Arm in einem reichen Land – Armut auch in Bayern Prof. Dr. Thomas Beyer Landesvorsitzender der Arbeiterwohlfahrt in Bayern Inhaltsübersicht Seite I. Leugnen der Realität – Armut auch in Bayern 3 II. Armut 4 1. 2. 3. Relative Armutsgefährdung Die wichtigsten Begriffe Armutsgefährdungsschwelle 4 5 6 III. Armut als versagte Teilhabe 6 1. 2. 6 6 Armut grenzt aus Wesentliche Ergebnisse der AWO/ISS-Langzeitstudie zur Kinderarmut IV. Kennzahlen zur Armut 8 1. 2. 3. 8 9 4. 5. 6. Armutsgefährdungsquote Armutsgefährdungsquote nach soziodemographischen Merkmalen Armutsgefährdungsquote nach Erwerbsstatus, Qualifikationsniveau und Migrationshintergrund Die Betroffenen Überschuldung Regionale Unterschiede 10 10 12 12 V. Familien- und Kinderarmut 14 VI. Staatliche Mindestsicherung 16 1. 2. 16 17 Grundsicherung für erwerbsfähige Hilfebedürftige Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung VII. Arm trotz Arbeit 18 1. 2. 3. 4. 18 19 21 21 Wenn der Lohn zum Leben nicht reicht Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt Verfestigung von Langzeitarbeitslosigkeit Die volkswirtschaftlichen Kosten VIII. Altersarmut 22 1. 2. 3. 22 23 25 Bayerns Ältere überdurchschnittlich von Armut bedroht Rentnerinnen und Rentner als Wohlstandsverlierer Ursachen von Altersarmut IX. Bayerns neue Wohnungsarmut 27 1. 2. 3. 4. 5. Bayern gehen die Wohnungen aus Wer wenig hat, zahlt mehr Sozialer Wohnungsbau in Bayern – vom Aussterben bedroht Wohnungslosigkeit – (k)ein Thema im reichen Bayern Handlungsanforderung an die Politik in Bayern 27 28 30 31 32 X. Vermögen und Einkommen in Bayern immer ungleicher verteilt 33 1. 2. 3. Bayern ist ein reiches Land Geld- und Immobilienvermögen in Bayern – extrem unterschiedlich verteilt Oligarchie der Besitzenden – und das Betriebsvermögen ist noch unberücksichtigt Wer hat, dem wird gegeben 33 34 4. 35 36 2 I. Leugnen der Realität – Armut auch in Bayern Bayern ist ein reiches Land. Doch auch in Bayern ist Armut in Familien, bei Kindern aber auch im Alter längst Wirklichkeit. Die amtlichen Zahlen sprechen eine klare Sprache. Die langjährige Weigerung der Bayerischen Staatsregierung, die Sozialberichterstattung nach dem 1999 veröffentlichten Bericht zur sozialen Lage in Bayern wieder aufzunehmen, vermochte die Realität im Freistaat nicht dauerhaft zu leugnen. Der im Frühjahr 2009 erschienene Zweite Bericht der Staatsregierung zur sozialen Lage in Bayern erkannte erstmals ausdrücklich an, „dass bei allem hohen allgemeinen Wohlstand auch in Bayern Menschen leben, die im Hinblick auf das Ideal der Chancengerechtigkeit und Freiheit – insbesondere die Vermeidung von Armut – unterstützungsbedürftig sind“1. Der Dritte Bericht der Staatsregierung zur sozialen Lage in Bayern vom Sommer 2012 vermeldete dann zwar „Mindestsicherung, Überschuldung und Armutsgefährdung: In Bayern unterdurchschnittlich“, räumte indes z.B. für Ältere oder Alleinerziehende eine „höhere“ bzw. „sehr hohe Armutsgefährdung“ in Bayern ausdrücklich ein2. 1 2 Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen, Zweiter Bericht der Staatsregierung zur sozialen Lage in Bayern, München 2009 (im Folgenden: Sozialbericht Bayern 2009), S. 28. Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen, Dritter Bericht zur sozialen Lage in Bayern, München 2012 (im Folgenden: Sozialbericht Bayern 2012), S. 32 ff., 36. 3 II. Armut 1. Relative Armutsgefährdung Obwohl Armut sozialwissenschaftlich nicht mehr ausschließlich unter finanziellen Aspekten betrachtet wird, ist doch die Messung monetärer Armut ein wesentlicher Indikator für die Frage einer Eingliederung oder Ausgrenzung von Menschen in der Gesellschaft3. Seit der Tagung des Europäischen Rates im Dezember 2001 in Laeken ist es innerhalb der Europäischen Union gebräuchlich, monetäre Armut nicht durch Festlegung einer absoluten Armutsgrenze, sondern in einer relativen Betrachtung zum durchschnittlichen Wohlstand in der Gesellschaft des jeweiligen Gebietes zu definieren. In diesem Konzept der „relativen Einkommensarmut“ wird die Armutsgefährdungsquote – auch: Armutsrisikoquote – ermittelt. Sie erfasst den Anteil der Personen, die über weniger verfügen als 60 Prozent des „mittleren“ Einkommens (sog. „medianes Äquivalenzeinkommen“). Darunter versteht man dasjenige Einkommen, das von einer Hälfte der Bevölkerung unter- und von der anderen Hälfte überschritten wird. Bei der Ermittlung des Äquivalenzeinkommens wird auf das Haushaltsnettoeinkommen abgestellt. Dabei wird berücksichtigt, auf wie viele Personen sich dieses Haushaltsnettoeinkommen verteilt. Nach der jetzt gebräuchlichen OECD-Skala wird davon ausgegangen, dass Mehrpersonenhaushalte durch das gemeinsame Wirtschaften im Vergleich zu Einpersonenhaushalten Kosten einsparen. Das Haushaltsnettoeinkommen wird deshalb nicht lediglich durch die Zahl der Haushaltsmitglieder geteilt, sondern es erfolgt eine Gewichtung. Dabei wird dem Haushaltsvorstand der Faktor 1, weiteren Personen ab 14 Jahren der Faktor 0,5 und Personen unter 14 Jahren der Faktor 0,3 zugewiesen. Das verfügbare Äquivalenzeinkommen ermittelt sich demnach im Mehrpersonenhaushalt derart, dass das Haushaltsnettoeinkommen durch den nach den vorstehenden Kriterien zu bildenden Gewichtungsfaktor geteilt wird4. 