Warum die Griechenland-Krise so schwer zu lösen ist Geld ist nicht

wirtschaft
21. August 2015, 18:30 Europäische Identität
Warum die Griechenland-Krise so schwer zu lösen ist
Geld ist nicht das Problem.
Gastbeitrag von Dennis J. Snower
Die derzeitige Krise in der Euro-Zone hat einen Erguss angestauter Emotionen verursacht. Jeder, der sich
an dieser leidenschaftlichen Debatte beteiligt, hat realisiert, dass wir so nicht weitermachen können und
dass es an der Zeit ist, eine Entscheidung über die Zukunft der Europäischen Union zu treffen. Die
Herausforderung dabei ist nicht, die effizienteste ökonomische oder überzeugendste politische Lösung zu
finden, sondern eine neue Vision für die EU zu entwickeln - eine, die ihren Bewohnern eine neue Form
von Sinn und Identität vermittelt.
Um die Identitätsbildung zu verstehen, braucht man eine interkulturelle Perspektive. Es gibt keine Werte
und Normen, die für alle Gesellschaften geeignet sind - aber es lassen sich Umstände kreieren, in denen
die Menschen die Welt in einem ausreichend gemeinsamen Licht sehen, um sich zu verbinden und ein
gemeinsames Ziel zu erkennen. Als Amerikaner, der seit mehr als einem Jahrzehnt eines der
bedeutendsten deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute leitet, konnte ich diverse europäische und
amerikanische Kulturen von innen sehen. Daher kann ich nachvollziehen, warum amerikanische und
europäische Ökonomen die Krise der Euro-Zone unterschiedlich bewerten.
Wenn der US- Ökonom und Nobelpreisträger Paul Krugman sagt, die Vorgaben der Euro-Gruppe für
Griechenland gingen "über Härte hinaus hin zu purer Rachsucht, kompletter Zerstörung nationaler
Souveränität ohne Hoffnung auf Besserung", dann kommt er nicht aufgrund einer bewährten
ökonomischen Theorie zu diesem Urteil. Wenn Joseph Stiglitz, ein weiterer US-Nobelpreisträger, sagt:
"Was gezeigt wurde, ist ein Mangel an Solidarität durch Deutschland", ist das keine Implikation einer
Analyse aus seinem Lehrbuch.
Wenn fünf führende Ökonomen - Thomas Piketty, Jeffrey Sachs, Dani Rodrick, Heiner Flassbeck und
Simon Wren-Lewis - in einem offenen Brief an Kanzlerin Angela Merkel schreiben, dass "die griechische
Regierung gerade gebeten wird, sich eine Pistole an den Kopf zu setzen und abzudrücken", rührt diese
Wahrnehmung nicht von empirischer Analyse her. Vielmehr sind diese Aussagen Ausdruck von Gefühlen,
die aus dem impliziten Verständnis von Identität entstanden sind.
Drei Thesen
Ökonomisch Durch den richtigen Mix von Maßnahmen ließe die Krise sich lösen
Politisch Die Lösung scheitert, weil Schuldner und Gläubiger einander misstrauen
Menschlich Die Europäer müssen mehr tun, um andere Nationen zu verstehen
Die Menschen empfinden sich eher einer Nation zugehörig als Europa
Amerikaner haben ein starkes Identitätsbewusstsein und nehmen an, dass es Europäern ähnlich gehen
müsste. Daher sind amerikanische Kommentatoren offener gegenüber zwischenstaatlichen
Transferzahlungen als Europäer. Die Amerikaner sind empört, wenn das Ausscheiden Griechenlands aus
der Euro-Zone ernsthaft diskutiert wird, weil sie sich nicht vorstellen können, einen US-Bundesstaat so zu
behandeln. Sie verstehen nicht, dass viele EU-Bürger die Bewohner anderer Staaten genauso sehen wie
die Amerikaner ihre kanadischen oder mexikanischen Nachbarn. Die meisten würden Transferzahlungen
an Kanada oder Mexiko nicht tolerieren und es auch nicht undenkbar finden, dass eines der Länder das
Nordamerikanische Freihandelsabkommen Nafta verlässt.
