Es grenzt an ein Wunder

Nr. 4 / November 2015
Zeitung für die Spenderinnen und Spender von Pro Infirmis
Es grenzt an ein Wunder
SH Schaffhausen
Rheinfelden
Basel
Frauenfeld
Pratteln
8 Fragen an...
Delémont
News aus
den Kantonen
Olten
SO
JU
Langenthal
Solothurn
LU
Biel/Bienne
La Chaux-de-Fonds
Neuchâtel
NE
VD
Prilly
Burgdorf
Fribourg
BE
Thun
FR
Lausanne
Luzern
Sarnen
OW
Zihlschlacht
St. Gallen
AR
Wattwil
AI
Appenzell
Pfäffikon SG
Zug
ZG
NW
TG
Winterthur
Herisau
Stans
Bern
Yverdon-les-Bains
ZH
Aarau Zürich
AG
Amriswil
Unterwegs in
Vietnam mit
Andreas Pröve
Baden
SZ
Glarus
Brunnen
Sargans
GL
Chur
Altdorf
UR
Ilanz
GR
Samedan
2
Editorial
Liebe Spenderin
Lieber Spender
Ein unsichtbares Band scheint zwischen Stephens Mutter und ihrem
aufgeweckten, kleinen Jungen zu
bestehen. Und dies seit Anbeginn
der Schwangerschaft. Obwohl die
Mutter diese zuerst nicht bemerkte.
Zu hektisch war ihr Alltag, mit
Arbeiten, starken körperlichen
Beschwerden (Nierenprobleme und
Bluthochdruck) und dem möglichen
Anfang einer frühen Menopause.
Mit all diesen Problemen, blieb die
Schwanger­schaft für einige Monate
unentdeckt.
Unerwartete Schwangerschaft, die Mutter
mit Nierenleiden. Viele Tests wurden gemacht, es stand im Raum, das Kind abtreiben zu müssen, da es nicht genug Nahrungszufuhr über die Plazenta bekam. Fragen, die
nach einer schnellen Antwort verlangten.
Die Mutter war verzweifelt, wusste nicht
wohin mit ihren Fragen, Ängsten und Sorgen. Halt fand sie und findet sie noch heute
im stillen Gebet in der Kirche. Wird das
Kind behindert sein? Wie schaffe ich das,
als alleinerziehende Mutter, die immer
gearbeitet hat, mein Kind und mich durchzubringen?
Umso grösser war dann der Schock,
als klar wurde, dass sie schwanger
war. Sie machte sich Sorgen, weil
sie doch wegen ihres Nierenleidens
und gegen den Bluthochdruck starke Medikamente nehmen musste.
War das Ungeborene gesund? Es
war eine belastende Zeit und eine
Achterbahn der Gefühle, durch die
die damals 47-Jährige ging.
Wie schwierig diese Zeit war, lässt
sich nur aus der bildreichen Er­zäh­
lung der Mutter erahnen. Denn
wenn Stephen mit einem strahlenden Lächeln und glucksenden Lauten
angekrochen kommt, merkt man
zwar, dass er für einen Eineinhalb­
jährigen in seiner Entwicklung zurückgeblieben ist, doch Mutter und
Sohn strahlen soviel Wärme und
Herzlichkeit aus, dass leicht vergessen werden könnte, welch Wunder
es überhaupt ist, dass der Kleine
lebt.
Jacqueline Brunner
Redaktion aktuell
Jeder noch so kleine Schritt ist ein Zeichen fürs Stephens unbändigen Überlebenswillen
3
Wird Stephen überleben?
«Es war ein Schock, als klar wurde, dass ich schwanger bin.