3 4 Dazu Sozialbericht Bayern 2009, Abschnitt 1.2.2 und 1.3.2; Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Soziales, Familie und Integration, Datenreport: Soziale Lage in Bayern 2013, München 2014 (Im Folgenden: Sozialbericht Bayern 2013), Abschnitt 2.1; Datenreport: Soziale Lage in Bayern 2014, München 2015 (Im Folgenden: Sozialbericht Bayern 2014), S. 11. Beispiel: Ein Haushalt, in dem ein Ehepaar mit drei Kindern, die jünger als 14 Jahre sind, lebt, hat einen Gewichtungsfaktor von (1 + 0,5 + 0,3 + 0,3 + 0,3 =) 2,4. Bei einem Haushaltsnettoeinkommen von mtl. 2.400 Euro errechnet sich das Äquivalenzeinkommen auf 1.000 Euro. 4 2. Die wichtigsten Begriffe Hier die zentralen Begriffe der Betrachtung der Armutsentwicklung im Überblick5. Äquivalenzeinkommen Das Äquivalenzeinkommen ist eine fiktive Rechengröße, um das Einkommen von Personen vergleichbar zu machen, die in Haushalten unterschiedlicher Größe und Zusammensetzung leben. Dazu wird das Haushaltsnettoeinkommen auf die Personen des Haushalts nach einem Gewichtungsschlüssel verteilt. Median/mittleres Einkommen Der Median ist der Einkommenswert derjenigen Person, die die Bevölkerung in genau zwei Hälften teilt. Das heißt, die eine Hälfte hat mehr, die andere weniger Einkommen zur Verfügung. Armutsgefährdungsschwelle Die Armutsgefährdungsschwelle ist der Betrag des Äquivalenzeinkommens, der die Grenze für Armutsgefährdung bildet. Nach der gemeinsamen Festlegung der EUMitgliedsstaaten liegt diese Grenze bei 60 Prozent des mittleren Äquivalenzeinkommens (Medianeinkommen). Für Personen, deren Äquivalenzeinkommen unter dieser Grenze liegt, wird eine Armutsgefährdung angenommen. Armutsgefährdungsquote Die Armutsgefährdungsquote als Maß für die Häufigkeit der Armutsgefährdung ist definiert als Anteil der Personen, die unter der Armutsgefährdungsgrenze liegen, gemessen an der Gesamtbevölkerung in Privathaushalten. 5 Sozialbericht Bayern 2012, Glossar, S. 469 ff. 5 3. Armutsgefährdungsschwelle Der Sozialbericht Bayern 2014 weist die sich danach ergebende Armutsgefährdungsschwelle von 60 Prozent des jeweiligen „mittleren“ Einkommens für 2013 so aus6: Bayern: 973 Euro Früheres Bundesgebiet (ohne Berlin): 923 Euro Bundesrepublik Deutschland gesamt: 892 Euro III. Armut als versagte Teilhabe 1. Armut grenzt aus Armut lässt sich unter finanziellen Aspekten messen und berechnen. Erfahren und oftmals erlitten wird sie als konkretes Ausgeschlossensein. Wer arm ist, wer über zu geringe Mittel in materieller, aber auch in kultureller und sozialer Hinsicht verfügt, dem stehen Chancen nicht offen, die die Gesellschaft anderen ermöglicht. Armut grenzt aus. 2. Wesentliche Ergebnisse der AWO/ISS-Langzeitstudie zur Kinderarmut Die AWO/ISS-Langzeitstudie zur Kinderarmut von 20057 legt eine Kombination von Ressourcen- und Lebenslagenansatz zugrunde und ermittelt neben der materiellen Grundversorgung auch die Versorgung der begleiteten Kinder im sozialen, kulturellen und gesundheitlichen Bereich. 6 7 S. 68. Zukunftschancen für Kinder, Wirkung von Armut bis zum Ende der Grundschulzeit, Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik, im Auftrag des AWO Bundesverbandes, Frankfurt 2005. 6 Zu ihren wesentlichen Ergebnissen gehören… 62 Prozent der Kinder wachsen ohne Armutserfahrungen auf 38 Prozent erleben familiäre Armut das Risiko arm zu bleiben ist 11,5 Mal höher als das Risiko arm zu werden Hauptrisikogruppen von kindbezogener Armut sind Kinder aus Familien - mit Langzeitarbeitslosigkeit und/oder - Migrationshintergrund und/oder - nur einem Elternteil Häufiger sind bei Kindern aus armen Familien… (zu) frühe Einschulungen sieben Mal häufigere Rückstellungen vom Schulbesuch wegen Defiziten im Sprach- und Sozialverhalten, bei den feinmotorischen und Konzentrationsfähigkeiten Sitzenbleiben schlechte Noten am Ende der Grundschulzeit geringere Übertritte ins Gymnasium (z. B.: bei gleichgutem Bildungsniveau von nicht-armer und armer Mutter ist die Chance von nicht-armen Kindern, aufs Gymnasium zu kommen vier Mal höher). 7 IV. Kennzahlen zur Armut 1. Armutsgefährdungsquote Auf Grundlage des Mikrozensus ermittelt der Sozialbericht Bayern 2014 bezogen auf die zu Recht für maßgeblich erklärten Armutsgefährdungsschwellen der jeweils betroffenen Gebiete8 für 2013 folgende Armutsgefährdungsquoten9: Bayern: 14,6 Prozent Bundesrepublik Deutschland: 15,5 Prozent entnommen aus: Sozialbericht Bayern 2014, S. 68. 8 9 Vgl. Sozialbericht Bayern 2013, S. 52, Fußn. 14; auch Sozialbericht Bayern 2014, S. 68; Sozialbericht Bayern 2012, S. 206; Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen, Soziale Lage in Bayern 2011, München 2011 (im Folgenden: Sozialbericht Bayern 2011), S. 27. Sozialbericht Bayern 2014, S. 68. 8 2. Armutsgefährdungsquote nach soziodemographischen Merkmalen entnommen aus: Sozialbericht Bayern 2014, S. 70. 9 3. Armutsgefährdungsquote nach Erwerbsstatus, Qualifikationsniveau und Migrationshintergrund entnommen aus: Sozialbericht Bayern 2014, S. 72. 4. Die Betroffenen Bereits der Sozialbericht Bayern 2011 lieferte einen alarmierenden Überblick über die Zahl der Menschen, die seitens der Bayerischen Staatsregierung als armutsgefährdete Personen angesehen werden. 