Reclam Wolfgang Frühwald Joseph von Eichendorff: Mondnacht Joseph von Eichendorff: Mondnacht Die Erneuerung des Mythos Von Wolfgang Frühwald Joseph von Eichendorff: »Mondnacht« Es war, als hätt’ der Himmel Die Erde still geküßt, Daß sie im Blütenschimmer Von ihm nun träumen müßt’. Die Luft ging durch die Felder, Die Ähren wogten sacht, Es rauschten leis die Wälder, So sternklar war die Nacht. Und meine Seele spannte Weit ihre Flügel aus, Flog durch die stillen Lande, Als flöge sie nach Haus. 5 10 Abdruck nach: Sämtliche Werke des Freiherrn Joseph von Eichendorff. Hist.-krit. Ausg. Hrsg. von Wilhelm 1 © 2003 Philipp Reclam jun., Stuttgart. Reclam Wolfgang Frühwald Joseph von Eichendorff: Mondnacht Kosch. Regensburg: Habbel, [1908 ff.]. Bd. 1,1: Gedichte. Hrsg. von Hilda Schulhof und August Sauer. Mit einem Vorw. von Wilhelm Kosch. [1923.] S. 382. Erstdruck: Gedichte von Joseph Freiherrn von Eichendorff. Berlin: Duncker und Humblot, 1837. Weiterer wichtiger Druck: Joseph Freiherrn von Eichendorffs Werke. 4 Tle. Berlin: M. Simion, 1841/42. T. 1: Gedichte. 1841. [Es gibt keine Druckvarianten. Ein Faksimile des handschriftlichen Entwurfes findet sich in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch. N. F. 15 (1974) Titelabbildung. – Die Handschrift – heute im Berliner Nachlass Eichendorffs in der Staatsbibliothek Berlin – weist nach Hilda Schulhof (I,2,768) auf des Autors »Schrift der 30er Jahre«.] Die Erneuerung des Mythos. Zu Eichendorffs Gedicht »Mondnacht« Franz Werfel hat Clemens Brentanos Frühlingsschrei eines Knechtes aus der Tiefe als das schönste Gedicht der deutschen Romantik bezeichnet. Von Thomas Mann wird diese Einschätzung zwar zitiert, doch fragt er: »ist ›Es war, als hätt’ der Himmel‹ von Eichendorff nicht am Ende schöner – wenigstens als Schumannsches Lied? Die Perle der Perlen« (Mann, S. 726). An bewundernden Epitheta hat es Joseph von Eichendorffs Mondnacht nie gefehlt, und kaum einer der zahllosen Interpreten hat es versäumt, auf Robert Schumanns Vertonung des Liedes aus dem Jahre 1840 hinzuweisen. Von dieser Komposition, meinte Theodor W. Adorno, lasse sich so schwer reden, »wie, nach Goethes Diktum, von allem, was eine große Wirkung getan hat« (Adorno, S. 140); die 2 © 2003 Philipp Reclam jun., Stuttgart. Wolfgang Frühwald Joseph von Eichendorff: Mondnacht Reclam Zeilen »Es war, als hätt’ der Himmel / Die Erde still geküßt« waren Adorno schon in seiner Gymnasialzeit »so selbstverständlich [. . .] wie Schumanns Komposition«, doch konnte er dieser Selbstverständlichkeit wegen einem Lehrer, der ihn »auf die Trivialität des Bildes aufmerksam machte«, nicht entgegnen (Adorno, S. 108). Gleichwohl erschien Adorno Eichendorffs Gedicht zeitlebens, »als wäre es mit dem Bogenstrich gespielt« (Adorno, S. 112); Oskar Seidlin nannte es Eichendorffs »allerschönstes Gedicht«, eines der »– sagen wir – zehn vollendeten Wunder deutscher Sprache« (Seidlin, S. 234), und die musikwissenschaftlichen Handbücher, die häufig das deutsche und das romantische Kunstlied identifizieren, haben das Gedicht in Schumanns Vertonung »zum Inbegriff des romantischen Liedes« erklärt (Wiora, S. 68). Der Nachruhm Joseph von Eichendorffs gründet wesentlich auf den Vertonungen seiner Gedichte, und der Erfolg des romantischen Kunstliedes in den Konzertsälen der Welt ist untrennbar mit seinem Namen verbunden. In den »beiden letzten Dritteln des 19. Jahrhunderts [sind] weit über 5000 Eichendorff-Vertonungen nachzuweisen« (Busse, S. 9), für die Mondnacht zählte Max Koch im 19. Jahrhundert allein 41 Kompositionen. Sieht man von dem handschriftlichen Entwurf im Berliner Nachlass einmal ab, so gibt es – neben den Vertonungen – keinerlei Entstehungs- oder zeitgenössische Rezeptionsdokumente des Gedichtes. Wir dürfen aber vielleicht annehmen, dass Eichendorff im Jahre 1847, in dem er zum ersten und einzigen Mal in seinem Leben öffentlich gefeiert wurde, auch Schumanns Komposition der Mondnacht gehört hat. Am 15. Januar dieses Jahres nämlich nahmen, nach Wiener Pressemeldungen, »Herr und Frau Schumann« in Wien »von ihren Freunden und näheren Bekannten« – darunter Adalbert Stifter, Franz Grillparzer und Joseph von Eichendorff – »musikalisch Abschied«. Der Sänger de Marchion trug bei diesem Hauskonzert, das in anderen Pressemeldungen auch als »Soirée zu Ehren des seit einiger Zeit hier verweilenden greisen Dichters Eichendorff« bezeichnet