Wird mein Kind behindert sein? Doch das Schlimmste kam
noch. Denn ich musste mich für oder gegen mein Kind entscheiden.» Es ist der Mutter noch heute anzumerken, wie
schwierig und aufwühlend diese Zeit war. Die Ärzte drängten zu einer Antwort. Es war ein Hin und Her, einmal für,
dann wieder gegen das Kind. Aber immer war da diese tiefe,
innere Verbundenheit zu ihrem Ungeborenen, mit dem sie
ununterbrochen sprach. Dann die ärztliche Empfehlung:
Wir lassen das Kind entscheiden, ob es überlebt. Die Mutter
stimmte zu, doch dann stieg wieder die Angst in ihr auf:
Was passiert, wenn das Kind in meinem Bauch stirbt. So entschieden die Ärzte und die Mutter nach einem schwierigen
Wochenende, das Kind mit Kaiserschnitt zu holen. All dies
geschah innerhalb eines Monats. Im März letzten Jahres
kam der Kleine in der 26. Woche auf die Welt – 410 Gramm
Unter fachkundiger Aufsicht wird die Magensonde versorgt
leicht und 27 cm klein. Es grenzte an ein Wunder, dass Stephen überhaupt lebte. «Sein Schreien hörte sich an, als würde ein Mäuschen piepsen, so winzig und zerbrechlich war
er. Ich hatte Angst, wenn ich ihn halte und einschlafe, dass
ich ihn zerdrücken würde.» Die Mutter staunt noch heute,
wenn sie von dieser Anfangszeit erzählt. Doch Stephen wollte leben. Insgesamt 6 Monate verbrachte der Kleine im Spital.
Die Mutter war jeden Tag dort, stundenlang trug sie ihn an
ihrer Brust herum. Auch während einer Infektion, als das
Leben von Stephen an einem seidenen Faden hing und die
Ärzte ihm kaum noch Überlebenschancen gaben, redete sie
unentwegt mit ihrem Baby: «Schätzeli, du schaffst das
schon, du kannst das. Wir schaffen das zusammen.» Der
Kleine hatte zu viel CO2 im Blut und er musste, sobald er
wach wurde, ein Medikament nehmen und dann wieder sediert werden. So ging es über eine Woche, bis Stephen über
dem Berg war. Die Mutter wich nicht von seiner Seite. Der
kleine Kämpfer hatte überlebt. Wieder einmal! Die Mutter ist
glücklich und strahlt übers ganze Gesicht, wenn sie heute
ihren tapferen Jungen ansieht.
Magensonde bringt Linderung
Als sie nach einem halben Jahr mit Stephen nach Hause gehen konnte, ahnte sie noch nicht, dass es noch schwieriger
werden sollte. Am Anfang ass er noch ein bisschen, doch
dann nichts mehr. Durch das Trauma seiner Geburt (er wurde intubiert) reagierte er überempfindlich auf jede Berührung im Gesicht und am Mund. Er nahm kein Essen und
Trinken mehr zu sich, jeder Tag war ein Kampf. Auch mit
der Nasensonde, die er seit Geburt hatte, wurde es immer
schwieriger. «Die Sonde ist wie ein Fremdkörper im Hals
und stört zusätzlich. So entschied man sich, eine Magenson-
Wo Pro Infirmis hilft
Dank Spenden erhalten Stephen
und seine Mutter wertvolle Hilfe:
•B
eratung und Finanzierung
der Entlastung in Form von
Betreuung von Stephen
• Case Management für die
Koordination und Vernetzung
des medizinisch-therapeutischen Netzwerkes
• Persönliche Unterstützung
und Begleitung bei der
Wiedereingliederung an den
Arbeitsplatz
• Sozialversicherungsrechtliche
Ansprüche abklären
Was Mutterliebe alles bewirken kann, ist an Stephens Entwicklung zu sehen.
4
In Kürze
Als Intubation wird das Einführen eines Tubus (einer
Hohlsonde) in eine natürliche Körperhöhle oder ein
Hohlorgan bezeichnet. Meist wird der Begriff im Sinne des Einführens eines Tubus über Mund oder Nase
zur Beatmung genutzt.