10 Von Armut in Bayern waren danach betroffen10: insgesamt 1.635.000 Personen Frauen 899.000 Personen Männer 736.000 Personen unter 25 514.000 Personen 65 und älter 405.000 Personen Einpersonenhaushalte 515.000 Personen Mehr-Personen-Haushalte ohne Kind 458.000 Personen Haushalte mit Kindern 662.000 Personen Der Sozialbericht Bayern 201411 belegt seitdem einen Anstieg um über 120.000 armutsgefährdeter Menschen in Bayern und beziffert die Gesamtzahl der armutsgefährdeten Personen in Bayern auf 1.761.000 in 2013. Erneut bilden Einpersonenhaushalte die „mit Abstand größte Gruppe armutsgefährdeter Personen“, nämlich 601.000, darunter 240.400 Ältere ab 65 Jahren12. Der Bericht belegt wiederum für einzelne Bevölkerungsgruppen ein zum Teil gravierend erhöhtes Armutsrisiko in Bayern13. Geschiedene 24,7 Prozent Dauernd getrennt Lebende 25,1 Prozent Rentnerinnen und Rentner 26,6 Prozent Erwerbslose 68,0 Prozent Personen mit Migrationshintergrund 23,3 Prozent Personen ohne beruflichen Abschluss 35,5 Prozent Haushalte mit Teilzeiterwerbstätigkeit des 30,4 Prozent Haupteinkommensbeziehers (HEKB) Haushalte mit ALG I-Bezug des HEKB 46,0 Prozent Haushalte mit ALG II-Bezug des HEKB 82,2 Prozent Haushalte mit Bezug von Grundsicherung im Al- 77,9 Prozent ter und bei Erwerbsminderung (SGB XII) des HEKB 10 Sozialbericht Bayern 2011, S. 47. Sozialbericht Bayern 2014, S. 69. 12 Sozialbericht Bayern 2014, S. 71. 13 Sozialbericht Bayern 2014, S. 72, 73 f. 11 11 5. Überschuldung Im Jahr 2015 betrug die Schuldnerquote, d. h. der Anteil der Personen, bei denen die zu leistenden monatlichen Gesamtausgaben höher sind als ihre Einnahmen, im Verhältnis zu allen Personen ab 18 Jahren für Bayern 7,12 Prozent nach 7,00 Prozent im Jahr 2014 (7,00 Prozent im Jahr 2013). Zahl der überschuldeten Privatpersonen in Bayern: (Quelle: Creditreform; Schuldner Atlas Deutschland 2010, 2012, 2014, 2015) Bayern: 6. 2009 690.000 2010 730.000 2011 710.000 2012 720.000 2013 720.000 2014 730.000 2015 750.000 Regionale Unterschiede Während sich die mittleren Einkommen preisbereinigt wenig unterscheiden, sind die Armutsgefährdungsquoten in den Regierungsbezirken Bayerns deutlich unterschiedlich. 12 entnommen aus: Sozialbericht Bayern 2014, S. 76. Auch unter Berücksichtigung des regionalen Preisniveaus belegt der Sozialbericht Bayern 201414 ein höheres Armutsrisiko der größten Städte in Bayern. entnommen aus: Sozialbericht Bayern 2014, S. 76. 14 S. 76. 13 Auch der Blick auf die Verschuldungssituation zeigt große regionale Unterschiede. Bayerische Kreise mit Quote niedrigster Schuldnerquote Bayerische Kreise mit Quote höchster Schuldnerquote Eichstätt 3,67 Hof-Stadt 13,49 Erlangen-Höchstadt 4,76 Weiden/Oberpfalz Stadt 10,95 Schweinfurt-Land 4,92 Augsburg-Stadt 10,89 Neuburg-Schrobenhausen 5,04 Fürth-Stadt 10,88 Donau-Ries 5,16 Aschaffenburg-Stadt 10,57 eigene Darstellung nach tz München, 7. November 2014, S. 14. V. Familien- und Kinderarmut Besonders bedrückend zeigt sich im Hinblick auf Familienarmut das Armutsrisiko von Alleinerziehendenhaushalten15. Alleinerziehende mit einem oder 42,0 Prozent mehreren Kindern Alleinerziehende mit 1 Kind 37,0 Prozent Alleinerziehende mit 2 48,4 Prozent oder mehreren Kindern Bei Paarfamilien tritt eine wesentlich höhere Armutsgefährdung (19,5 Prozent) erst bei Familien mit 3 oder mehr Kindern auf. Die Armutsgefährdungsquote liegt für Paarfamilien sonst bei16: 15 16 2 Erwachsene mit 1 Kind 8,1 Prozent 2 Erwachsene mit 2 Kindern 9,3 Prozent Sozialbericht Bayern 2014, S. 70, 77. Sozialbericht Bayern 2014, S. 70. 14 Nach dem Sozialbericht Bayern 2014 ist das Armutsrisiko von Alleinerziehendenhaushalten weiter gestiegen. Es liegt nach 40,9 Prozent im Jahr 2012 jetzt (2013) bayernweit bei 42,0 Prozent17. Dabei wird darauf verwiesen18, die Zahl der hiervon betroffenen 170.000 Personen sei „nur halb so groß“ wie die Zahl der armutsgefährdeten Personen in Haushalten mit zwei Erwachsenen und Kind(ern), rund 343.000 Personen, trotz deren wesentlich geringerer Armutsgefährdungsquote (10,8 Prozent). Der Verweis auf eine folglich vermeintlich „quantitativ vergleichsweise geringe Bedeutung“19 erscheint nicht nur sozialpolitisch als offensichtlich ungeeigneter Versuch der Beschwichtigung. Die Armutsgefährdungsquote bei Kindern und Jugendlichen ist im Ländervergleich niedriger, übersteigt jedoch deutlich den landesweiten Durchschnittswert20. entnommen aus: Sozialbericht Bayern 2012, S. 274. In der aktuellen Berichterstattung beschränkt sich die Staatsregierung auf die Angabe einer Armutsgefährdungsquote für Unter-18-Jährige ohne weitere Differenzierung. Auch diese ist mit 15,6 Prozent indes überdurchschnittlich21. Die Quote der Sozialgeldempfänger unter 15 Jahren bezogen auf die gleichaltrige Bevölkerungsgruppe beträgt in 16 Landkreisen und Städten in Bayern 2013 mehr als 11,5 Prozent. Das Maximum erreicht dabei die Stadt Hof mit 23,8 Prozent.22 17 Sozialbericht Bayern 2014, S. 70 f. Sozialbericht Bayern 2014, a.a.O; Hinweis: Die Angabe im Sozialbericht 2014, S. 70 muss korrekterweise 343.000 heißen. Die dort angegebenen 334.000 sind einem Zahlendreher geschuldet. 19 Sozialbericht Bayern 2014, S. 71. 20 Sozialbericht Bayern 2012, S. 207, 274 f. 21 Sozialbericht Bayern 2014, S. 70. 22 Sozialbericht Bayern 2014, Materialienband, S. 85. 18 15 VI. Staatliche Mindestsicherung Die bisher ausgewiesenen Armutsrisikoquoten errechnen sich unter Einbeziehung staatlicher Sozialleistungen23. Ohne Sozialtransfers läge die Armutsrisikoquote in Bayern deutlich höher. So gab der Sozialbericht Bayern 2009 das Armutsrisiko für Kinder unter 15 Jahren vor Sozialtransfers mit 28,1 Prozent an, nach Sozialtransfers noch mit 8,8 Prozent24. 