Jetzt herunterladen

Sachsen-Anhalt auf traurigem Spitzenplatz bei Alkoholtoten | Manuskript
Sachsen-Anhalt auf traurigem Spitzenplatz bei Alkoholtoten
Bericht: Thomas Kasper
Die Stadt Burg bei Magdeburg, am frühen Vormittag. Der Brunnen am Südring ist – wie
meistens - gut besucht.
Reporter: „Guten Morgen.“
Frauen und Männer mit Tagesfreizeit versammeln sich zum „Frühschoppen“.
Reporter: „Was trinken Sie?“
Mann: „Wir trinken alles.“
„Alles“ heißt: vormittags Bier, später Korn.
Reporter: „Was sind Sie von Beruf?“
Mann: „Ich bin Hartz IV-Empfänger.“
Frank: „Richtig: Wir sind Hartz IV, gelernter Maurer, kriegen nischt. 52. Zehn Jahre
arbeitslos, jedes Mal die Firma pleite gegangen, keine Kohle gekriegt, kein gar nichts.“
Frank Ferchland nimmt uns mit nach Hause.
„Nicht erschrecken, wenn du in den Flur kommst, weil das sieht nämlich katastrophal aus.“
Der 52-jährige ist seit vielen Jahren alkoholkrank und arbeitslos. Aber immerhin, er hat
wieder ein Dach über dem Kopf. Zuvor lebte er lange auf der Straße.
Frank: „Hier macht keiner was.“
Jetzt ist er sauer, dass sein Wohnblock vergammelt. Das Arbeitsamt zahlt 400 Euro Miete für
die zwei Zimmer mit Küche und Ofenheizung. Eine miese Bude, sagt er und kein Job – da
könne er ja nur trinken.
Frank Ferchland: „Ick habe 1977 angefangen als Maurer. Bloß weil ich keinen Führerschein
habe, kriege ich hier kaum was. Ich kriege bloß noch die Ein-Euro-Jobs… Oder wir müssen
ständig zur Schule, hier Bewerbungstraining und guckst‘e nicht weg. Ich habe schon bald
14 Bewerbungstrainings hinter mir. Und jedes Mal habe ich die Hefter da. Bringen Sie mal
Bewerbung, Bewerbung, Bewerbung.
Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf nur für den privaten Gebrauch des Empfängers
verwendet werden. Jede Verwertung ohne Zustimmung des Urheberberechtigten ist unzulässig.
1
Sachsen-Anhalt auf traurigem Spitzenplatz bei Alkoholtoten | Manuskript
Das ist der Beutel, den ich immer mitschleppe zum Arbeitsamt. Wo ich alles war, wird
nicht mal anerkannt, der Dreck. Ich soll immer Jobs besorgen, Jobs besorgen, Jobs
besorgen. Ich such immer die ganzen Adressen raus. Und mache über Internet. Ich kann
bald nicht mehr.“
Reporter: „Spielt der Alkohol eine Rolle bei der vergeblichen Jobsuche?“
Frank Ferchland: „Ja, er spielt eine Rolle. Weil ich habe gesagt, ich bin jetzt Alkoholiker
geworden durch diese Arbeitslosigkeit. Und ich steh dazu.“
Reporter: „Hatten Sie schon mal eine Therapie gemacht?“
Frank Ferchland: „Ja, ich war schon 14 Mal weg. Hat nichts gebracht.“
Sieben Kinder hat der ehemalige Maurer. Alle leben in Heimen oder bei Pflegefamilien.
Alkoholsucht, kein Job, Kinder weg. Als alles zu viel wurde, wollte er Schluss machen.
Frank Ferchland: „Habe ich selber ein Messer genommen. Das ist diese Nabe. Weil ich
fertig bin. Bin fertig auf den Röhren. Ich kann nicht mehr.“
Von 100.000 Einwohnern sterben in Sachsen-Anhalt jährlich 39 Menschen am Alkohol. Der
bundesdeutsche Durchschnitt ist mit 19 Sterbefällen nicht einmal halb so hoch.
In Magdeburg werden Suchtkranke in der Fachklinik Alte Ölmühle therapiert. Chef der Klinik
ist Lukas Forschner. Im Osten ist Alkohol Suchtmittel Nummer 1, berichtet er.
Dr. Lukas Forschner:
„Die typische Patientenschaft in einer mitteldeutschen Suchtklinik gegen über alte
Bundesländer, kann man sagen, die Arbeitslosigkeit ist deutlich erhöht, die
Langzeitarbeitslosigkeit ist deutlich erhöht. Die Menschen sind eher alleinstehend, eher
nicht verheiratet, eher in sozial schwierigen Umständen.“
Dr. Forschner führt uns in den Sportraum der Klinik. Alkoholpatienten sollen hier
Koordination und Fitness wiedererlangen.