Cerebralparese oder Cerebrale Lähmungen
Cerebralparese heisst eigentlich unvollständige Gehirnlähmung (cerebral = im Gehirn; Parese = unvollständige Lähmung). Natürlich ist nicht das Gehirn
gelähmt, sondern es liegt eine bleibende Fehlfunktion einiger Gehirnzellen vor. Das kindliche Gehirn
wurde in den frühen Entwicklungsphasen geschädigt. Bei dieser Erkrankung sind die haltungs- und
bewegungssteuernden Zentren des Gehirns betroffen. Daher kommt es zu mannigfaltigen Störungen
der normalen motorischen Entwicklung. Die Betroffenen sind nicht in der Lage, ihre Muskeln kontrolliert zu bewegen (Tonusstörungen der Muskulatur,
Haltungsanomalien, Koordinationsstörungen und
unkontrollierte Bewegungsabläufe). Der Ausprägungsgrad und das Auftreten weiterer Begleiterkrankungen sind vom Ausmass und Ort der Gehirnschädigung abhängig.
Dass Stephen aufrecht sitzen kann, hätte vor ein paar Monaten
noch niemand zu hoffen gewagt.
de einzusetzen.» Die Mutter erzählt ruhig von dieser nicht
einfachen Zeit. «Jeden Tag muss man die Magensonde pflegen und damit Nahrung geben. Mit Stephens angeborener
Missbildung des Kehlkopfes und der Luftröhre gab es immer wieder Momente, die schwierig waren. Aber ich möchte
nicht klagen, denn es gab so viele hilfsbereite Menschen, die
da waren.»
Finanzielle Hilfe
«Die Mütterberaterin machte mich auf Pro Infirmis aufmerksam, als mir alles über den Kopf zu wachsen drohte und ich
merkte, ich kann dies nicht mehr alleine meistern. Mit all
den Papieren - ich wusste nicht mehr weiter.» Die Sozialarbeiterin von Pro Infirmis stellte dann fest, dass noch genau
drei Tage Zeit blieben, um den IV-Antrag zu stellen, da sonst
die Frist abgelaufen und die Rechnungen nicht bezahlt worden wären. Das wäre verheerend gewesen, denn auch wenn
die Mutter fast 100 Prozent arbeitet, ist das Gehalt nicht
hoch und die Kosten für die Ernährung und alle anderen
Massnahmen sind teuer.
«Ich weiss nicht, was ohne Pro Infirmis mit uns passiert
wäre. Ich war so verzweifelt. Und meine Sozialarbeiterin hat
mein Leben wieder geregelt. Wir haben finanzielle Unter-
stützung bekommen und sie half mir mit den Papieren,
denn alles war so kompliziert.» Die Dankbarkeit und Freude
über die neue Grundlage ist spürbar, wenn die Mutter davon
erzählt. Auch wie erleichtert sie war, dass Pro Infirmis sie
bei den Gesprächen mit ihrer Arbeitgeberin unterstützte.
«Seit bald 20 Jahren arbeite ich in einem Altersheim und wir
mussten herausfinden, wie es mit meinem Pensum weiter
geht. Frau S., meine Sozialarbeiterin, begleitete mich bei den
Gesprächen und half mir zu verstehen. Vielleicht kann ich
etwas weniger arbeiten und mit der Unterstützung von Pro
Infirmis sollte es gehen.»
Die Zeit zuhause wäre wichtig, denn Stephen hat eine leichte
cerebrale Bewegungsstörung, die zusammen mit seinen anderen Behinderungen nötig machen, dass er regelmässig in
Therapien geht. Die Logopädin kommt wöchentlich zu Besuch, auch die Kinderspitex hilft. Ein gutes Netz von Betreuungspersonen und die Unterstützung ihres 22-jährigen Neffen, der mit grossem Verantwortungsgefühl nach seinem
Cousin schaut, helfen, den Alltag zu meistern. Dies alles ermöglicht dem kleinen Kämpfer Stephen ein Aufwachsen unter den bestmöglichen Bedingungen. Und das starke Band
zwischen Mutter und Sohn hat bis jetzt jedem Sturm standgehalten und wird es auch weiterhin.