1. Grundsicherung für erwerbsfähige Hilfebedürftige Besondere Betrachtung verdienen im Konzept der relativen Einkommensarmut staatliche Transferleistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB II). Personen, die erwerbsfähig sind, ihren Lebensunterhalt aber nicht aus eigenen Mittel finanzieren können, erhalten Arbeitslosengeld II („Hartz IV“). Nicht erwerbsfähigen Personen, die mit ALG IIBeziehern in einer sog. „Bedarfsgemeinschaft“ leben, wird Sozialgeld gewährt. Dabei handelt es sich überwiegend um Kinder unter 15 Jahren. Die Grundsicherungsleistungen, die gemäß SGB II zur Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums seitens des Staates zur Verfügung gestellt werden, unterschreiten in der Regel die Armutsgefährdungsschwelle25. In Bayern erhalten zurzeit weit über 400.000 Menschen Leistungen nach dem SGB II. In Deutschland sind es rund 6,1 Millionen. Leistungsempfänger nach SGB II: (August 2015; Quelle: Bundesagentur für Arbeit) Bayern: Deutschland: 430.443 6.082.353 23 Vgl. Sozialbericht Bayern 2014, S. 68. Sozialbericht Bayern 2009, S. 141. 25 Sozialbericht Bayern 2009, S. 145 ff., 148; Sozialbericht Bayern 2012, S. 205; auch Sozialbericht Bayern 2013, S. 36 in Fußn. 3 und S. 57. 24 16 Vergleichszahlen September 2014: Bayern: Deutschland: 421.927 6.055.550 Kinder unter 15 Jahren in ALG II-Bedarfsgemeinschaften: (August 2015; Quelle: Bundesagentur für Arbeit) Bayern: Deutschland: 122.986 1.664.426 Vergleichszahlen September 2014: Bayern: Deutschland: 2. 120.258 1.636.823 Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung Eine steigende Inanspruchnahme verzeichnen auch in Bayern die Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung26. Für die Altersgruppe der Personen mit 65 Jahren und älter stieg der Anteil der Grundsicherungsbezieher an der Gesamtgruppe in Bayern von 1,8 Prozent im Jahr 2003 auf 2,6 Prozent im Jahr 201327. Bei Frauen ab 65 Jahren lag der Wert zum Jahresende 2013 bei 2,9 Prozent, bei Männern bei 2,3 Prozent28. Empfänger von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung in Bayern: (Quelle: Statistisches Jahrbuch für Bayern 2010 bis 2014) 31.12.2008 88.570 31.12.2009 88.793 31.12.2010 91.828 31.12.2011 98.504 31.12.2012 106.008 31.12.2013 114.014 26 Sozialbericht Bayern 2012, S. 203 f. Sozialbericht Bayern 2014, S. 216. 28 Sozialbericht Bayern 2014, S. 216. 27 17 VII. Arm trotz Arbeit 1. Wenn der Lohn zum Leben nicht reicht Über 1,2 Millionen Menschen waren im April 2015 in Deutschland „beschäftigte Leistungsbezieher“ im Rahmen der Grundsicherung des SGB II. Dies bedeutet, dass sie zum Leistungsbezug in der Grundsicherung berechtigt waren, obwohl sie gleichzeitig in einem sozialversicherungspflichtigen oder geringfügig entlohnten Beschäftigungsverhältnis standen. Es kommt zu dem volkswirtschaftlich wie sozialpolitisch ebenso fragwürdigen wie für die Betroffenen entwürdigenden Zustand, dass im Einzelfall selbst der Lohn aus einer Vollzeitberufstätigkeit ohne „Aufstockung“ mit Leistungen nach „Hartz IV“ nicht ausreicht, das eigene Auskommen zu sichern. Zahl der „Aufstocker“ bei „Hartz IV“ in Bayern: (April 2015; Quelle: Bundesagentur für Arbeit) Die Zahl der „Aufstocker“ beträgt für Bayern insgesamt: 87.076 Sozialversicherungspflichtig beschäftigte Leistungsbezieher im Rahmen des SGB II sind in Bayern: 43.201 Von sozialversicherungspflichtig beschäftigten Leistungsbeziehern sind Frauen unter 25-Jährige Ausländer 61,1 Prozent 9,2 Prozent 36,6 Prozent Ausschließlich geringfügig entlohnt sind beschäftigte Leistungsbezieher nach dem SGB II in Bayern: 37.207 Einer selbstständigen Erwerbstätigkeit gehen von den Leistungsbeziehern nach in Bayern: 7.510 18 2. Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt Die sich verschärfende Problematik einer Armutsgefährdung trotz Erwerbstätigkeit zeigt sich an den Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt in Bayern. Dieser ist von einer stetigen Zunahme atypischer, jedenfalls zum Teil prekärer Beschäftigungsformen gekennzeichnet29. Die Zahl der atypisch Beschäftigten ist in Bayern zwischen 2001 und 2013 von 24 Prozent auf 36 Prozent gestiegen30. Während das Normalarbeitsverhältnis durch eine abhängige, sozialversicherungspflichtige und unbefristete Vollzeitbeschäftigung gekennzeichnet ist, werden unter atypischer Beschäftigung solche Beschäftigungsformen bezeichnet, die hiervon abweichen. Erfasst sind insbesondere befristete oder in Teilzeit erbrachte Beschäftigungen, Leiharbeit und geringfügige Beschäftigungsverhältnisse („Mini-Jobs“)31. Leiharbeit Im Januar 2012 gab es in Bayern rund 163.000 Leiharbeiter. Dies entspricht einer Steigerung von fast 20 Prozent im Vergleich zu Januar 2011. Der Anstieg war in Bayern deutlich stärker als in anderen Regionen Deutschlands (durchschnittliche Steigerung: 12,8 Prozent). In Bayern gab es damit im Januar 2012 rund 40.000 Leiharbeitnehmer mehr als vor der Wirtschaftskrise 200932. Befristete Arbeitsverhältnisse Im Jahr 2012 hatten im Freistaat Bayern gut 12 Prozent der abhängig Beschäftigten einen befristeten Arbeitsvertrag. Jeder achte bayerische Beschäftigte war deshalb in einem befristeten Arbeitsverhältnis. Geradezu erschreckend ist, dass bei den 15- bis unter 25-Jährigen knapp die Hälfte (48 Prozent) und ohne Berücksichtigung von Ausbildungsverträgen, Praktika etc. noch etwa ein Viertel (knapp 23 Prozent) in befristeter Beschäftigung standen33. Die Zahl der befristeten Beschäftigten ist im Freistaat Bayern von 219.000 im Jahr 2001 auf 322.000 im Jahr 2010 gestiegen34. 2011 lag die Zahl bereits bei 373.00035. 29 DGB Bayern (Hrsg.), Report Prekäre Beschäftigung in Bayern, Jung, Weiblich, Alt, München 2012, S. 11 ff. 30 Sozialbericht Bayern 2014, S. 141. 31 Sozialbericht Bayern 2012, S. 314; Sozialbericht Bayern 2013, S. 107 f. 32 Mitteilung des DGB Bayern vom 31. Januar 2012 unter Berufung auf die ArbeitnehmerüberlassungStatistik der BA. 33 Mitteilung des Bayerischen Landesamtes für Statistik und Datenverarbeitung vom 29. Juli 2014. 