Positionslichter der Liebe Predigt und Gebet für den 1. Advent 2015 Von Veronika Ullmann Bleibt niemandem etwas schuldig – außer der Liebe, denn die seid ihr einander immer schuldig! Denn wer seinen Mitmenschen liebt, hat das Gesetz schon erfüllt. Dort steht: „Du sollst die Ehe nicht brechen! Du sollst nicht töten! Du sollst nicht stehlen! Du sollst nicht begehren!“ Diese und all die anderen Gebote sind in dem einen Satz zusammen gefasst: „Liebe deinen Mitmenschen wie dich selbst!“ Wer liebt, tut seinem Mitmenschen nichts Böses an. Darum wird durch die Liebe das ganze Gesetz erfüllt. Ihr wisst doch, dass jetzt die Stunde schlägt! Es ist höchste Zeit für euch, aus dem Schlaf aufzuwachen. Denn unsere Rettung ist nahe – näher als damals, als wir zum Glauben kamen. Die Nacht geht zu Ende, der Tag bricht schon an. Lasst uns alles ablegen, was die Dunkelheit mit sich bringt. Lasst uns stattdessen die Waffen anlegen, die das Licht uns verleiht. Römer 13,8–14 03.2015 WeltGemeinde 9 Predigt Links Maya Meshram mit ihren drei Kindern in ihrem Haus. Sie zeigt ein Bild ihres verstorbenen Mannes. Rechts Hinter dem Haus sorgt Maya für ihren Garten. Maya Meshram ist eine kleine, schmale Frau. Sie und Mann Sudhakar geraten. Als die Ernte dann doch nicht ihre Kinder sind im Dorf Bhilli im zentralindischen so gut wie erwartet ausfiel, konnte er schnell seine Kre- Bundesstaat Maharashtra zu Hause. Mit ihren drei Kin- dite nicht mehr bedienen. Das Rad drehte sich schneller dern, zwei Mädchen und einem Jungen, lebt sie allein und Sudhakar wusste keine andere Lösung mehr, als in einer Hütte ohne Strom – alles muss in einem einzi- aus dem Leben zu gehen. gen Raum geschehen, denn mehr Zimmer hat die Hütte nicht zu bieten. Das Leben ist für Maya nicht besonders hell. Es ist oft so dunkel, wie es auch in ihrer Hütte ist, wo nur eine kleine Kerosinlampe Licht gibt. Vor fünf Jahren passierte die Katastrophe. Während sie und die Kinder schliefen, stand ihr Mann Sudhakar leise auf, verließ das Haus und nahm sich das Leben. Es war eine lange Kette an Schwierigkeiten, Verstrickungen und Ausweglosigkeiten, die ihren Mann dazu gebracht hatte. Sudhakar war Baumwollbauer, wie die meisten Menschen in der Region Indiens, die folgerichtig auch „Baumwollgürtel“ heißt. Fast alle Baumwolle, die in Indien angebaut wird, stammt von hier. Und 95 % der Baumwolle ist BT-Cotton. BT-Cotton ist eine gentechnisch veränderte Baumwollsorte, die eigentlich besonders schädlingsresistent sein soll. Kaufen kann man das Saatgut nur über den amerikanischen Konzern Mon- gürtel Indiens häufiger ab. So wie Maya leben viele verwitwete Frauen von fast nichts und kämpfen, um sich und ihre Kinder durchzubringen. Schicksale, die weit weg von uns passieren – auf der anderen Seite dieses Erdballs. Vielleicht ist es gerade jetzt schwierig, die Gedanken zu den Schicksalen und Lebensgeschichten der Menschen ganz weit weg zu lenken. Auch hier gibt es genug Bedrückendes, Missstände, die unsere Aufmerksamkeit wollen. Doch auf dieser Erde rücken wir immer näher zusammen. Das T-Shirt, das Sie jetzt unter Ihrem warmen Pullover tragen, ist vielleicht aus indischer Baumwolle, vielleicht auch der Schlafanzug Ihres Kindes. Wir sind gar nicht so weit voneinander entfernt. Menschen auf der Südhalbkugel sorgen für unseren Konsum. santo. Für diesen Kauf müssen die Kleinbauernfamilien, Unser Predigttext aus dem Römerbrief will uns wecken – die die Baumwolle anbauen wollen, aber Kredite auf- für einen Moment herausreißen aus unserem Trott. „Es nehmen, weil das Saatgut teuer ist. Für das von geborg- ist höchste Zeit für euch, aus dem Schlaf aufzuwachen!