Grundkurs Deutsch (Hessen) – Übungsaufgabe 1: Textinterpretation Zwei Gedichte zum Thema Wald Arbeitsgrundlage: 1. Joseph von Eichendorff, Abschied 2. Kurt Drawert, Der Wald. Katalogtext und Ausstellungshinweis Aufgaben: 1. Interpretieren Sie Eichendorffs Gedicht Abschied. Berücksichtigen Sie Sprache, Haltung, Gedanklichkeit, Natur und Weltverständnis des lyrischen Ichs und zeigen Sie, inwiefern dieser Text lyrisch und romantisch ist. – Bezüge zu anderen Beispielen der Romantik sind erwünscht. (35 BE) 2. Vergleichen Sie die Gedichte von Drawert und Eichendorff besonders bezüglich der Distanz zwischen ihnen. Achten Sie darauf, wie sich mit Wahrnehmung und Weltverständnis auch Ton und Sprache ändern. (45 BE) 3. Erörtern Sie: a) Ist Der Wald. Katalogtext … Ihrer Meinung nach ein überzeugendes lyrisches Gedicht? b) Ist für Sie Drawert ein Autor, der das Bewusstsein Ihrer Generation zum Ausdruck bringt? (20 BE) Erlaubte Hilfsmittel: ein Wörterbuch der deutschen Rechtschreibung 1 Joseph von Eichendorff Abschied (um 1810) 5 10 15 O Täler weit, o Höhen, O schöner, grüner Wald, Du meiner Lust und Wehen Andächtger Aufenthalt! Da draußen, stets betrogen, Saust die geschäftge Welt, Schlag noch einmal die Bogen Um mich, du grünes Zelt! Wenn es beginnt zu tagen, Die Erde dampft und blinkt, Die Vögel lustig schlagen, Daß dir dein Herz erklingt: Da mag vergehn, verwehen Das trübe Erdenleid, Da sollst du auferstehen In junger Herrlichkeit! 20 25 30 Da steht im Wald geschrieben Ein stilles, ernstes Wort Von rechtem Tun und Lieben, Und was des Menschen Hort. Ich habe treu gelesen Die Worte, schlicht und wahr, Und durch mein ganzes Wesen Wards unaussprechlich klar. Bald werd ich dich verlassen, Fremd in der Fremde gehn, Auf buntbewegten Gassen Des Lebens Schauspiel sehn; Und mitten in dem Leben Wird deines Ernsts Gewalt Mich Einsamen erheben, so wird mein Herz nicht alt. In: Joseph von Eichendorff: Werke in einem Band. Herausgegeben von Wolfdietrich Rasch. München und Wien: Carl Hanser Verlag 1984 (3. Auflage), S. 31 f. Kurt Drawert Der Wald. Katalogtext und Ausstellungshinweis (2002) 5 10 15 Der Wald, im schweren Grün seiner Innenausstattung, und still wie ein Jäger, ehe er abdrückt, ist mir entschieden zu vormilitärisch. Überall Stacheldraht im roten Kleid vergifteter Hagebutten. Der Boden, mit Pilzen vermint. Dann die Befehle der Amsel, hart, aus einem Hinterhalt in der Schonung gepfiffen: liebe dich jetzt! Aber das lassen wir besser und bleiben aufgeklärt zugeknöpft, vom Laufschuh bis zum Gesichtstuch. Immerhin, die Natur ist ein sehr ernster Zustand, unclean. Nicht zu vergleichen mit dem niedlichen Mäuschen zwischen Mousepad und Spielhand, 2 20 25 30 35 40 45 50 wenn es zum CD-Laufwerk flitzt und Brehms Tierleben startet. Hier draußen herrscht Echtzeit, Geliebte, bis zur Zecke im Haarteil, alles im Schlachtstand. Andererseits, inmitten dieser septischen Landschaft, frühgewarnt und hochausgebildet, gehen wir arglos spazieren. Man muß es nur etwas freundlicher angehn, wie Wilhelm Müller. Gesprochen wird ausnahmslos Wirtschaftsenglisch. Auch die Soldatenameisen, im Nahkampf um eine Lache von Eiweiß, noch im Zipfel ihrer Gummiverpackung: keine Fremdvokabeln, politisch betrachtet super gut drauf. Das schmutzige Holz, eben noch Stamm mit beschnittener Rinde, aus der gelbes Blut in den Harztopf tröpfelt, dort bereits eine Kindersitzgruppe, ein Doppelstockbett oder Schreibtisch. Sehr überzeugend, dieser Anblick künftiger Gebrauchsgegenstände. Am Ende landet das alles, ob es kneift oder stachelt, im neuen IKEA-Katalog, nichts zu machen, ihr pissenden Ungeheuer, wir dampfen euch ein. Für diese Einsicht ist so ein Ausflug also immer auch Freizeit. Die Trachtenkolonne mit Volkschor am Ausschank, das kann ja später noch nachgerückt werden. Entscheidend ist nur dieser erste gewaltige Eindruck, wie der Mensch in die Gumpe stolpert, die Kamera auspackt und handelt. Der Rest ist Alltag. Bauplan, Zuschnitt, und ab auf die Laderampe. In: Kurt Drawert: Frühjahrskollektion. Gedichte. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2002, S. 10 Worterklärungen: Zeile 18 Brehms Tierleben: populäres zoologisches Werk Zeile 22 septisch: Fäulnis erzeugend, voller Keime Zeile 26 Wilhelm Müller: Dichter des romantischen Liederzyklus „Winterreise“ Zeile 49 Gumpe: Schlammloch 3 Hinweise und Tipps r 1. r 2. r r r r r r r r r r r r r 3. r r r r r 4. r r r r r r r r r r r r r r r r r r r r r r Aufgabenart: Textinterpretation Voraussetzungen gemäß Lehrplan: Der erste Teil der Aufgabe setzt die Beschäftigung mit der deutschen Romantik und romantischer Lyrik voraus (im Lehrplan verbindlich vorgeschrieben für das Halbjahr 12.1). Vorausgesetzt wird, dass methodische Wege zur Herangehensweise an ein Gedicht eingeübt wurden und Motive und Formelemente romantischer Lyrik bekannt sind. Drawerts Text setzt die Beschäftigung mit den Ausdrucksmitteln modernen lyrischen Sprechens voraus; Kenntnisse hierzu sind durch die verbindliche Beschäftigung mit dem Expressionismus in 13.1 vorhanden. Bertolt Brecht und Gottfried Benn, lyrische Portalfiguren für wichtige deutsche Lyrik nach 1945 (etwa von Günter Eich, Günter Kunert, Hans Magnus Enzensberger, Peter Rühmkorf und bis hin zu Durs Grünbein), haben Formen des ironischen und reflektierenden Sprechens und das freirhythmische Gedicht mit neuem Ton und Vokabular etabliert und auch Drawert beeinflusst. Anmerkung: Drawerts Text wirkt zunächst sperrig. Aber gerade seine Krassheit provoziert Erkenntnisse; seine Inhaltsfülle macht es jedem möglich, etwas für sich „herauszufinden“, sofern nur methodisch gelesen und hineingefragt werden kann. Die scharfe Entgegensetzung von Eichendorff und Drawert demonstriert, wie ungeheuer sich Zeitgeist und Literatur im Laufe von fast 200 Jahren verändert haben. Tipps: Die Arbeit verlangt, zwei Gedichte zu interpretieren und miteinander zu vergleichen. Das ist viel; aber in Teilaufgabe 1 und 2 werden eine Reihe von Beobachtungskriterien angegeben, die bei der Lösung der Aufgaben helfen. Da Ton und Inhalt des ersten Gedichts unverkennbar romantisch sind, dürfte seine Erschließung recht zügig gehen. Es ist also ratsam, dem zunächst sicher befremdlichen Text von Drawert mehr Zeit zu widmen, sehr gründlich zu markieren und Gedankenblitze, Fragen, erkannte Zusammenhänge, Motivketten, Bezüge und so fort deutlich lesbar zu notieren. Die Benutzung verschiedenfarbiger Stifte erleichtert den Überblick. Weil man in die schriftliche Gedichtinterpretation nicht immer alles einarbeiten kann, was man vorher analytisch herausgefunden hat, können gute Vorarbeiten auf dem Textblatt die Notenfindung des Lehrers positiv beeinflussen. Falls die Novelle „Aus dem Leben eines Taugenichts“ bekannt ist, könnte man den Bezug zu Guidos Lied („Schweigt des Menschen laute Lust …“) finden, in dem ebenfalls die Erde – gleichsam im Rauschen der Bäume – wunderbar spricht. Zu denken wäre etwa an des Taugenichts mangelnde Neigung, des Vaters Mühle zu betreiben oder als Zolleinnehmer alt zu werden. – Wissen zu Eichendorffs Biografie ist nicht unbedingt erforderlich. Dass „draußen“ gerade auch Napoleons Armee durch Deutschland stampft, braucht nicht in den Sinn zu kommen, steigert aber durchaus das Verständnis für das ungeliebte „Draußen“. Teilaufgabe 2 setzt voraus, dass man Drawerts Gedicht erschlossen hat, bevor man sich vergleichend äußert. Da es sich um Gedichte handelt, hängt die Qualität der Leistung in besonderem Maß davon ab, dass man etwas zur Sprache der Texte zu sagen weiß (Teilaufgabe 2, zweiter Satz). 