34 DGB Bayern (Hrsg.), Prekäre Beschäftigung in Bayern, S. 14. 35 Sozialbericht Bayern 2012, S. 315. 19 Minijobs Die Zahl der Minijobber ist in Bayern von 10 Prozent der Beschäftigten im Jahr 2001 auf 12 Prozent der Beschäftigten im Jahr 2010 angestiegen36. Im Mai 2012 erreichte die Zahl der Minijobber in Bayern den Rekordwert von 1.231.000. 743.000 Menschen übten ihren Minijob als Haupterwerb aus37. Bei diesen ausschließlich geringfügig verdienenden Personen liegt das Verhältnis von Frauen und Männern bei 70:3038. Teilzeit Der Sozialbericht Bayern 2014 gibt eine Teilzeitquote für Bayern von 25,7 Prozent im Jahr 2013 (gegenüber rund 16 Prozent in 2003/2004) wieder.39 Nach einer Erhebung der Hans-Böckler-Stiftung ist nahezu eine Verdopplung der Teilzeitbeschäftigten von 690.548 in 2003 auf 1.266.080 in 2014 für Bayern zu verzeichnen40. Der Sozialbericht Bayern 2014 gibt einen aktuellen Überblick über die Anteile „besonderer Beschäftigungsformen“ an der Gesamtbeschäftigung in Bayern und zeigt dabei deren Veränderungen, insbesondere Zuwächse seit 200141. entnommen aus: Sozialbericht Bayern 2014, S. 142. 36 Sozialbericht Bayern 2011, S. 128. Mitteilung des DGB Bayern vom 2. Mai 2012. 38 Sozialbericht Bayern 2012, S. 317. 39 Sozialbericht Bayern 2014, S. 143. 40 Hans-Böckler-Stiftung (Hrsg.), Atypische Beschäftigung in Bayern, Düsseldorf 2015, S. 2. 41 Sozialbericht Bayern 2014, S. 142. 37 20 3. Verfestigung von Langzeitarbeitslosigkeit Nach einem Rückgang in der „Phase des allgemeinen Beschäftigungszuwachses in Deutschland in den Jahren 2008 bis 2012“42 war mit 2013 ein Ansteigen der Langzeitarbeitslosigkeit, d.h. einer längeren Beschäftigungslosigkeit als ein Jahr, in Bayern zu verzeichnen.43 Im November 2015 waren 53,1 Prozent (124.041) der Arbeitslosen in Bayern Bezieher von Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II44. Davon waren nach Angaben der Regionaldirektion Bayern45 51.971 Personen von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen. Im Februar 2013 lag die Zahl bei 51.877 Personen46. Im Rechtskreis des SGB III sank die Zahl der Langzeitarbeitslosen im gleichen Zeitraum von 13.944 auf 11.43747. Die Bezieher von Leistungen aus dem Rechtskreis SGB II leiden entweder unter einer sich verstetigenden Langzeitarbeitslosigkeit oder sie verfügten vor dem Eintritt der Arbeitslosigkeit über eine so kurze Beschäftigungsdauer, dass sie keine Berechtigung auf Leistungen des Arbeitslosengeldes I erworben hatten. 4. Die volkswirtschaftlichen Kosten Für die Aufstockungsleistungen von erwerbsfähigen Hilfebedürftigen, die einer Beschäftigung nachgehen, sind erhebliche Mittel aufzuwenden. Nach Angaben des DGB summierten sich die Ausgaben für Hartz IV-Aufstocker mit sozialversicherter Beschäftigung in Bayern im Jahr 2010 auf knapp 300 Millionen Euro48. Alleine für die Aufstockung des Lohnes von sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigten waren im Jahr 2010 etwa 175 Millionen Euro im Freistaat aufzuwenden49. 42 Rolf Holtzwart, Chancen für Langzeitarbeitslose, Bayerische Sozialnachrichten 2/2014, S. 10; Sozialbericht Bayern 2013, S. 168. 43 Holtzwart a.a.O. 44 Bundesagentur für Arbeit, Arbeitsmarkt in Zahlen, Eckwerte des Arbeitsmarktes im Rechtskreis SGB II, November 2015. 45 Eckwerte des Arbeitsmarktes im Rechtskreis SGB II, November 2015. 46 Holtzwart, Bayerische Sozialnachrichten 2/2014, S. 10. 47 Holtzwart, a.a.O.; Bundesagentur für Arbeit, Arbeitsmarkt in Zahlen, Eckwerte des Arbeitsmarktes im Rechtskreis SGB III, November 2015. 48 Mitteilung des DGB Bayern vom 28. Juni 2012. 49 Mitteilung des DGB Bayern vom 29. Februar 2012. 21 VIII. Altersarmut 1. Bayerns Ältere überdurchschnittlich von Armut bedroht Der Sozialbericht Bayern 2014 zeigt, dass Ältere in Bayern überdurchschnittlich von Armut betroffen sind50. So beträgt die Armutsgefährdungsquote (jeweils 2013) für Bevölkerung insgesamt 14,6 Prozent 65-Jährige und älter 22,4 Prozent 65-Jährige und älter, Frauen 25,1 Prozent 65-Jährige und älter, Männer 19,0 Prozent Rentnerinnen und Rentner 26,6 Prozent Der Vergleich mit den Zahlen des Sozialberichts Bayern 2012 für 2010 bestätigt eine Verschärfung der Situation der Rentnerinnen und Rentner51. entnommen aus: Sozialbericht Bayern 2012, S. 348. 50 51 Sozialbericht Bayern 2014, S. 70, 73 . Sozialbericht Bayern 2012, S. 92, 348; Materialienband, S. 55 f. 22 2. Rentnerinnen und Rentner als Wohlstandsverlierer Rentnerinnen und Rentner gehören zu denjenigen, an denen die positive Entwicklung in Bayern bereits vor der Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2008 wie kaum an einer anderen Bevölkerungsgruppe vorbei gegangen war. Seit 2004 führten erhöhte Zuzahlungen in der gesetzlichen Krankenversicherung, gestiegene Sozialversicherungsbeiträge und Kaufkraftverlust infolge unterbliebener Rentenerhöhungen zu drastischen Mehrbelastungen der Rentnerinnen und Rentner. Für den Zeitraum 2000 – 2012 betrug der Kaufkraftverlust neuer Altersrenten in Bayern ca. 19 Prozent52. Bereits die Höhe der derzeit bezogenen staatlichen Rente (sog. „Bestandsrente“) erweist sich in vielen Fällen nicht als armutsfest. Bayern verzeichnet hier bei der Altersrente nach wie vor einen Rückstand gegenüber dem westdeutschen Durchschnitt und liegt deutlich unter den Werten des Bundesdurchschnitts53. Der Sozialbericht Bayern 2014 gibt den durchschnittlichen monatlichen Zahlbetrag bei den Altersrenten im Rentenbestand in Bayern für das Jahr 2013 mit 752 Euro an, bei einem Durchschnittswert in Westdeutschland von 773 € (Deutschland gesamt: 800 €)54. Der Bericht beziffert die durchschnittlichen Zahlbeträge neuer Versichertenrenten55 bei den Altersrenten 2013 in Bayern auf 740 Euro sowie in Westdeutschland auf 758 Euro (Bundesrepublik Deutschland: 774 Euro). Dabei zeigt sich eine deutliche regionale Differenzierung der Zahlbeträge. 