Gastbeitrag von Dr. Hans Buchner

Newsletter für Engagement und Partizipation in Europa
2/2016
Dr. Hans Buchner
Wie lebendig ist die Koreanische Zivilgesellschaft?
Die Demokratie in der Republik Korea (Südkorea) ist jung. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und damit auch der japanischen Okkupation übernahmen Diktatoren mit Duldung und
teilweise Unterstützung der Amerikaner die Macht. Park Chung-hee, der Vater der jetzigen
Präsidentin, erzielte zwar einen rasanten Wirtschaftaufschwung (Korea als einer der „kleinen
Tiger“), missachtete aber sämtliche Menschenrechte. Nach seiner Ermordung im Oktober
1979 kam es landesweit zu Protestmärschen und Streiks. Als im Mai 1980 in Gwangju mehrere Tage lang Hunderttausende Demokratie, bessere Arbeits- und Lebensbedingungen, Versammlungs- und Organisationsfreiheit forderten, wurde dieser Volksaufstand brutal niedergeworfen und ein Massaker angerichtet. Danach folgte eine „bleierne Zeit“ – erst 1987 gab
es wieder erste Erfolge der Demokratiebewegung. Und 1993 kam der erste demokratisch
gewählte Präsident Kim Young-sam (+ 2015) ans Ruder.
Das Massaker von Gwangju bildete letztlich den Auslöser für das Ende der Diktatur, die Proteste kann man als Vorläufer einer lebendigen Zivilgesellschaft sehen. Immer wieder gab es
seither landesweite und auch international beachtete Demonstrationen zugunsten der Menschenrechte oder für die Erhaltung des Naturerbes. Einer der wichtigsten Proteste fand 2011
auf der Ferien- und Hochzeitsinsel Jeju statt, als die Marine den Bau einer Basis für zwanzig
Kriegsschiffe (einschließlich U-Booten) und zwei Luxuslinern mitten in einem ökologisch sensiblen Naturreservat mit Korallenbänken und einem intakten ländlichen Umfeld ankündigte.
Bereits im Januar des Jahres begannen die Bauarbeiten – die lokale Bevölkerung protestierte
mit Blockaden, Zeltlagern, Hungerstreiks und einem theologischen Seminar. Die Regierung
unter dem Präsidenten Lee Myung-bak (Spitzname „der Bulldozer“) reagierte mit der Verlegung von 1 200 Polizisten (500 davon vom Festland), Festnahmen und Anklagen. Bemerkenswert waren hier die Unterstützung der Protestierenden durch eine internationale Friedensorganisation, die mit einigen koreanischen Teilnehmern der Proteste vernetzt war, eine
Grußadresse der japanischen Insel Okinawa und Protestschreiben u.a. aus Deutschland, wo
Informationen an Interessenten verteilt wurden.Sorgen um die Wirtschaft und damit um den eigenen Wohlstand führten bereits 2008 zu den
sogenannten „Kerzenlichtprotesten“. Tausende Koreaner ließen sich nach der Arbeit nachts
an zentralen Plätzen der Städte nieder; jeder hatte eine angezündete Kerze vor sich. Grund
war die Wiederaufnahme der Rindfleischimporte aus den USA – die Angst, über den Tisch
gezogen zu werden, löste die Proteste aus - Parallelen zu TTIP sind deutlich. Von Mai bis AnSeite 1 von 5
fang Juli 2008 wurde fast täglich demonstriert. Während der weitgehend friedlichen Proteste
schlugen einige Polizisten Teilnehmer mit Knüppeln und setzten aus nächster Nähe Wasserwerfer ein. Die Folge: Knochenbrüche, Gehirnerschütterungen, vorübergehende Erblindung
und Trommelfellrisse.
Streiks bilden eine Begleiterscheinung funktionierender Demokratien. In Südkorea gab es sie
seit Kim Dae-jungs Amtsantritt 1998 häufig, obwohl der Präsident und sein Nachfolger Roh
Moo-hyun arbeiterfreundlich waren. Die Defizite bei den Arbeitsbedingungen und –rechten
aus der Vergangenheit erwiesen sich als zu massiv. Da aber Erfahrungen aus früheren Arbeitskämpfen fehlten, verliefen diese nun oft chaotisch und noch viel gewalttätiger als im
letzten Absatz geschildert: Pflastersteine und Eisenstangen auf Seiten der Demonstranten,
Wasserwerfer, Tränengas, Gummigeschosse und Schlagstöcke bei der Polizei verursachten
immer wieder ernste Verletzungen. Während die Proteste, die aus der Bevölkerung heraus
entstehen, zunehmend friedlicher ablaufen (aber nicht immer: s.f.), hat die Polizei ihre Methoden in der Zwischenzeit nicht nur bei Streiks kaum zurückgefahren:
Im November/ Dezember vergangenen Jahres fanden die größten Antiregierungsdemonstrationen seit acht Jahren statt, über 60 000 Menschen marschierten durch die Innenstadt von
Seoul. Manchmal gab es annähernd gleichzeitig fünf Demonstrationen. Die zwei größten
führten die Bauernvereinigung und eine der Gewerkschaften durch. Ein Teilnehmer der ersten Aktion, ein 69-jähriger Bauer, liegt wegen der Attacke eines Wasserwerfers seither im
Koma, ein Anführer der zweiten wurde verhaftet. Das belegt das unverhältnismäßig harte
Vorgehen der Polizei auch bei friedlichen Aktionen und zudem die wieder zunehmende Behinderung der Gewerkschaften durch die jetzige Präsidentin. Der internationale Gewerkschaftsbund zählt Südkorea zu denjenigen Ländern, in denen die Rechte von Arbeitnehmern
am stärksten missachtet werden. Arbeiter seien „systematisch ungerechten Entlassungen,
Einschüchterungen, Verhaftungen und Gewalt“ ausgesetzt.