5
8 Fragen an...
Rita Roos-Niedermann
wohnt in Lichtensteig, Toggenburg
Direktorin von Pro Infirmis seit 10 Jahren
verheiratet
Roos
a
t
i
R
Warum arbeiten Sie bei Pro Infirmis und seit wann?
Als Rechtsanwältin war ich oft mit Fragen von Menschen
mit einer Behinderung konfrontiert und als Kantonsrätin
engagierte ich mich u.a. bei der Revision des Baugesetzes
für mehr Zugänglichkeit. In einer Weiterbildungszeit in den
USA erlebte ich bei der Benutzung von Bus und Bahn, was
es bedeutet, wenn Gleichstellung umgesetzt ist. So warten
dort die Fahrgäste eines vollbesetzten Busses geduldig und
ohne Murren, bis ein Kriegsveteran mit seinem Elektrorollstuhl seinen Platz eingenommen hat. Seit 38 Jahren erlebe
ich mit meiner querschnittgelähmten Schwester
im Alltag, wie beschwerlich ein autonomes Leben in der
Schweiz immer noch ist.
Durch meine Arbeit bei Pro Infirmis kann ich, wenn auch
indirekt, wesentlich dazu beitragen, dass Menschen mit einer Behinderung kompetente Unterstützung darin erhalten,
ihr Leben selbständig und nach ihrer Wahl zu gestalten.
­ llen Gästen ein «Happy Birthday» an. Lea war ganz glücka
lich und strahlte. Das war sehr ergreifend.
Was machen Sie bei Pro Infirmis?
Als Direktorin habe ich die oberste operative Leitung und
Verantwortung für rund 1‘600 Mitarbeitende. Ich führe
meine 5 Kollegen der Geschäftsleitung und koordiniere die
Arbeit unserer verschiedenen Bereiche. Zusätzlich sind mir
die Direktionsassistentin, zwei Fachassistentinnen und der
Personalbereich unterstellt. Wichtig ist mir, dass im Zentrum immer die Menschen mit Behinderung stehen.
Die nächsten Ferien, wohin geht es da?
Ins Engadin, nach Sils Maria.
Was war Ihr schönstes Erlebnis bei Pro Infirmis?
Das war die Taufe der SBB-Lokomotive, zusammen mit der
kleinen Lea, einem behinderten Mädchen, das mit seinem
Vater auf einer unserer Plakatkampagnen zu sehen war.
Lea hatte an diesem Tag zufällig ihren 3. Geburtstag. Ich
nahm sie auf den Arm, um die Lok mit Leas Foto und unserem Logo zu «taufen» und stimmte auf dem Perron mit
Was war Ihr traurigstes Erlebnis bei Pro Infirmis?
Die Nachricht vom plötzlichen Tod des erst 50-jährigen
Kantonalen Geschäftsleiters von Pro Infirmis Solothurn.
Was sind Ihre Hobbys?
Mein Hund Isa, eine 12-jährige Entlebucher Sennenhündin
mit einer Geburtsbehinderung an der rechten Vorderpfote.
Sie ist sehr lebhaft und hat Persönlichkeit. Isa ist clever,
geniesst das Schwimmen und und hält meinen Mann und
mich auf Trab. Ich lese gerne, liebe Filme, Musik, ein feines
Essen, gekocht von meinem Mann. Zum Hobby geworden
sind meine Begegnungen und Gespräche mit unterschiedlichen Menschen auf meiner Zugfahrt nach Zürich. So kann
ich auch dem täglichen Pendeln viel Positives abgewinnen.
Was wünschen Sie sich für diese Welt?
Respekt und Wertschätzung für das Leben und die Natur
sowie den Schutz der Integrität von Mensch und Tier. Frieden, Verständnis, Toleranz und Anteilnahme.