56 52 Sozialbericht Bayern 2013, S. 92. Sozialbericht Bayern 2013, S. 87 f; Sozialbericht 2014, S. 101. 54 Sozialbericht Bayern 2014, S. 101 und Materialienband S. 50. 55 Brutto (d.h. ohne Berücksichtigung von Beiträgen zur Kranken- und Pflegeversicherung) ausbezahlte Rente für solche Rentenempfänger, die im jeweiligen Jahr erstmals eine Rente bezogen haben (vgl. Sozialbericht Bayern 2010, S. 98). 56 Sozialbericht Bayern 2014, S. 101 und Materialienband S. 57; vgl. auch DGB Bayern, Rentenreport Bayern 2014, München 2014, S. 16 ff. 53 23 entnommen aus: Sozialbericht Bayern 2014, Materialienband, S. 57. Die nachfolgende Übersicht belegt – neben der überaus prekären Situation der Bezieher von Erwerbsminderungsrenten – die unverändert greifbaren Differenzierungen der Zahlbeträge zwischen den Geschlechtern in Bayern (alle Angaben für 2013). Rentenarten Frauen Männer 686 754 Bestandsrenten wg. Alters 539 1.035 Rentenzugang wg. Erwerbs- 595 692 529 949 Bestandsrenten wg. Erwerbsminderung minderung Rentenzugang Altersrente eigene Darstellung nach Sozialbericht Bayern 2014, S. 104 und Materialienband S. 56, M 2.64, S. 57, M 2.65. Altersarmut ist also auch in Bayern überwiegend weiblich. 24 3. Ursachen von Altersarmut Die Hauptursachen für Armut im Alter sind leicht zu benennen. Sie liegen zum einen in der von der Politik mit Hinweis auf „die demographische Entwicklung“ bewusst herbeigeführten Absenkung des Renteniveaus (im Jahr 2030 auf ein Nettorentenniveau vor Steuern von nur noch 43 Prozent)57. Hinzu treten Fortwirkungen der Verwerfungen des Arbeitsmarktes und der Beschäftigungsverhältnisse. Niedrige Altersrenten sind eine Folge - zunehmender Einkommensarmut in den Zeiten der Berufstätigkeit wegen niedriger (Real-)Löhne - der Abdrängung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in sozialversicherungsfreie bzw. geringfügig entlohnte Beschäftigungsformen - einer hohen Arbeitslosigkeit allgemein individuell vermehrt auftretender Zeiten ohne Beschäftigung; waren „gebrochene Erwerbsbiographien“ bislang typisch für Frauen, werden sie immer mehr zum allgemeinen Phänomen des „modernen“ Arbeitslebens. Altersarmut entsteht aber auch durch unzureichende Leistungen der Pflegeversicherung. Hatte die Einführung der Pflegeversicherung 1995 die Sozialhilfebedürftigkeit erheblich reduziert, so ist infolge der bis Mitte 2008 unterbliebenen und im Übrigen nicht ausreichenden Anpassung der Versicherungsleistungen wieder eine steigende Tendenz festzustellen. In den Altenhilfeeinrichtungen der Arbeiterwohlfahrt in Bayern spiegelt sich die Lage wider. So waren zum 15. Dezember 2012 in den Einrichtungen der AWO in Bayern bereits über 35 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner auf den Bezug von Hilfe zur Pflege angewiesen. Den höchsten Wert erreicht der Regierungsbezirk Oberbayern mit 41 Prozent. 57 AWO-Bundesverband e.V., Rentenkürzungen stoppen, Altersarmut verhindern, Lebensstandard sichern! Forderungen der Arbeiterwohlfahrt nach mehr Solidarität in der Alterssicherung, Berlin 2014, S. 5 f.; der Sozialbericht Bayern 2009, S. 537, errechnet ein 10 Prozent niedrigeres Rentenniveau bis 2021 im Verhältnis zu 2007. 25 Empfänger von Hilfe zur Pflege in Bayern: (Quelle: Statistische Jahrbücher für Bayern 2009 – 2014) 31.12.2007 35.131 31.12.2008 35.294 31.12.2009 36.830 31.12.2010 37.907 31.12.2011 39.769 31.12.2012 40.230 31.12.2013 38.972 Die steigende Sozialhilfebedürftigkeit belastet nicht nur die Sozialhilfeträger. Davor steht die Inanspruchnahme der Angehörigen. So führen steigende Aufwendungen für Pflegeleistungen nicht nur zu zunehmender Altersarmut sondern sind ein ernst zu nehmendes Thema auch in Bezug auf die finanzielle Situation der Familien in Bayern. Mit der Altersarmut droht die Familienarmut. 26 IX. Bayerns neue Wohnungsarmut 1. Bayern gehen die Wohnungen aus Zu einer Achillesferse des Sozialen Bayerns hat sich die Wohnraumsituation entwickelt. Im Sozialbericht Bayern 2012 räumt die Staatsregierung die Probleme bei der Wohnraumversorgung in Bayern ein58. Die Ausführungen belegen, dass eine Entlastung des Wohnungsmarktes aufgrund des demografischen Wandels in Bayern in absehbarer Zeit nicht in Sicht ist. Aufgrund zurückgehender Haushaltsgrößen geht die Staatsregierung bis 2029 von einer Zunahme der Zahl der Haushalte um 6% aus, während die Bevölkerungszahl nur um 0,3% zunehmen soll59. „Damit sich die Wohnungsmarktanspannungen nicht noch weiter verstärken“ legt der Dritte Bayerische Sozialbericht (bezogen auf Ende 2011) einen Neubaubedarf bis zum Jahr 2029 von 833.000 Wohnungen in Bayern zugrunde60. Weil auch in der Vergangenheit die Neubautätigkeit stets unter dem tatsächlichen Bedarf lag, gibt der Dritte Bayerische Sozialbericht darüber hinaus einen Nachholbedarf von rund 282.000 Wohnungen an61. Die Staatsregierung hält damit bis 2029 einen Gesamtbedarf von 1.115.000 Wohnungen für gegeben. Der Sozialbericht Bayern 2012 unterstellt damit eine erforderliche Anzahl neu fertig gestellter Wohnungen in Bayern von rund 62.000 (61.944) pro Jahr. Angesichts der Entwicklung der letzten Jahre, die der Bericht einräumt, erscheint dies illusorisch. 