Ganz andere Anliegen der Zivilgesellschaft wurden bei den drei übrigen Demonstrationen
deutlich. Die sog. „Trostfrauen“, von denen im Zweiten Weltkrieg mindestens 200 000 in
japanische Militärbordelle verschleppt worden waren, kämpfen seit zwei Jahrzehnten für ein
aufrichtiges Schuldeingeständnis der Japaner („das Gesicht“ wiedergewinnen, d.h. die Ehre
steht in Ostasien ganz obenan) und für eine angemessene Entschädigung. Ihr Kampf fand
zunehmend Beachtung in Korea und – dank verschiedener Organisationen in Korea und rund
um die Welt – auch international Unterstützung. Die kürzliche Vereinbarung der beiden Regierungschefs Abe und Park ist für die Betroffenen wie auch für die meisten Koreaner nicht
akzeptabel. Im Januar traten etwa 25 aus Korea angereiste junge Leute in verschiedenen
Ländern Europas öffentlich auf, um das Thema auch hier bekannt zu machen und Unterschriften gegen die Vereinbarung der beiden Politiker zu sammeln.Auch das Thema, in den Oberschulen nur noch staatliche Schulbücher zuzulassen und diese
umzuschreiben (die Diktatur, in der der Vater der jetzigen Präsidentin die führende Rolle
einnahm, soll in einem positiveren Licht erscheinen), erregt viel Unmut.- Schließlich schoSeite 2 von 5
ckiert große Teile der Bevölkerung der Umgang der Regierung mit dem Untergang der Fähre
Sewol im April 2014; 304 Passagiere, überwiegend Schüler, kamen dabei ums Leben. Die
Präsidentin war nach dem Unglück längere Zeit nicht auffindbar. Am ersten Jahrestag traf sie
nicht die Angehörigen, sondern brach zu einer Südamerikareise auf. Vor allem jedoch wird
die Untersuchung der Unglücksursachen systematisch verschleppt. Nur die unmittelbar Beteiligten (z.B. der Kapitän) kamen vor Gericht. Die eigentlich Verantwortlichen für Schlamperei, Inkompetenz und Korruption in Politik und Wirtschaft verhindern bisher eine unabhängige Untersuchung des Falls. Die Angehörigen der Toten werden in der von der Regierung gesteuerten Presse diffamiert, die offensichtlichen Tatsachen verdreht. Deshalb reißen die Proteste dagegen nicht ab. Auch bei diesem Thema helfen Auslandskoreaner, Druck auf die Regierung auszuüben: In München u.a. deutschen Städten gab es Podiumsdiskussionen mit
anschließender Filmvorführung.
Einige Koreaner sind bei diesen Demonstrationen besonders aktiv. Bekannt sind vor allem
Park Rae-goon, der berufsmäßiger Menschenrechtsverteidiger ist, und Kim Hye-jin, die sich
seit vielen Jahren für die Rechte der Arbeiter einsetzt. Park arbeitet seit 30 Jahren zu rechtswidrigen Zwangsräumungen, Arbeiterrechten, den Rechten von Migranten und für Meinungsfreiheit. Er saß zu wiederholten Malen im Gefängnis, weil er friedliche Demonstrationszüge, Sitzblockaden u.ä. organisierte. Zurzeit sind Park und Kim zu drei bzw. zwei Jahren
Gefängnis auf Bewährung wegen der Sewol-Proteste verurteilt. Amnesty International setzt
sich für sie ein.- Berufsmäßige Menschenrechtsverteidiger, die sich aller möglichen Themen
annehmen, sind in Europa unbekannt.
Ein Thema spielt in Korea kaum eine Rolle: Migranten. Da die Bevölkerung seit Jahrhunderten homogen war, betrachtete man Fremde stets mit Misstrauen. Eine erste Veränderung
brachte der Heiratstourismus. Weil vor allem Bauern keine Bräute fanden, die das schwere
Leben auf dem Land teilen wollten, suchten sich sehr viele Bauernsöhne in den vergangenen
zwei Jahrzehnten Ehepartner in Südostasien. Inzwischen kommen aber Flüchtlinge aus Burma und aus Syrien nach Südkorea. Das im Jahr 2013 in Kraft getretene Flüchtlingsgesetz, das
erste in Ostasien, wird vom UNO-Flüchtlingshilfswerk gelobt. Die Wirklichkeit sieht anders
aus: Im Jahr 2015 gab Seoul nur 94 von 2 896 Asylanträgen statt. Von den rund 800 Syrern,
die in den vergangenen fünf Jahren Flüchtlingsstatus erbaten, wurden nur drei anerkannt.