Was möchten Sie unseren Spender/-innen mitteilen?
Ihre Empathie und Ihre Grosszügigkeit ermöglicht es uns,
jährlich mehr als 20‘000 Menschen mit Behinderung Unterstützung in deren Leben zu bieten. Begegnungen mit Spendern berühren und beeindrucken mich sehr: Viele Menschen, die selber nicht viel besitzen, spenden immer wieder
einen Teil ihres Budgets und fühlen, dass auch jeder kleine
Beitrag wertvoll ist.
6
In Kürze
Pro Infirmis in den Kantonen
SH Schaffhausen
Rheinfelden
Basel
Frauenfeld
Pratteln
Olten
SO
JU
NE
VD
Prilly
VD: WELTMEISTER AM START
Aussergewöhnliche Leistungen
zeigten die Sportler bei der Paracycling Weltmeisterschaft in Yverdon-les-Bains. Pro Infirmis Vaud
unterstützte den Anlass nicht nur
mit Sponsoring, sondern auch mit
zahlreichen Fans, welche die Athleten anfeuerten. Neun WM-Medaillen
für die Schweiz sind ein tolles Ergebnis und beste Voraussetzungen
für die Paralympics 2016 in Rio de
Janeiro.
BE/SO: KUNST AM FLUSS
In der Pro Infirmis-Tagesstätte Gerlafingen arbeiten Menschen, die aufgrund von Krankheit oder Behinderung nicht berufstätig sein können.
24 Teilnehmerinnen und Teilnehmer
haben sich an der Ausstellung
«Kunstfluss» beteiligt. In Attiswil, am
Ufer des Dorfbaches, zeigten sie ein
Gemeinschaftswerk. Die grosse Installation besteht aus selbst hergestellten Schalen, die das Wasser des
Baches auffangen und weitergeben.
Ein kreativer und phantasievoller
Beitrag!
GE
BE
Sarnen
OW
Thun
NW
AI
Appenzell
Pfäffikon SG
ZG
Luzern
Stans
Bern
Fribourg
St. Gallen
Zug
LU
Burgdorf
Neuchâtel
Zihlschlacht
AR
Wattwil
AG
Biel/Bienne
La Chaux-de-Fonds
Amriswil
Herisau
Aarau Zürich
Langenthal
Solothurn
Yverdon-les-Bains
ZH
Baden
Delémont
TG
Winterthur
SZ
Glarus
Brunnen
Sargans
GL
Chur
Altdorf
UR
Ilanz
GR
FR
Samedan
Lausanne
Sierre
Monthey
Genève
Martigny
Sion
Brig
TI
Bellinzona
VS
Locarno
Kantonale Geschäftsstellen
Massagno
Beratungsstellen
Beratungsstellen von
Partnerorganisationen
Wohnschulen
GR: ERFAHRUNGEN IM ROLLSTUHL
Menschen im Rollstuhl und Sehbehinderte treffen im Alltag oft auf
bauliche Hindernisse, die kaum
oder gar nicht zu überwinden sind.
Damit die Öffentlichkeit auf solche
Barrieren aufmerksam wird, hat Pro
Infirmis Graubünden einen Parcours
eingerichtet. Der Mobilitätsparcours
besteht aus verschiedenen Hindernissen aus Holz, die beliebig aufgestellt werden können. An Veranstaltungen erleben grosse und kleine
Besucher hautnah, wie es sich anfühlt, in Mobilität und Selbständigkeit eingeschränkt zu werden.
SG: EIGENE INTERESSEN
VERTRETEN
Im Lehrgang «Selbstvertretung» lernen Menschen mit einer leichten kognitiven Behinderung, sich selbst für
ihre persönlichen und politischen
Anliegen einzusetzen. Sie erwerben
grundlegende Kenntnisse über das
politische System der Schweiz und
über die gesellschaftliche Situation
von Menschen mit Behinderung. Das
Gelernte im Alltag anzuwenden, gibt
Motivation und Mut, die Dinge selbst
in die Hand zunehmen und Verantwortung zu tragen.