“ tem Geld gekaufte Saatgut musste dann wieder spezieller Dünger gekauft werden, der auch teuer ist – also beginnt da sehr schnell ein Teufelskreis. In so ein Rad an Abhängigkeiten und Verschuldung war auch Mayas 10 Tragödien wie diese spielen sich leider im Baumwoll- WeltGemeinde 03.2015 Ja, zu schläfrig für vieles macht uns die Müdigkeit. Auch zu träge, um darüber nachzudenken, was sich alles ändern kann, wenn wir es nur wollen. Aber heute ist der erste Advent. Heute beginnt eine neue Zeit. „Unsere „Lasst uns ablegen alles, was die Dunkelheit mit sich bringt. Lasst uns stattdessen die Waffen anlegen, die das Licht uns verleiht.“ Und hier möchte ich Ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Bild der Hoffnung lenken. In der Hütte, in der Maya und ihre Kinder leben, steht eine alte Lampe auf dem Fußboden. Sie erhellt den Raum dürftig, die Frau mit dem traurigen Blick, die Kinder, die ernst in die Kamera schauen, das Bild des verstorbenen Mannes und Vaters, das sonst über dem Bett hängt. Die Lampe weist den Weg nach draußen: Maya und viele andere Frauen bekommen Aufmerksamkeit für ihr Schicksal – und sie bekommen auch ganz praktische Hilfe. Navdanya ist eine Organisation, die momentan rund 1.000 Familien in 100 Dörfern in dem Gebiet unterstützt, in dem auch Maya und ihre Kinder leben. „Navdanya“ ist Hindi und bedeutet so viel wie „9 Samen“. Die Organisation unterstützt Witwen von verstorbenen Baumwollbauern, Rettung ist nahe! Die Nacht geht zu Ende, der Tag bricht schon an. Lasst uns alles ablegen, was die Dunkelheit mit sich bringt.“ indem sie ihnen Starthilfe beim Anlegen von Gärten gibt. So hat auch Maya in der letzten Zeit einen stattlichen Gemüsegarten angelegt, das Saatgut bekam sie von Navdanya. Jetzt wachsen in Mayas Garten Kürbisse, Wenn wir dieser Welt den Advent ansagen, dann wollen Bohnen, Chilis und Spinat. Der Speiseplan der Familie wir damit sagen: Es gibt Hoffnung für die Welt! Es gibt ist damit gut bereichert, denn ohne die Ernte aus dem Brot für die Welt! Es ist nicht umsonst! Garten würden die vier hauptsäch- Gott kommt in unsere Welt – und sich lich Reis essen. In Schulungen hat darauf vorzubereiten, das ist der Weg Maya außerdem gelernt, ihr eige- durch den Advent. Wenn wir die erste nes Saatgut aufzubewahren und es Kerze anzünden, erstes Positionslicht auch in die Saatgutban einzubrin- auf dem Weg nach Weihnachten, eröff- gen, die von Navdanya gegründet nen wir jedes Jahr die Aktion Brot für Welt neu. Das Heil, in dessen Erwartung wir sind, das kommt nicht von ganz allein, es liegt auch nicht in „guten alten Zeiten“, nein, die gute Zeit, das ist das, was vor uns liegt. Wenn – ja wenn, wir mittun – und das ist Brot für die Welt – wir können alle ein bisschen mitarbeiten am Heil der Welt. Wir können zuhören, erfahren, lernen, wie Menschen woanders leben. Wir können Menschen weltweit teilhaben lassen an dem, was wir haben. Wichtig ist nicht unbedingt das große Geld, der große Schein im Kollektenkorb, sondern unser Wachsein, unsere Aufmerksamkeit, unser Mitgefühl und unser Gebet! Durch den Garten kann Maya die Ernährung für ihre drei Kinder und für sich selbst verbessern. Hilfe beim Anlegen und Unterstützung bekommt sie von Navdanya, Projektpartner von Brot für die Welt. 03.2015 WeltGemeinde 11 Predigt Oben Erntezeit in Gundiyat Gaon, einem Dorf im Projektgebiet der Organisation