Nicole Männicke, Sporttrainerin: „Der Aufschlag folgt von unten mit einer Hand oder von
oben mit beiden Händen.“
Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf nur für den privaten Gebrauch des Empfängers
verwendet werden. Jede Verwertung ohne Zustimmung des Urheberberechtigten ist unzulässig.
2
Sachsen-Anhalt auf traurigem Spitzenplatz bei Alkoholtoten | Manuskript
Einer der Patienten ist Joachim Schmidt. Der 67-Jährige hat zu DDR-Zeiten als Maler
gearbeitet. Früher war es völlig normal, bereits morgens zu trinken, so der ehemalige
Handwerker.
Joachim Schmidt: „Damals in DDR-Zeiten war generell so, dass der Maler morgens zum
Frühstück ein Bier kriegte. Und so habe ich das Bier auch immer mitgetrunken und auch
mittags noch eine Flasche Bier. Dann bin ich so nach und nach auf Schnaps umgestiegen,
eigentlich unbewusst. Das habe ich nicht einmal bewusst gemacht. Aber ist dann so
gewesen, dass ich zu Hause gar kein Bier mehr getrunken habe, sondern nur noch
Schnaps.“
Alkohol wurde im Arbeiter- und Bauerstaat großzügig toleriert. Erst 1972 erkannte die DDR
den Alkoholismus als Krankheit an, 20 Jahre später als die WHO. Eine Langzeitfolge: Bis
heute fehlen im Osten Suchthilfeeinrichtungen.
Eine der wenigen Suchtkliniken, die es bereits zu DDR-Zeiten gab, ist der Wilhelmshof der
evangelischen Kirche unweit von Stendal. Abgeschiedenheit, sinnvolle Arbeit und
Selbstversorgung sind die Säulen des Wilhelmshofs. Hier leben alkoholkranke Menschen, die
als nicht mehr therapiefähig galten. Nach mehreren Totalabstürzen und einem
Selbstmordversuch kam Hajo Kreisel auf den Wilhelmshof. Sein Alltag hier ist straff
organisiert.
Hajo Kreisel: „Sonst bin ich immer um fünfe, halb sechse hier und mach meine Arbeit. Ich
muss ja einstreuen auch noch und sauber machen, also die Gatter machen. Und zweite
Mal gehe ich um neune nach dem Frühstück her.“
Früher brauchte er den täglichen Gang in die Kneipe, um der dörflichen Einsamkeit zu
entfliehen. Im Wilhelmshof ist Gemeinschaft ein Grundkonzept. Die Idee: Abstinent leben
und trotzdem nicht allein sein. Die Bewohner können unbegrenzt lange im Wilhelmshof
bleiben. Der 61-jährige Hajo hatte im Suff sein Eigenheim angezündet. Jetzt ist der
Wilhelmshof sein neues zu Hause.
Hajo Kreisel: „Ich will auch nichts mehr sehen von dem Kram. Denn das hat mir das ganze
Leben versaut.“
Hajos Betreuer ist Henry John. Früher war er selbst alkoholkrank. Bereits zu DDR-Zeiten
wurde er auf dem Wilhelmshof therapiert. Seither lebt er hier.
Henry John: „Seit 1987.“
Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf nur für den privaten Gebrauch des Empfängers
verwendet werden. Jede Verwertung ohne Zustimmung des Urheberberechtigten ist unzulässig.
3
Sachsen-Anhalt auf traurigem Spitzenplatz bei Alkoholtoten | Manuskript
Henry John leitet die Töpferei. Wenn einer der Patienten – die hier „Kurgäste“ genannt
werden - einen trockenen Jahrestag feiert, bekommt er eine handgefertigte Jubiläums-Tasse.
Henry John: „Das kriegen Kurgäste, die jetzt ein Jahr hier sind, ein Jahr keine Rückfälle
hatten. Gibt es bei einem, bei zwei Jahren, fünf und zehn Jahren.“
Zurück zum Trinker-Brunnen am Südring in Burg. Frank Ferchland sieht keinen Grund, mit
dem Saufen aufzuhören. Schließlich gäbe ihm niemand Arbeit.
Frank Ferchland: „Salve Gudrun, meine Schöne. Und Garten alles in Ordnung? Brauchst
keene Angst haben, ist MDR.“
Eine zweifelhafte Spitzenleistung hat er sich im Laufe seines Trinkerlebens antrainiert: Er
verträgt toxische Mengen an Alkohol.
Frank Ferchland: „Den Höchsten, den ich hatte, waren 5,9 Promille. Ja. 5,9 Promille! 5,9.
Reporter: „Da ist man doch tot?“
Frank Ferchland: „Ich sollte auf so einer Linie laufen. Habe ich gemacht.“
Nicht einmal 60 Jahre beträgt die durchschnittliche Lebenserwartung von Alkoholikern.
Frank ist jetzt 52.
Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf nur für den privaten Gebrauch des Empfängers
verwendet werden. Jede Verwertung ohne Zustimmung des Urheberberechtigten ist unzulässig.
4