7
Andreas Pröve
Der ganz normale Wahnsinn
«Ich fühle ich mich wie der Teil eines
gigantischen Fischschwarmes, in dem
eine wundersame Harmonie alle
Verkehrs­regeln ersetzt, gerade so, als
hätte Buddha seine Hand im Spiel.»
Ich stehe erhöht auf dem Gehsteig mit
einem herrlichen Blick auf die grösste
Attraktion der Stadt – den Verkehr. Was
ich sehe, will nicht in meinen Verstand,
ein Paradox, an dem jeder Chaosforscher seine Freude hätte. Es rauscht
ein Meer bunt behelmter Geisterfahrer
auf Mopeds in allen Richtungen an mir
vorbei. Überall sehe ich Kollisionen voraus, höre schon das Krachen von
Blech und Plastik, doch nichts passiert.
Es muss ein Wunder sein. Oder besitzen diese Menschen ein mir unbekanntes Sinnesorgan, das sie befähigt,
sich durch dieses undurchdringliche
Gewirr anderer Mopeds zu lenken?
Ich bin fasziniert. Grösste Bewunderung habe ich für die Linksabbieger.
Sie müssen sehenden Auges in den gegenläufigen Verkehr fahren. Eigentlich
Selbstmord. Todesmutige Individualisten kürzen den Kreisverkehr ab und
fahren links herum, um sich den
scheinbar unsinnigen Umweg zu sparen. Geht gar nichts mehr, muss der
Bürgersteig herhalten.
Spiegelt sich hier etwa die vietnamesische Mentalität? Wenn es so ist, muss
es ein Volk von Querdenkern, Anarchisten und Partisanen sein. Auf Anhieb sympathisch.
Nach einer Weile glaube ich hinter den
Überlebenstrick der Dschungelkämpfer auf zwei Rädern gekommen zu
sein. Es ist der Blickkontakt, er muss
es sein. Kommunikation mit den Augen ist das Geheimnis, denn die Hupe
wird kaum bemüht und eine Gestik
gibt es nicht.
Mir ist klar, Hoh-Chi-Minh-City hält
für mich seinen Initiationsritus bereit.
Ich docke das Handbike vor den Rollstuhl und lege den ersten Gang ein.
Eine grosse Herausforderung wartet
auf mich, ohne zu ahnen, wie das Spiel
ausgeht. Ich fahre den Bürgersteig entlang bis zu einer Absenkung und fädele mich in den Strom ein. Das klappt
schon ganz gut. Doch beim Überqueren der Kreuzung kommt es fast zu
einer Kollision mit einem Stadtbus. So
sehr ich den Blickkontakt mit einem
Lächeln suche - und alle lächeln
freundlich zurück - ich bewege mich
wie ein Fremdkörper in der Masse.
Fluchtartig ziehe ich mich zum Trottoir zurück. Offensichtlich fehlt mir
eine Zutat, um sicher über die Strasse
zu kommen. Es ist wohl das rechte Augenmass für die passende Lücke. Immerzu stürze ich in den Verkehr. Und
jedes Mal lerne ich dazu, vor allem,
was ich eigentlich längst weiss: Mein
Rolli ist genau sechsundfünfzig Zentimeter breit und jede Lücke von sechzig
Zentimetern reicht.
Dann, als hätte jemand einen Schalter
umgelegt, gehöre ich plötzlich dazu.
Linksabbiegen gegen den Verkehr?
Kein Problem, wie von selbst tut sich
eine Lücke auf. Den Kreisverkehr austricksen? Niemand nimmt mir das
übel. Jetzt der Härtetest: bei Rot über
die Ampel fahren und in den Querverkehr eintauchen. Es funktioniert.