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US-Kommentatoren sehen den politischen Stillstand, den der Sparkurs in Griechenland verursacht,
kritisch; sie zeigen aber Verständnis für den politischen Stillstand zwischen Demokraten und
Republikanern, der die Ungleichheit zwischen Amerikanern manifestiert. Das Erste ist Verrat, Letzteres
dagegen nur ein Familienstreit.
Viele Kommentatoren verstehen nicht, dass das wesentliche Problem der EU kein ökonomisches oder
politisches ist, sondern ein soziales. Europas wirtschaftliche und politische Probleme sind nur ein
Symptom einer viel größeren Herausforderung: der Entwicklung eines gemeinsamen
europäischen Zielbewusstseins.
Für sich alleine ließen sich die wirtschaftlichen und politischen Probleme der EU bewältigen. Die USÖkonomen haben recht, dass die Sparpolitik die wirtschaftliche Depression in Griechenland
verschlimmert hat. Die deutschen Ökonomen haben recht, wenn sie kontern, dass ein bedingungsloser
Schuldenschnitt für Griechenland dazu führen würde, dass Korruption und Ineffizienz weiter bestehen
und von den Gläubigern finanziert werden müssten. All diese Probleme könnten durch eine
Kombination von antizyklischer Fiskalpolitik, Strukturreformen und Finanzregulierung in Verbindung
mit einem teilweisen Altschuldenerlass gelöst werden.
Aber solche Vorschläge sind bisher nicht umgesetzt worden. Die Griechen bestanden auf Entlastung beim
Sparprogramm, während sie bei strukturellen und finanziellen Reformen, die für eine erfolgreiche Zukunft
notwendig wären, nachlässig blieben. Die Gläubiger in der Euro-Zone, angeführt von Deutschland,
bestanden weiter auf Reformen, und blieben nachlässig im Hinblick auf eine Entlastung beim
Sparprogramm. Das Ergebnis ist politischer Stillstand, bei dem Griechenland immer aggressivere
Reformen auferlegt werden, deren Umsetzung allerdings alleine in der Hand der griechischen Politik liegt.
So steht jede Seite schlechter da als vorher.
Es fehlt die gemeinsame Identität
Der Grund für die festgefahrene Situation ist die fehlende gemeinsame Identität innerhalb der EU. Das
derzeitige Zugehörigkeitsgefühl der Europäer ist von nationalen Grenzen bestimmt, nicht von
europäischen Institutionen. Da ist es nur verständlich, dass die Gläubigerländer nicht willens sind,
unbegrenzte Transfers an Griechenland zu leisten, während viele Griechen Deutschland als boshaften
Hegemon wahrnehmen.
Schuldner und Gläubiger vertrauen einander nicht. Misstrauen führt zum Scheitern von Kooperation und
mündet oft in Konfrontation und Konflikt. Ein wesentlicher Grund für die Gründung der EU war es, solche
Konflikte undenkbar zu machen.. Es wäre eine Tragödie, wenn die derzeitigen wirtschaftlichen
Schwierigkeiten zu neuen Feindschaften führen würden.
Der einzige Ausweg ist, eine europäische Identität zu etablieren. Die EU muss ihren Mitgliedern eine
inspirierendere, zukunftsgerichtetere Vision bieten als nur das Versprechen möglichen Wohlstands,
basierend auf freien Märkten und internationaler Wettbewerbsfähigkeit. Identität entsteht nicht allein
durch Freihandel in einem gemeinsamen Markt. Die Gesellschaft ist mehr als ein Marktplatz.
Eine erfolgreiche Gesellschaft erzeugt ein Verständnis von sozialer Zugehörigkeit. Diese basiert auf
zwischenmenschlichen Beziehungen und rührt von einem gemeinsamen Verständnis einer
gemeinschaftlichen Vergangenheit und einer kollektiven Zukunft her. In der Menschheitsgeschichte
entstanden Gesellschaften normalerweise aus dem Alltag heraus, weil die Menschen ortsgebunden
waren. Eltern und Geburtsort bestimmten darüber, wo man leben und welche Sprache man sprechen
würde, welchem Glauben man folgen und sogar, wen man heiraten und welchen Beruf man
ausüben würde.