wurde, »einige 3 © 2003 Philipp Reclam jun., Stuttgart. Wolfgang Frühwald Joseph von Eichendorff: Mondnacht Reclam tiefgefühlte Lieder Eichendorffs« vor, »von Schumann im Geiste des Dichters komponiert«. Joseph von Eichendorff, so schrieb Clara Schumann, habe bei dieser Gelegenheit zu ihr gesagt, »Robert habe seinen Liedern erst Leben gegeben«, sie habe darauf erwidert, »daß seine Gedichte erst der Komposition das Leben gegeben« (Frühwald, S. 201). Wenn mit Adorno und Moser Schumanns Melodie als eine dem musikalischen Bar nahe stehende Form verstanden wird, in dem »die Naturbilder [. . .] den Aufgesang« geben, »die Wendung ins Innere [. . .] im erlösenden Abgesang ›nach Haus‹« führt (Moser, S. 367), so stehen poetische und musikalische Form in einem Spannungsverhältnis zueinander. Doch auch, wenn die Melodie als »variierte Strophenform« gedeutet wird (Busse, S. 21), da Schumann die Halbstrophen des Gedichtes mit einer sich demnach fünfmal wiederholenden Melodie komponierte und diese Melodie nur zu Beginn der dritten Strophe (also in der fünften Halbstrophe) leicht variierte, ist dieses Spannungsverhältnis nicht völlig in »Kongruenz und Synthese« (Busse, S. 22) zu lösen. Die »musica coelestis« (Wiora, S. 69), die Schumann in der intensivierenden Wiederholung einer Periode hörbar macht, ist einerseits eng am Text orientiert; er verwendet »die Portato-Wiederholung auf Tönen und Akkorden, die auch bei Beethoven Sinnbild der funkelnden, flimmernden Sterne ist« (Wiora, S. 69), »die vokalische Aufhellung vollzieht sich über steigender Melodielinie, Eindunkelung bedeutet fallende Linie« (Busse, S. 21); andererseits steht die fast monotone Wiederholung der immer gleichen Melodiezeile, mit einer schwachen Belebung und Bewegung an der Stelle, an der das lyrische Ich explizit in das Gedicht eintritt, in Spannung zu der auf den ersten Blick erkennbaren Tektonik des Textes. Schumanns Vertonung ist weniger interpretierender Nachvollzug der Sprachmelodie als vielmehr Neuschöpfung einer durch den Text evozierten inneren Bildwelt im Medium der Musik. 4 © 2003 Philipp Reclam jun., Stuttgart. Wolfgang Frühwald Joseph von Eichendorff: Mondnacht Reclam In Eichendorffs lyrischem Text überwiegt die Bewegung der Umarmung die der Strophenvariation des lyrischen Augenblicks. Zwei auffällig vom Konjunktiv geprägte Strophen, mit der korrespondierenden ›als ob‹-Figur, umschließen eine von Verben im Indikativ getragene Mittelstrophe. Die sprachliche Bewegung führt dabei in der ersten Strophe von oben nach unten, vom Himmel zur Erde, in der letzten Strophe aber wechselt die Perspektive, es ist, als ob die Seele aus der dunklen Welt auf zum Himmel flöge. In der zweiten Strophe begegnen sich die beiden gegenläufigen Bewegungen im Bild des Nachtwindes: Der Blick des impliziten Betrachters führt über die wogenden Felder, die Ähren, die rauschenden Bäume des Waldes hinauf zum Himmel einer sternklaren Nacht; weil aber »je zwei Verse metaphorisch aufeinander bezogen [sind], der durch die Felder gehenden Luft [. . .] das Wogen der Ähren [entspricht], das Rauschen der Wälder [. . .] die Antwort auf die Sternenklarheit der Nacht [ist]« (Schwarz, S. 87), scheint der Wind aus den Weiten des Himmels herabzukommen. Er bewegt die Dinge der Natur und bildet darin die Sehnsuchtsbewegung der menschlichen Seele ab. Das inhaltlich tragende Bild der – ehelichen – Umarmung spiegelt sich demnach in der Form, wie auch die ›als ob‹-Figur formale Entsprechungen zeitigt. Reim- und Assonanzmischungen sind in Eichendorffs Gedichten stets genau bedacht. In dem ursprünglichen Eröffnungsgedicht des Zyklus Auf den Tod meines Kindes, das wie die Mondnacht in den dreißiger Jahren entstanden ist (vermutlich um 1832, Erstdruck 1835) und mit dieser die betonte Schlussformel teilt, ist allein die Zuversicht des Wiedersehens in der letzten Strophe mit durchgehend reinen Reimen gekennzeichnet; den Schmerz des Todes umschreibt die schroffe, reimlose VerbAdverb-Begegnung am Ende der Zeilen 1 und 3 der beiden ersten Strophen; das volle Bewusstsein der Trennung aber bricht in der dritten Strophe ein, in der die ›als ob‹Figur nicht mehr mit Reimen, sondern mit Assonanzen gepaart wird, sodass die Wehmut der Erinnerung, der innige Wunsch einer Wiederkehr des toten Kindes und 5 © 2003 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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