Navdanya Unten Die Vielfalt der Schöpfung gehört allen Menschen. Die Dorfbewohner haben alles gut sortiert und bewahren es auf. 12 WeltGemeinde 03.2015 wurde. Die Eigenversorgung aus den Gärten ist für alle wichtig. Die Natur hat unter dem intensiven Baumwollanbau gelitten, der Grundwasserspiegel ist gesunken Gebet Gott, unsere Quelle und unser Heil, und es gibt viel Ödnis. Die Saatgutbanken bewahren die wir bitten dich um Segen für Vielfalt der Natur und machen sie für alle nutzbar. Das die 57. Aktion Brot für die Welt. sind traditionelle Sorten von Bohnen, Hirse und Reis und viele bunte Gemüsesorten, die die Vitamin- und Gib uns ein offenes Herz und einen wachen Geist Nährstoffversorgung sichern. und lass uns unsere Liebe nicht schuldig bleiben. „Die Nacht geht zu Ende – der Tag bricht schon an!“ In Wir bitten dich für das Leben der Menschen Mayas Haus und in ihrem Leben ist ein Licht, so, wie in in der Region Indiens, ihrem Garten viel gutes Gemüse wächst, das sie ernährt. Und wenn Maya, ihre Kinder und viele andere Men- in der der Projektpartner Navdanya arbeitet. schen im Dorf und in der Region wissen, dass sie von Gib den Menschen dort Zuversicht und Hoffnung, weither Unterstützung bekommen – dann ist das ein damit sie der schwierigen Situation standhalten Positionslicht, das uns auf Weihnachten hinführt – und können. nicht daran vorbei! Heute beginnen wir die Lichter aufzustellen, die uns die Position geben. Jetzt ist der Tag – wacht auf und achtet auf die Lichter! „Durch die Liebe wird das ganze Gesetz erfüllt.“ Wir können mit der Aktion Brot für die Welt Menschen Zukunft geben, gangbare Wege schaffen. Menschen, die Zukunft sehen und um gute Zukunft wissen, können auch anderen Zuwendung geben und müssen nicht Wir bitten dich für alle, deren Angehörige freiwillig aus dem Leben gegangen sind und die nun allein für das Überleben ihrer Familien kämpfen. Wie das Saatgut in den Dörfern nun gerecht allen Menschen zugute kommt, so soll sich die Hoffnung wieder unter ihnen vermehren. Für uns selbst bitten wir um Geduld und um Kraft für anderen neiden, was sie haben oder leben. Weil Gott diese Adventszeit. Wir bitten dich darum, dass die kommt, weil er uns erwartet, darum sind wir frei fürein- Vorbereitungen auf das Weihnachtsfest uns auch Raum ander. Gottes Zukunft gilt allen und reicht für alle, wie für Stille geben, Raum für Freude und für gute Gedan- auch die Gaben seiner Schöpfung für alle reichen. ken. Mit der 57. Aktion Brot für die Welt wird nicht nur das Im Schein der ersten Adventskerze wollen wir unsere Projekt von Navdanya in Indien besonders in den Blick ganze Hoffnung erleuchten, für uns und für diese Welt. genommen. Das Aktionsthema „Satt ist nicht genug“ hat in diesem Kirchenjahr den Schwerpunkt bei der Amen. Bewahrung alter Sorten und des Saatguts. Nicht nur in Indien werden Menschen damit wieder besser in die Lage versetzt, alle Gaben der Schöpfung zu ihrem Wohl einzusetzen. Auch die Arbeit in allen anderen Projekten geht weiter. So wie Brot für die Welt zum Leben unserer Gemeinden dazu gehört, werden wir jedes Jahr die Lichter wieder neu aufstellen, die rund um den Erdball die Position der Liebe anzeigen. Gott kommt in unsere Welt. Und darum lassen Sie uns die Lichter des Advent hell machen. Amen. Veronika Ullmann ist Pfarrerin und Journa listin. Seit 2011 ist sie bei Brot für die Welt für die Publikationen für Kirchengemeinden zuständig. 03.2015 WeltGemeinde 13
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