Hospiz ist die große Idee, dass wir Menschen einander im Sterben nicht allein lassen sollten. Herr S. möchte rauchen Irene Blau Irene ist seit 2003 ehrenamtliche Hospizbegleiterin und seit 2007 Hospizkoordinatorin. Beginn einer Nachtwache Die SMS von Schwester Andrea erreicht mich in Rom, am Tag meiner Rückreise. „Ich brauche Dich“ schreibt sie, und als ich nach Hause komme rufe ich sie gleich an. Herr S. ist ein älterer Herr mit Bronchialkarzinom und Hirnmetastasen. Er kann kaum sprechen, ist aber ansprechbar und orientiert, erfahre ich. Er wird von seiner Frau gepflegt, die sehr erschöpft ist und dringend eine „Pause“ braucht. Es wird vereinbart dass ich über Nacht bleibe. Abends komme ich zu einem schönen, gepflegten Einfamilienhaus. Frau S. begrüßt mich freundlich, und kaum im Vorzimmer erfahre ich schon, dass die Familie kurz vor einer Übersiedelung steht. Die Koffer sind gepackt, alles ist vorbereitet, nur der Kranke, Herr S. hält sie noch hier. Beim Betreten des Wohnzimmers wendet sich der Patient sofort zur Tür, blitzende blaue Augen strahlen mir entgegen, ein freudiges, erwartungsvolles Lächeln, das ich aus ganzem Herzen erwidere. Frau S. zeigt mir Küche, Bad, WC und die wichtigsten Utensilien und geht zu Bett, erleichtert, ein paar Stunden beruhigt schlafen zu können. Kurz danach kommen der Sohn und die Enkeltochter von Herrn S. Ich halte mich im Hintergrund, der Sohn sucht verschiedene Dokumente, hat hier im Haus noch vieles zu erledigen. Aber der große und eher schweigsame Mann nützt auch jede Gelegenheit am Bett des Vaters innezuhalten, einen Handgriff zu tun, ein paar liebevolle Worte zu sagen. Alexa, die Enkeltochter, verwickelt mich in Gespräche, über Frisuren, Musik, Lokale. Sie ist liebevoll zu ihrem Großvater, aber scheinbar auch froh, in mir eine Ablenkung und eine Beschäftigung gefunden zu haben. Sie raucht sehr viel und ihrem Vater tut es sichtlich weh, seine rauchende Tochter und seinen an Lungenkrebs sterbenden Vater so nebeneinander zu sehen. Seite 1 von 2 Hospiz ist die große Idee, dass wir Menschen einander im Sterben nicht allein lassen sollten. Herr S. lächelt mich strahlend an Als der Kranke sich eine Zigarette wünscht, wechseln wir einen schnellen Blick, er bekommt doch ohnehin schon so schwer Luft. Und dennoch – wer soll ihm diesen Wunsch abschlagen? Alexa zündet sie an und ich setze mich zu Herrn S. ans Bett und halte den Aschenbecher. Er genießt jeden einzelnen Zug, ganz vorsichtig, damit er nicht zuviel husten muss. Was für eine seltsame Situation. Für Herrn S. ist Rauchen Freude und Lebensqualität – und nur darum geht es in diesen letzten Tagen, den letzten Stunden. Er lächelt mich strahlend an und genießt seine Zigarette. Mir steigt der Rauch beißend in Nase und Augen, aber ich unterdrücke meinen Hustenreiz um diese wertvollen Minuten nicht zu stören. Ich achte genau darauf, wann er den Aschenbecher zum Abstreichen der Asche braucht, führe manchmal seine Hand, und freue mich mit ihm. Herr S. hustet viel und es ist wichtig, dass er den Schleim ausspucken kann. Er tut das bedächtig in ein immer neues Blatt Küchenrolle und während ich mit Alexa plaudere, reiche ich ihm ein Sackerl zum Wegwerfen der gebrauchten Tücher und reiße immer wieder neue Blätter ab. Herr S. hört uns zu. Später, als wir die Nacht über alleine sind, ist das unsere gemeinsame Beschäftigung: ich reiße Tuch für Tuch sorgfältig ab und lege sie langsam einzeln auf den Sessel neben dem Bett. Herr S. schaut mir zu, berührt jedes aufgelegte Tuch bedächtig mit seiner Hand, schaut mich an und lächelt. Und dann kommt das nächste Tuch. So vergeht eine Nachtstunde nach der anderen, langsam und in einem ganz eigenen Rhythmus, den der Patient vorgibt und dem ich versuche zu folgen. Morgens bekomme ich von Frau S. noch einen guten Kaffee, die Nachtruhe hat ihr sichtlich wohl getan. Sie wünscht ihrem Mann liebevoll einen guten Morgen und ich freue mich, dass sie wieder etwas Kraft gewonnen hat. Einen Tag nach meinem Besuch stirbt Herr S. zu Hause. Seite 2 von 2
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