Stationen der Meisterschaft Mozart schrieb seine Sinfonien nicht in kontinuierlicher Folge, sondern in unregelmäßigen Schüben – teils Werk auf Werk hintereinander, teils mit langen schöpferischen Intervallen: Rund zwölf entstanden seit 1764 zunächst in London und Den Haag sowie auf der Wiener Reise 1767/68. Darauf folgte bis 1771 ein weiteres Dutzend in Italien bzw. in Salzburg für italienische Auftraggeber. Somit hatte der 16-jährige, zahlenmäßig betrachtet, bereits die Hälfte seiner Sinfonien geschrieben. Da schon die Leistungen des Knaben, gemessen am Zeitstil, makellos sind, lässt sich dies Schaffen nicht immer klar im Sinne von Lehrlings-, Gesellenund Meisterjahren unterscheiden. Dennoch sind Stationen der Entwicklung erkennbar. Besondere Spuren hat der Besuch in Bologna 1770 hinterlassen. Dort hatte Mozart durch den legendären Padre Martini Unterweisungen im strengen Kontrapunkt erhalten, die weit über das hinausgingen, was Vater Leopold ihm von klein auf vermittelt hatte. Diese Anregungen haben seinen Stil vertieft und um eine Dimension bereichert, die für seine gesamte Entwicklung wesentlich wurde. Das zeigt sich beispielhaft in der G-Dur-Sinfonie KV 110 – schon im ersten Satz, der formal genau dem entspricht, was später zur „Sonatenhauptsatzform“ erklärt wurde. Mehr noch darin, was in dieser Form enthalten ist – „Inhalt“ freilich nicht in programmatischem Sinn verstanden, sondern „Gehalt“ als musikalische Substanz und kompositorischer Anspruch. Auch im Andante fallen neben aller Sanglichkeit kanonische Stimmführungen auf; noch mehr dann in Menuett und Trio. Sie wirken geradezu wie der Versuch, die gelernten Kontrapunkttechniken unmerklich im tänzerischen Genre anzuwenden: Der kanonische Beginn und die streng kontrapunktische Anlage sind gleichsam mit Händen zu greifen. Selbst das Finale mit seinem imitatorisch angelegten Thema lässt noch einen Nachklang der strengen Studien bei Padre Martini spüren. Formal handelt es sich um ein Rondo, in dem Mozart die Wiederholungen des Refrains nicht ausgeschrieben, sondern nur durch den Hinweis Da capo bezeichnet hat, so dass den Ausführenden freigestellt bleibt, ob sie nach den einzelnen Couplets das Rondothema mit der eigentlich geforderten Wiederholung oder nur einmal spielen wollen. Die Salzburger Sinfonien der Jahre 1773/74 bilden zwei Gruppen, in denen sich die beiden Spielarten der damaligen Praxis widerspiegeln: Neben kurzen Werken mit drei (zuweilen ineinander übergehenden) Sätzen, also typisch italienischen „Opernsinfonien“, stehen andere, die der Wiener Lokaltradition entsprechen: viersätzige „Konzertsinfonien“ mit dem Menuett an dritter Stelle. Zu ihnen gehört die A-Dur-Sinfonie KV 201 (datiert 6. April 1774). Mozart selbst schätzte sie und führte sie auch in späteren Jahren auf. Gemeinsam mit der g-Moll-Sinfonie KV 183 fand sie früh Einlass ins Konzertrepertoire; beide gelten bis heute als erste „Meistersinfonien“. Zugleich erfüllen sie den Anspruch des Publikums nach angenehmer und abwechslungsreicher Unterhaltung. Man beachte nur die überreiche, auf starke Gegensätze zielende melodische Erfindung, die „galanten“ Figurationen, die klanglichen Nuancen (con sordino der Geigen im Andante) und dynamischen Staffelungen (z. B. im Menuett, wo Bläser und Streicher dialogisch geführt sind und der Satz mit einem Signalruf auf einem Ton endet) oder die im Finale plötzlich emporschnellenden „Raketen“. Formal haben sie eine gliedernde Funktion; emotional bedeuten sie für jeden empfindsamen