4 Lösungshinweise 1. Eichendorff besingt die Landschaft (Täler und Höhen), vor allem aber den Wald in vier langen Strophen (jede Strophe gleichsam ein Doppelquartett in durchweg gleichmäßigem Metrum und durch Kreuzreim gebunden). Das lyrische Ich preist Landschaft und Wald und redet Natur vertraut und emphatisch an: O … (V. 1 und 2), Verben und Pronomina in der 2. Person Singular: Du / du (V. 3, 8), dich (V. 25), deines Ernsts Gewalt (V. 30). Wären Vokabular und Stil nicht so schlicht, sanglich und volksliedhaft, so könnte man den Text als Hymne auf den Wald oder als „Waldchoral“ ansehen. Gedanklich ist der Wald dem lyrischen Ich Heimat, Zelt (V. 8), Trost, Hort und so etwas wie Kirche und steht in prägnantem Gegensatz zur geschäftgen Welt, in die es aufbrechen muss. Diese Antithetik bestimmt die Strophen 1, 2 und 4: vermutlich gehört auch das trübe Erdenleid (Strophe 2, V. 14) zur Welt draußen mit ihren buntbewegten Gassen (Strophe 4, V. 27). Die geschäftge Welt [s]aust (V. 6). Tempo, Lärm, Betrieb und – so muss man schließen – oberflächliches Leben, die Jagd nach Geld, der Markt, sind bezeichnend für das bürgerliche Leben und damit für eine Tüchtigkeit, die vielen Romantikern als seelenlos erscheint. Der Ausdruck [d]es Lebens Schauspiel (V. 28) ist etwas ambivalent: da draußen ist buntes Leben, aber eben nur als Theater und Schein. Wer da mitspielt, ist betrogen (V. 5). Draußen ist Flüchtiges, was wieder vergeht (Strophe 2), also vanitas. Der Wald dagegen besteht, sich immer wieder verjüngend, auferstehend mit jedem Morgen (Strophe 2). Er ist alt, beständig, zuverlässig und gleichbleibend still, ernst, treu und wahr (Strophe 3) und gleichzeitig grün und schön und ohne Schwere (Strophe 1); zu ihm zieht es das lyrische Ich, wenn es glücklich, aber auch, wenn es bedrückt ist (Strophe 1, V. 4 f.). Und der Wald lehrt, was recht ist (Strophe 3: rechte[s] Tun und Lieben, V. 19). Eichendorff setzt ihn also in starker moralischer Wertung in Opposition zum Trug und Betrug und – wie man wohl schließen muss – Unrecht der Welt „draußen“. Der Wald schenkt Klarheit und fast mütterliche Geborgenheit (Strophe 1). Draußen ist Fremde (V. 26). Der Wald und damit die Natur tragen Züge des Göttlichen, Heiligen. Das Ich empfindet in diesem Naturraum Andacht (V. 4); sein innerstes Wesen wird hier berührt, erh[o]ben (V. 31) und gegen die Welt draußen gleichsam gefirmt. Denn der Wald spricht, und zwar zweifach. Er spricht durch sein schieres Sein Worte, die zum Vermächtnis werden und an die sich der in die Fremde Aufbrechende erinnern wird (Strophen 3 und 4). Und der Gesang der Vögel weckt wie Eichendorffs Zauberwort (vgl. das Gedicht Wünschelrute) das Herz des Poeten (Strophe 2): Resonanz ist hier möglich, Widerklang. Zum Stil wäre etwa darzulegen, dass das Gedicht in der Syntax schlicht ist und leicht und sanglich daherkommt; nur einmal (Strophe 3) ein Satzgefüge, sonst Parataxe. Was zu sagen ist, kommt aus dem Gemüt: Zentralorgan ist das Herz 5
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