Die restlichen erhielten zwar Bleiberecht, doch ist die Lage dieser Personen deutlich schlechter als die der anerkannten Flüchtlinge: Sie müssen ihren Status jährlich verlängern, sind bei
Krankheiten nicht geschützt und nicht zum Familiennachzug berechtigt. Auch finden sie nur
schwer Arbeit. In diesem Jahr will Südkorea ein kleines Kontingent von 30 Burmesen, die in
Thailand in Flüchtlingslagern leben, aufnehmen – ein Tropfen auf den heißen Stein.
Menschenrechtsthemen, für die sich Amnesty International besonders einsetzt, interessieren – mit Ausnahme der „Trostfrauen“ – den Durchschnitt der Bevölkerung wenig:
- Das sog. Nationale Sicherheitsgesetz, das seit dem Koreakrieg (1950 – 1953) besteht, wird
unter der jetzigen Präsidentin wieder verstärkt herangezogen, um Kritiker und OppositionelSeite 3 von 5
le mundtot zu machen. Sogar Parlamentarier, Wissenschaftler und Ausländer werden neuerdings genauso wie Demonstranten angeklagt, eine ganze Partei wurde verboten Das NSL
(National Security Law) entspricht in keiner Hinsicht den internationalen Normen und sollte
abgeschafft oder wenigstens internationalen Standards angepasst werden.
- Ein Gesetzentwurf zur endgültigen Abschaffung der Todesstrafe wurde im Juli 2015 dem
Parlament vorgelegt (seit mehreren Legislaturperioden ist das bereits der siebte Versuch).
Bisher verhinderte jedes Mal ein Kontrollausschuss des Parlaments die endgültige Abstimmung – ob der jetzige Entwurf durchkommt, ist bisher noch nicht entschieden. Seit 1998 gibt
es ein Moratorium für Hinrichtungen, etwa 60 Verurteilte sitzen noch in den Todeszellen.
- Wehrdienstverweigerer gelten in der Bevölkerung meist als Drückeberger, die ständigen
Drohungen aus Nordkorea sind dafür verantwortlich. Etwa 400 junge Leute, die jedes Jahr
den 18-monatigen Dienst verweigern, werden in der Regel zu einer ebenso langen Gefängnisstrafe verurteilt. Nach der Entlassung haben sie massive (vor allem berufliche) Nachteile.
- Die Lage der Wanderarbeiter (Migrant Workers) ist nach wie vor besorgniserregend. Schikanen, Misshandlungen, häufige Unfälle, Vorenthalten des Lohns sind an der Tagesordnung.
Besonders betroffen sind die in der Landwirtschaft Beschäftigten.
Fassen wir zusammen:
Die Zivilgesellschaft in der Republik Korea ist sehr lebendig. Allerdings wurden die Aktivitäten gewerkschaftlicher Art wie besonders auch die Meinungs- und Versammlungsfreiheit
ganz allgemein durch die Präsidenten Lee und Park zum Teil drastisch eingeschränkt. Die
schon von Kim Dae-jung eingesetzte Nationale Kommission für Menschenrechte erhielt im
vergangenen Jahr einen neuen, der Präsidentin genehmen Vorsitzenden, dessen Auswahl
intransparent und ohne Rücksprache mit relevanten Gruppen stattfand. Eine Wahrheitskommission, die die Verbrechen der Vergangenheit aufklärt, gibt es so wenig wie in Japan –
hier sind sich die beiden Regierungschefs einig. Dass das Vertrauen in ihre Regierung bei den
meisten Bürgern Südkoreas stark gelitten hat, ist die Folge: Sewol-Unglück oder neuerdings
die Mers-Seuche werden miserabel gemanagt, Kritik daran wird unterdrückt. Die Vernetzung
vieler Menschenrechtsaktivisten mit koreanischen Kolonien im Ausland setzt allerdings die
Politiker wenigstens ein wenig unter Druck und stärkt das Selbstvertrauen der Kritiker.
Verwendete Literatur:
Song Du-yul / Werning, Rainer: Korea. Von der Kolonie zum geteilten Land. Wien 2012
Amnesty International, Jahresberichte für die Jahre 1999, 2005, 2009, 2013, 2014/15 (sämtlich erschienen im S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main) und weitere Informationen von AI
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Autor
Dr. Hans Buchner, promovierte in Philosophie und unterrichtete danach als Gymnasiallehrer
bis zum Jahr 2001 Latein, Griechisch, Deutsch und Ethik in Pfarrkirchen/ Niederbayern und
Germering bei München. Jetzt pensioniert. Seit ca. 40 Jahren Mitarbeit bei Amnesty international, seit 1995 als Sprecher der Koordinationsgruppe für die beiden koreanischen Staaten.
Kontakt: [email protected]
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