Doch die Welt hat sich dramatisch verändert. Die Menschen sind viel mobiler geworden im Hinblick auf
Geografie, Beschäftigung und Status. Seit dem Ende des Kalten Krieges gibt es ein weit verbreitetes
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Wiederaufleben ethnischer, religiöser und kultureller Identitäten, die eine breitere Vielfalt an
Zugehörigkeiten innerhalb vieler Länder kreiert haben, auch in Europa.
Während wir immer weiter hinabsteigen in den Kreislauf von Konfrontationen und Schuldzuweisungen
innerhalb Europas, wird immer klarer: Für die Europäische Union ist es an der Zeit, eine Vision zu
entwickeln, die die europäischen Völker dazu bewegt, sich gegenseitig zu unterstützen - einem
gemeinsamen Ziel zuliebe. Das bedeutet nicht, dass die nationalen, regionalen, religiösen und kulturellen
Zugehörigkeiten aufgegeben werden. Vielmehr sollte die europäische Identität die vorhandenen
Identitäten ergänzen.
Jeder Europäer sollte ein soziales Jahr in einem anderen EU-Land machen
Es gibt mehrere Wege, dieses Ziel zu erreichen - keiner von ihnen hat jedoch bislang viel öffentliche und
politische Aufmerksamkeit erfahren. Eine Möglichkeit wäre ein Europäisches Soziales Jahr für alle
Schulabgänger. Die Teilnehmer würden in einem anderen EU-Land bei Menschen leben, die einer anderen
Kultur, Religion und sozialen Klasse angehören als sie selbst und dabei an gesellschaftlich relevanten
Projekten arbeiten. Wer die Erfahrung macht, bei Menschen zu Gast zu sein, die anders sind als man
selbst, kann einen anderen Ausblick auf Europa gewinnen.
Auch ein einheitlicher europäischer Arbeitsmarkt - ohne rechtliche und regulatorische Beschränkungen,
dafür aber mit Wettbewerb zwischen verschiedenen Systemen und Unterstützung bei der Bewältigung
von kulturellen sowie Sprachbarrieren - würde einen wichtigen Impuls für die soziale Integration Europas
geben. Schließlich nimmt man Gesellschaften ernster, in denen man eines Tages arbeiten wollen könnte.
Ein weiteres Beispiel wäre die Implementierung einer gemeinsamen Finanzpolitik. Derzeit gibt es zwar
Richtlinien wie die Maastricht-Kriterien; diese sind aber nicht mehr glaubwürdig, nachdem schon viele
Länder, darunter neben Griechenland auch Deutschland und Frankreich, dagegen verstoßen durften. Eine
gemeinsame europäische Steuerbehörde und ein gemeinsames öffentliches Beschaffungswesen sowie
die Implementierung von Fiskalregeln, die sich jede Regierung eines Mitgliedsstaates selbst auferlegt,
würden ebenfalls dazu beitragen, eine gemeinsame europäische Identität zu schaffen.
Natürlich wird es Zeit brauchen, eine gemeinsame europäische Identität aufzubauen. Aber wenn die
Europäer entsprechende Initiativen jetzt ins Rollen bringen, werden sie sich schnell in Richtung einer
Zukunft bewegen, die sich von dem, wo sie jetzt festsitzen, stark unterscheidet. Die ersten Schimmer
einer solchen Zukunft könnten schon ausreichen, um die Europäer toleranter miteinander werden zu
lassen. Das würde dem europäischen Projekt neues Leben einhauchen. Es gibt keine bessere Zeit als jetzt,
um damit anzufangen.
Dennis J. Snower, 64, Amerikaner, ist seit 2004 Präsident des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel.
URL: http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/samstags-essay-das-wir-gefuehl-1.2616374
Quelle: SZ vom 22.08.2015/klu
Die Euro-Debatte
Sparen oder nicht? Schuldenschnitt - ja oder nein? Prominente Ökonomen diskutieren in der SZ über die
Krise in Griechenland und was daraus für Europas Zukunft folgt. Alle bisherigen Beiträge - von Marcel
Fratzscher, Hans-Werner Sinn, James Galbraith, Mark Blyth oder Jeffrey Sachs - finden Sie unter:
sz.de/szdebatte-griechenland
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