder von beidem gleichzeitig. In der mittleren ›Schwellenphase‹ ist das rituelle
Subjekt (der ›Passierende‹) von Ambiguität gekennzeichnet; es durchschreitet einen kulturellen Bereich, der wenig oder keine Merkmale des vergangenen oder
künftigen Zustands aufweist. In der dritten Phase (der Angliederung oder Wiedereingliederung) ist der Übergang vollzogen. Das rituelle Subjekt – ob Individuum
oder Kollektiv – befindet sich wieder in einem relativ stabilen Zustand und hat
demzufolge anderen gegenüber klar definierte, sozialstrukturbedingte Rechte und
Pflichten. Man erwartet von ihm, daß es sein Verhalten an traditionellen Normen
und ethischen Maßstäben ausrichtet, die alle Inhaber sozialer Positionen in ein System solcher Positionen einbindet« (Turner, 2005, S. 94f.).
So werden die »Wahnsinnigen« des 21. Jahrhunderts immer seltener von ihren sozialen Pflichten befreit, was von der Vorherrschaft der Angliederungsphase
zeugt. (Ihr Befreiungsgrad hängt selbstverständlich von ihrem Wert auf der GAFSkala [GAF = Global Assessment of Functioning] ab.) Dagegen ist auf das frühe
19. Jahrhundert der Begriff der Liminalität anzuwenden. Dies ist daraus zu folgern, dass »der Untergebene […] in der Schwellenphase die Oberhand« (ebd.,
S. 101) gewinnt. Eine ähnliche Entwicklung ist sowohl in Bezug auf die »Wahnsinnigen« als auch auf das Bürgertum der untersuchten Periode zu beobachten.
blem in der Sichtweise des Betrachtenden lokalisiert: Wird diese Frage im buchstäblichen
Sinne und nach den grammatikalischen Regeln gelesen, handelt es sich um eine Frage
nach der Unterscheidung von zwei verschiedenen Objekten: einem Wahnsinnigen und
dem Wahnsinn als Phänomen. Als rhetorische Frage gelesen, stellen der Wahnsinn und
der Wahnsinnige eine Einheit dar, die nicht geteilt werden kann (vgl. De Man, 1988, S. 42).
Demzufolge lässt sich sagen, dass sich der Wahnsinnige wie der Wahnsinn figürlich gleich
betrachten lassen. Im weiteren Verlauf der Arbeit wird demgemäß zwischen dem Wahnsinnigen als Figur und dem Wahnsinn als Phänomen nicht ausdrücklich unterschieden.
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1. Einleitung
Die vorliegende Arbeit soll somit einen Beitrag zum Diskurs um die Grenze zwischen Wahnsinn und Normalität (Liminalität) leisten, indem sie durch
die Analyse der Funktionszuschreibungen der wahnsinnigen Figuren auf eine
Diskrepanz zwischen den Forderungen der philosophischen und naturwissenschaftlichen Diskurse und der Darstellung des Wahnsinns in den ausgewählten
literarischen Werken des frühen 19. Jahrhunderts hinweist. Denn entgegen den
Praktiken dieser Zeit, die darauf zielen, den Wahnsinn zu isolieren, lässt sich in
der untersuchten Literatur ein Versuch erkennen, ihn mit positiven Inhalten zu
besetzen. Dabei ist die Literatur des frühen 19. Jahrhunderts als das Substrat
der modernen Darstellung des Wahnsinns anzusehen. Sie instrumentalisiert die
diskursiv-normative Ächtung des Wahnsinns, um ihre eigene Poetik15 in ihrer
ganzen subversiven Potenzialität zu veranschaulichen.
Was unter »Wahnsinn«, »Verrücktheit« oder »Narrheit« verstanden wird,
variiert zu Beginn des 19. Jahrhunderts in hohem Maße. Die Bezeichnungen (hier
ist hauptsächlich auf den Unterschied zwischen einem Wahnsinnigen und einem
Narren hinzuweisen) stehen teils konkurrierend nebeneinander, teils überschneiden sie sich in ihrer Bedeutung und werden synonymisch verwendet. Daraus
ergibt sich eine entscheidende Konsequenz für die vorliegende Arbeit, nämlich
dass unter der Bezeichnung »die wahnsinnige Figur« stellenweise ebenfalls Narren agieren, worauf exemplarisch im zweiten Kapitel (2.5) eingegangen wird.
Dabei werden ausschließlich diejenigen Figuren untersucht, die im Rahmen des
Werkes als wahnsinnig oder närrisch gekennzeichnet sind oder eindeutige Symptome einer ähnlichen Störung aufweisen, ohne dass dabei nachgewiesen wird,
ob ihre Charakterisierung seitens der Psychologie/Psychiatrie berechtigt ist.