Hörer einen brillanten, unvergesslichen Überraschungseffekt. Andererseits aber beschränkt Mozart sich nicht auf äußerlich belebende Momente, sondern verinnerlicht die musikalische Sprache, indem er bei sparsamster Orchesterbesetzung (Oboen, Hörner, Streicher) eine Dichte des Satzes erreicht, wie sie in der Sinfonik bis dahin unüblich war. Seit Generationen gilt Mozarts drei letzten Sinfonien (Es-Dur KV 543, g-Moll KV 550 und „Jupiter- Sinfonie“ C-Dur KV 551) nicht nur die Liebe und Bewunderung des großen Publikums, sondern auch ein besonderes Interesse der Fachwelt. Immer wieder wurden sie wegen ihrer kompositorischen Meisterschaft gerühmt und als Musterbeispiele des klassischen Stils beschrieben. Die Es-Dur-Sinfonie ist als Erste dieser Reihe entstanden (datiert 26. Juni 1788), erhielt aber im frühen 19. Jahrhundert den Beinamen „Schwanengesang“ – wohl weil sie in mehreren zeitgenössischen Ausgaben an letzter Stelle gedruckt war und daher mit der alten mythologischen Vorstellung vom „Schwanengesang“ als letzter Äußerung eines Künstlers verbunden wurde. Wir betreten den sinfonischen Bau gleichsam durch ein Portal – eine langsame Einleitung, deren punktierte Rhythmen an den barocken Ouvertürentypus erinnern. Im Wechsel von forte und piano, von Spannung und Lösung, markanten Schwerpunkten, schwebenden Skalenfigurationen und ausgesungener melodischer Linie wird der Hörer in eine eigene Welt gezogen. Will man diese „Welt“ beschreiben, so böte sich die Analogie der Bühne: eine Fülle von Gesten und Gestalten, von musikalischen Aktionen und Reaktionen auf engstem Raum. Ernst, verhalten beginnend, bringt Mozart immer neue motivische Erfindungen ins Spiel, behandelt sie einerseits frei, andererseits nach den Regeln strenger Satztechnik (etwa die motivisch-thematische Arbeit in der Durchführung). Im Andante con moto steht dem zierlich höfischen Ton des Anfangs ein emphatisch bewegter Gestus gegenüber, und beide Elemente ergänzen und steigern sich, indem sie polyphon verarbeitet werden. Man beachte, wie der Tuttiklang immer wieder von kammermusikalischen Passagen unterbrochen wird, in denen sich die einzelnen Gruppen des Orchesters dialogartig unterhalten – teils in längeren, teils in ganz kurz eingeworfenen musikalischen Argumenten. Das Menuett ist wiederum auf kontrastierende Wirkungen angelegt: Es nimmt zunächst die etwas steife Feierlichkeit des traditionellen höfischen Tanzes auf, um im Trio Züge eines Ländlers dagegenzustellen. Im Finale setzt der Wirbel des Hauptmotivs eine Bewegung in Gang, die wie in einem Perpetuum mobile bis zum Schluss abläuft und eine Fülle raffinierter kontrapunktischer Kunststücke einbezieht. Betrachten wir die analytische Seite der Mozartschen Musik insgesamt, so fällt vor allem die Verbindung verschiedenster Charaktere und Stile auf: „gelehrt“ und „galant“, satztechnisch strenge Arbeit und spielerische Grazie – beides steht nebeneinander, ist ineinander verwoben. Dann die Mischung spezifischer Gattungseigenschaften: szenischer Gestus und Kantabilität aus der Oper, polyphone Haltung aus der Kirchenund Kammermusik, dazu eine Orchesterpalette mit den reizvollsten Klangkombinationen vom zarten Solospiel bis zum vollen Tutti. Aber, und das ist entscheidend, keines dieser Elemente wird forciert, alles fügt sich ohne Zwang, ohne dass man es überhaupt bemerken muss (und letztlich erklären kann) zu einem Bau, in dem Struktur und Ornament identisch scheinen. Volker Scherliess
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