Mehr Infos: www.proeve.com
8
Spenderstimmen: Dank diesen Menschen und Ihnen können wir helfen.
«Seit Sommer arbeiten wir an den
Weihnachtssternen für Pro Infirmis»
Über 20 Leute arbeiteten im Drahtzug während Monaten an den Weihnachtssternen für Pro Infirmis. Es
braucht Fingerspitzengefühl, Fertigkeit, Geduld und viel Ausdauer. Für die
Mitarbeitenden von Drahtzug und auch
für ihre Teamleiter. Der Drahtzug ist
ein modernes, soziales Unternehmen
mit der Aufgabe, Menschen mit erschwertem Zugang zur Arbeitswelt sozial und wirtschaftlich zu integrieren.
Diese Integration geschieht durch eine
Mitarbeit bei Produktions- und Dienstleistungsaufträgen, die der Betrieb erhält. Drahtzug bietet über 300 Men-
schen Arbeit und Ausbildung, ein
Atelier mit Tagesbetreuung und Begleitete Wohnplätze an.
Ramin Nassiri (rechtes Bild) ist einer
der Teamleiter im Drahtzug, der mit
viel Geduld und Humor unterstützt, wo
es nötig ist. Ein schneller Kontrollblick,
ob alles so ist, wie abgemacht, gehört
zur Routine dazu. Und doch wird die
Arbeit nie langweilig. Denn auch wenn
die Abläufe die gleichen sind, die Menschen, die besondere Unterstützung
brauchen, sind jeden Tag anders. Die
Betreuer meistern die Aufgabe, auf jeden individuell einzugehen und den
Anforderungen der vielen Kunden gerecht zu werden, jeden Tag aufs Neue
- zusammen mit den motivierten Mitarbeitenden.
Für Pro Infirmis wird jeder Stern mit Geduld gefertigt und verpackt, so dass
am Schluss ein schönes Geschenk für
die Spenderinnen entsteht.
Mehr zum Verein Werkstätte Drahtzug
finden Sie auf: www.drahtzug.ch
Jacqueline Brunner
Sportliche Spende
Im Juni dieses Jahres machten sich 585 LäuferInnen vor der
historischen Kulisse von Carlisle Castle auf, England von
West nach Ost zu durchqueren. Thomas Waldmeier war einer dieser Läufer. Er war im Namen von AVIA unterwegs.
Der 111km lange Weg führte die Läuferschar entlang des
Hadrians Wall, durch Blumenfelder, über Kuhweiden bis ins
Ziel nach Newcastle. Von den 585 Gestarteten erreichten
434 noch innerhalb des 26-Stunden-Zeitlimits das Ziel.
Thomas Waldmeier war nach 11 Stunden und 31 Minuten
im Ziel, was ihm den 14. Gesamtrang eintrug. Danach
hängte er seine AVIA-Laufschuhe an den «Nagel». Im Wissen,
dass die AVIA-Mitgliedfirmen zu seinem Abschied aus der
AVIA-Familie nochmals gemeinsam angepackt haben und
er für Pro Infirmis mehr als 6000 Franken erlaufen hat.
Wir danken Thomas Waldmeier ganz herzlich für seinen
riesigen Einsatz und seine Grosszügigkeit!
Impressum
aktuell:
Ausgabe 4, November 2015;
erscheint 4 x jährlich
Redaktion und Verlag:
Pro Infirmis, Postfach, 8032 Zürich
Tel. 044 388 26 88, Fax 044 388 26 00
www.proinfirmis.ch,
[email protected]
Jacqueline Brunner (verantwortlich),
Stefanie Huber, Ellen Thiele, Gaby
Ullrich
Fotos: Ursula Meisser, Andreas Pröve
Gestaltung: bartók GmbH, Zürich
Produktion: Prowema GmbH, Pfäffikon
Abo.:
Fr. 5.– pro Jahr ist in Ihrer Spende
inbegriffen.
Postkonto: 80-22222-8