58 Sozialbericht Bayern 2012, S. 162 f. Sozialbericht Bayern 2012, S. 163. 60 Sozialbericht Bayern 2012, S. 163. 61 Sozialbericht Bayern 2012, S. 163. 59 27 Die Staatsregierung gibt an62: Neubaubedarf Bayern 2010 41.000 - 48.000 Wohnungen Tatsächliche Baufertigstellungen 2010 33.137 Wohnungen Tatsächliche Baufertigstellungen 2011 42.204 Wohnungen Die Wohnungsbauprognose der empirica AG im Rahmen des Wohnungsmarktberichts 2014 beziffert den jährlichen Neubaubedarf für Bayern für die Jahre 2012 bis 2016 sogar auf 72.000 Wohnungen p.a.63 2. Wer wenig hat, zahlt mehr Die zunehmende Wohnungsknappheit verschärft die negativen Wirkungen der Wohnkosten gerade für Gering- und Mittelverdiener. Der Sozialbericht Bayern 2012 ermittelt die Wohnkostenbelastung für die Warmmiete im Landesdurchschnitt für Bayern auf 27% des Netto-(äquivalenz-)einkommens. Dabei zeigt sich, dass gerade Geringverdiener unter einer extrem höheren anteiligen Kostenbelastung beim Wohnraum leiden. So beträgt die Einkommensbelastung für das Wohnen bei Geringverdienern mit einem Nettoeinkommen unter 1.000,00 Euro pro Monat 43% des Nettoeinkommens, d. h. 60% mehr als im Landesdurchschnitt. Im Vergleich mit Einkommensbeziehern zwischen 2.500,00 bis 3.000,00 Euro pro Monat (Wohnkostenbelastung bei 16%) müssen Geringverdiener mehr als den doppelten Anteil ihres Einkommens für ihren Wohnraum aufwenden, im Vergleich zur Einkommensgruppe ab 3.000,00 Euro (13%) mehr als das Dreifache64. 62 Sozialbericht Bayern 2012, S. 163. Bayerische Landesbodenkreditanstalt (Hrg.), Wohnungsmarkt Bayern 2014, München 2015, S. 153. 64 Sozialbericht Bayern 2012, S. 243. 63 28 Wohnkostenbelastung für Mieter in Bayern 2008 entnommen aus: Sozialbericht Bayern 2012, S. 243. 29 Insbesondere Gering- und Mittelverdienende, Alleinlebende Frauen und Alleinerziehende mit Kindern und Ältere sind damit die Verlierer der Bayerischen Wohnungspolitik. Sie können sich immer öfter keine angemessene Wohnung leisten. 3. Sozialer Wohnungsbau in Bayern – vom Aussterben bedroht Angesichts dieser Entwicklungen besonders dramatisch ist die Entwicklung im Bereich Sozialwohnungen. Die Staatsregierung räumt im Sozialbericht Bayern 2012 ein, dass sich „der Bestand der sozial gebundenen Mietwohnungen … kontinuierlich (vermindert)“65. Nach den Angaben bewohnen 5% aller bayerischen Haushalte bzw. 9% der Mieterhaushalte eine Sozialwohnung. Die Staatsregierung gibt den Bestand an Sozialwohnungen 2010 mit 160.000 Wohnungen an66. Aufgrund des Auslaufens der Bindungen erwartet sie „ohne Berücksichtigung des Zugangs neu geförderter Wohnungen“ bis 2020 einen Rückgang der Zahl der Sozialwohnungen um 30%, d. h. auf nur noch 112.000. Dem gegenüber hat aktuell das Pestel Institut den Bedarf an Mietsozialwohnungen in Bayern auf 569.000 beziffert. Selbst unter Herausrechnen des Bedarfs in ländlichen Räumen wegen der dort zu verzeichnenden grundsätzlich niedrigeren Miethöhe sieht das Pestel Institut für Bayern einen wirksamen Bedarf von 391.000 Sozialwohnungen67. 65 Sozialbericht Bayern 2012, S. 163. Sozialbericht Bayern 2012, S. 163. 67 Pestel Institut, Bedarf an Sozialwohnungen in Deutschland, Untersuchung im Auftrag der Wohnungsbauinitiative, Hannover August 2012 (S. 9 ff.) 66 30 4. Wohnungslosigkeit – (k)ein Thema im reichen Bayern Bis heute fehlt in Bayern eine amtliche Statistik über Wohnungslosigkeit. Die Sozialberichterstattung in Bayern war deshalb auf Schätzungen bzw. punktuelle Zahlen von Städten und aus dem Kreis der Freien und Öffentlichen Wohlfahrtspflege angewiesen. Bereits danach zeigte sich, dass auch im reichen Bayern das Thema Wohnungslosigkeit existiert, aber noch zu wenig politische Konsequenzen nach sich zieht. So war allein für die Verdichtungsräume München, Nürnberg-Fürth-Erlangen und Augsburg dem Sozialbericht Bayern 2012 eine Zahl von zumindest 5.000 wohnungslosen Menschen zu entnehmen68. Auf das Drängen der Wohlfahrtsverbände – insbesondere der Arbeiterwohlfahrt69 – hin, kam es für den Sozialbericht 2014 zu einer ersten „flächendeckenden Piloterhebung“ zur Wohnungslosigkeit in Bayern70. Dabei wurde zum Stichtag 30.09.2014 eine Befragung von 2.056 bayerischen Kommunen, 312 Verwaltungsgemeinschaften und 166 Einrichtungen Freier Träger der Wohnungslosenhilfe in Bayern durchgeführt. Laut dem Sozialbericht Bayern 2014 seien Rückäußerungen von kommunaler Seite erfolgt, die 98,9 Prozent der Bevölkerung auf sich vereinen71. Andererseits erfasst die Abfrage ausdrücklich nur Personen, die zum Stichtag „in (Not-)Unterkünften untergebracht waren. Obdachlose Personen, die keine Notunterkunft nutzen“, wurden erfasst, soweit sie bei Freien Trägern „anderweitige Dienste in Anspruch nahmen“. Nicht erfasst wurden indes „Personen in unzumutbaren Wohnverhältnissen oder mit drohender Wohnungslosigkeit, denen der Verlust der derzeitigen Wohnung bevorsteht“72. Trotz dieser folglich engen Bestimmung des Personenkreises zählt der Sozialbericht Bayern 201473 noch 12.053 wohnungslose Personen in Bayern zum 30.06.2014. 68 Sozialbericht Bayern 2012, S. 164, 247 f. Vgl. Beschluss Nr. 1.3 der AWO Landeskonferenz 2012. 70 Sozialbericht Bayern 2014, S. 262 ff. 71 Sozialbericht Bayern 2014, S. 263. 72 Sozialbericht Bayern 2014, S. 262. 73 Sozialbericht Bayern 2014, S. 265. 