Die durchgeführte Funktionsanalyse basiert auf einer induktiven Methode, die sich darauf richtet, möglichst viele der von den wahnsinnigen Figuren
zu erfüllenden Funktionen (sensu Wittgenstein als die durch die Aufgabe des
Wahnsinnigen im Werk entstehenden Bedeutungen) zu ermitteln, mittels derer sich die Figuren sowohl auf das Werk (Handlung, andere Figuren) als auch
auf den außertextuellen Kontext auswirken. Im zweiten Schritt werden die
eruierten Funktionen gruppiert und mithilfe unterschiedlicher Theorieansätze (Theorie des Dritten, Psychoanalyse, Wirkungsästhetik) phänomenologisch
näher betrachtet. Das Heranziehen aktueller Ansätze ist in deren komplexem
15
22
»Denn auf produktionsästhetischer Ebene […] ist der Wahnsinn kein Schicksal oder ein
Verhängnis, sondern Effekt eines Kalkuls, der freiwillige Verzicht eines Intellektbesitzers auf
seinen Besitz: ›Intellektualabwesenheit‹ als Ziel – Wahnsinn als Methode« (Lange, 1992,
S. 17), wodurch der literarische Wahnsinn zu einem »kalkulierten« Wahnsinn wird.
1. Einleitung
Wissensstand, der jenen des untersuchten Zeitraums übertrifft, begründet. Der
interpretatorische Einsatz der zeitgenössischen Theorieansätze und Konzepte
(z. B. des Subjekts) würde einen qualitativen Rückschritt bedeuten, insbesondere
weil die zu untersuchenden wahnsinnigen Figuren oft ihrer Zeit voraus sind (vgl.
die Identitätstheorie am Beispiel von Medardus aus Die Elixiere des Teufels, insb.
Kap. 4.3). Der Ansatz dieser Untersuchung ist in methodologischer Hinsicht
pluralistisch, da er auf mehreren wissenschaftlich legitimen Verfahren der Interpretation beruht. Diese Vorgehensweise wurde bewusst gewählt, denn nur eine
Methodenpluralität kann den Wahnsinn in seinen vielen Facetten annähernd
fassen. Zudem muss darauf hingewiesen werden, dass in dem Analyseteil der
vorliegenden Studie die Übergänge zwischen der abstrakten, theoretischen Ebene und der textnahen, praktischen Ebene stets fließend sind, was die Rezeption
erschweren kann. Die für die Untersuchung des Wahnsinns benötigte Vorgehensweise hat Simonetta Sanna (2000) in ihrer Studie zu Alfred Döblins Romanen
sehr prägnant zusammengefasst: »Es muß Wahnsinn in der Methode sein, wenn
die Methode den Wahnsinn erfassen will« (S. 19). Dieses gilt ebenfalls für die
vorliegende Studie.
Die Studie eröffnet (nach einer kurzen theoretischen Einleitung) eine Einführung in die Aspekte des Wahnsinns (Kap. 2). Hier wird eine chronologisch
und interdisziplinär angelegte Auseinandersetzung mit dem Wahnsinn in den Bereichen der Philosophie, Medizin, Literatur und Wissensgeschichte vorgeführt.
Dabei stehen zwei Aspekte im Vordergrund: zum einen die Veränderung von einer
positiven Auffassung des Wahnsinns in der Antike zu seiner negativen Darstellung in der Aufklärung, zum anderen sollen verschiedene Verbindungen zwischen
dem Wahnsinn und den ihn begleitenden Diskursen sichtbar werden. Dieser Teil
dient als die theoretische und konzeptionelle Grundlage für die im Hauptteil
der Arbeit durchgeführten Einzelanalysen. Dem folgt eine Zusammenstellung
der im Anschluss besprochenen wahnsinnigen Figuren (Kap. 3). Die danach
folgenden Kapitel stellen den analytischen Teil dieser Studie dar. Die Funktionen der wahnsinnigen Figuren werden dabei auf zwei Ebenen systematisiert:
Die textimmanente bzw. intratextuelle Funktionsgruppe untersucht die handlungsorientierten Aufgaben der wahnsinnigen Figuren und bezieht sich auf die
Textinhalte. Die textexterne Gruppe transponiert mithilfe des Wahnsinns einerseits Normen und Regeln, die das Alltagshandeln der Leserschaft anleiten sollen,
und reflektiert andererseits eben dieses Verhalten. Trotz einer enormen Zahl an
gleichermaßen interessanten Aspekten und Fragestellungen, die der Wahnsinn
bietet, erweist sich bei einer solchen Vorgehensweise eine Einseitigkeit der Darstellung als unabwendbar. Darüber hinaus stellen die jeweiligen Funktionen der
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