69 31 Angesichts der Nichterfassung unmittelbar von Wohnungslosigkeit bedrohter Menschen ist hervorzuheben, dass laut der „Piloterhebung“ zum Stichtag weitere 3.716 Klientinnen und Klienten sich in einem laufenden Beratungsprozess bei Einrichtungen der Freien Träger der Wohnungslosenhilfe befanden74. Schon 2011 berieten und betreuten die bayernweit 13 Präventionsstellen zur Vermeidung von Obdachlosigkeit in Trägerschaft der Verbände der Freien Wohlfahrtspflege 5.176 Ein- und Mehrpersonenhaushalte75. Sie trugen durch ihre erfolgreiche Arbeit in vielen Fällen zu Vermeidung des Wohnungsverlustes bei, minderten dadurch persönliches Leid und Existenzängste und reduzierten zudem die Folgekosten von Kündigungen von Mietverhältnissen für Mieter, Vermieter und Kommune erheblich. Die Fachstelle zur Verhinderung von Obdachlosigkeit (FOL), die der Kreisverband München Land der Arbeiterwohlfahrt im Auftrag des Landkreises München betreibt, meldet in ihrem Jahresbericht 2014 mehr als 7.400 betreute Haushalte seit ihrer Gründung 200776, und das im sogenannten „Speckgürtel“ der Landeshauptstadt. 5. Handlungsanforderung an die Politik in Bayern • Die Bayerische Staatsregierung muss sich in Umkehr ihrer bisherigen Politik zur Förderung des Sozialen Wohnungsbaus bekennen und dafür die erforderlichen Rahmenbedingungen schaffen. • Es bedarf Anreizen, die Neubautätigkeit im Mietwohnungsbau in Bayern zu erhöhen, ohne dass dies zu noch stärker steigenden Mietpreisen führen darf. • Die Wohnungspolitik muss sich gezielt für eine Verbesserung der Chancen bislang sozial und wirtschaftlich benachteiligter Haushalte und Personengruppen auf dem Wohnungsmarkt einsetzen. • Angebote an präventiven Hilfen zur Verhinderung des Verlusts der Wohnung sind auszubauen und flächendeckend zu entwickeln. 74 Sozialbericht Bayern 2014, S. 265. Sozialbericht Bayern 2012, S. 165. 76 Wohnungsnotfallhilfe/FOL, Jahresbericht 2014, München 2015, S. 6. 75 32 Eine aussagekräftige landesweite Wohnungsnotfallstatistik ist endlich einzu- • führen. Dabei sind die Kommunen und die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege mit ihren Einrichtungen und Diensten einzubeziehen. X. Vermögen und Einkommen in Bayern immer ungleicher verteilt 1. Bayern ist ein reiches Land Der Sozialbericht Bayern 2012 zeigt: Bayern ist ein reiches Land – reicher noch als der Durchschnitt der Bundesländer. Das Nettovermögen an Geld, d. h. nach Abzug der Verbindlichkeiten, beträgt danach77: Bayern 61.200 Euro Westdeutschland 54.400 Euro Bundesrepublik Deutschland 49.100 Euro Kennzeichnend für die Situation in Bayern ist weiterhin, dass hier mehr Haushalte Immobilienvermögen in Form selbstgenutzten Wohneigentums besitzen78. 77 78 Haushalte Bayern 47,3 Prozent Haushalte Bundesrepublik Deutschland 44,8 Prozent Sozialbericht Bayern 2012, Materialienband, S. 62, Durchschnittsbeträge über alle Haushalte. Sozialbericht Bayern 2012, Materialienband, S. 60. 33 2. Geld- und Immobilienvermögen in Bayern – extrem unterschiedlich verteilt Die Verteilung des Nettogesamtvermögens (Geld- und Immobilienvermögen, ohne Betriebsvermögen) in Bayern zeigt extreme Unterschiede79. entnommen aus: Sozialbericht Bayern 2012, S. 213. Die Übersicht belegt auch, dass in den Jahren 2003 – 2008 gerade die Gruppe der niedrigeren Vermögensinhaber überproportional am realen Wert ihres Vermögens verloren hat bzw. deren Verschuldung noch gewachsen ist. Die Verteilung des Vermögens in Bayern hat sich also in diesem Zeitraum weiter zu Lasten der kleinen Vermögen und deutlich zugunsten der großen Vermögen ungleich entwickelt. Der Sozialbericht Bayern 2012 spricht80 selbst von einer „zunehmende(n) Ungleichheit der Vermögensverteilung“. 79 80 Sozialbericht Bayern 2012, S. 212 f., Angaben jeweils bezogen auf die Person. Sozialbericht Bayern 2012, S. 213. 34 entnommen aus: Sozialbericht Bayern 2012, S. 213. 3. Oligarchie der Besitzenden – und das Betriebsvermögen ist noch unberücksichtigt Demnach besitzt also eine kleine Minderheit die Mehrheit des Gesamtvermögens im Freistaat: Die vermögendsten 10 Prozent der Bevölkerung verfügen mit 46,7 Prozent fast über die Hälfte des Gesamtvermögens in Bayern, die „oberen“ 20 Prozent gemeinsam sogar über rund zwei Drittel des gesamten Vermögens in Bayern81. Die bittere Kehrseite der Bilanz: 30 Prozent der Haushalte in Bayern haben zusammen nicht einmal 1 Prozent des Gesamtvermögens im Freistaat in Händen. Dabei vermittelt der Sozialbericht Bayern 2012 sogar noch ein beschönigendes Bild der wirklichen Lage. So bleibt in der der Auswertung zugrundeliegende Methodik der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) das Betriebsvermögen, d. h. der Besitz von bzw. die Beteiligung an Betriebsvermögen unberücksichtigt82. 81 82 Sozialbericht Bayern 2012, S. 212 f. Sozialbericht Bayern 2012, S. 210. 35 4. Wer hat, dem wird gegeben Indem der Sozialbericht Bayern 2012 festhält83, die Nettogesamtvermögen (ohne Betriebsvermögen) seien „sehr viel ungleicher verteilt … als die Einkommen“, vermag er die Diskrepanz der Einkommenssituation nicht zu überspielen. Zwar erreicht das unterste Einkommensdezil einen Anteil am Nettogesamteinkommen von knapp 4 Prozent, obwohl das unterste Vermögensdezil einen negativen Anteil am Nettogesamtvermögen aufweist. Dass demgegenüber dem obersten Vermögensdezil einem Anteil von 46,7 Prozent „nur“ ein Einkommensdezil von 23 Prozent entspricht, die 10 Prozent der Bezieher mit dem höchsten Einkommen auf sich folglich fast ein Viertel des Nettogesamteinkommens vereinigen, belegt die These einer zunehmenden Ungleichheit auch der Einkommen vielmehr nachdrücklich. entnommen aus: Sozialbericht Bayern 2012, S. 212. Stand: Januar 2016 83 Sozialbericht Bayern 2012, S. 212. 36
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