BLICKPUNKT Mittwoch, 30. März 2016 Seite 17 Mehr Sicherheit – mehr Rechte? ZUR PERSON Der Nazi und der israelische Geheimdienst Die Textilbranche in Bangladesch drei Jahre nach dem katastrophalen Einsturz der Fabrik Rana Plaza 1136 Tote, mehr als 2000 Verletzte: Der Einsturz der Fabrik Rana Plaza im April 2013 warf ein Schlaglicht auf die Arbeitsbedingungen, unter denen in Bangladesch Kleidung produziert wird. Was hat sich seitdem verändert? Tötete ein ehemals führender Nazi später für den israelischen Geheimdienst Mossad? Die Tel Aviver Zeitung „Haaretz“ spekuliert darüber. Von Thomas GuTke Dhaka (OGA) „Die Textilarbeiterinnen hatten keine Chance“, sagt Abdullah Al Muyid. Die Bilder der Toten, die Angst der Geretteten, die Wut der Angehörigen – all das verfolgt ihn bis heute. Al Muyid berichtete damals für die BBC aus Sabhar, dem Ort des schwersten Fabrikunglücks in der Geschichte Bangladeschs. Das Rana Plaza genannte Gebäude war am 24. April 2013 gegen 9 Uhr zusammengebrochen. „Wie ein Stapel Pfannkuchen“ habe sich der Beton der acht Stockwerke aufgetürmt, erinnert er sich. Dazwischen die Verschütteten. Und Reste von Kleidung für Kik, Primark und andere Firmen. Der dünne Faden der globalen Lieferkette – er war an diesem Tag auf furchtbare Weise gerissen. Überlebende erzählten Al Muyid später, dass schon am Tag zuvor Risse in den Betonwänden zu sehen gewesen seien, dass sie die Fabrik eigentlich nicht wieder betreten wollten, doch die Betreiber hätten ihnen mit der Kündigung gedroht. „Also gingen sie hinein, die Tore wurden verriegelt. Nach einem Stromausfall sprangen die Generatoren an. Das Haus begann zu wanken – und stürzte ein.“ Heute ist Abdullah Al Muyid für die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) tätig. Die UNSonderorganisation spielt eine Schlüsselrolle bei der Aufarbeitung des Unglücks, ist an vielen Vereinbarungen und Projekten für menschenwürdige Arbeitsbedingungen beteiligt. Vieles, sagt Al Muyid, habe sich für die Arbeiter mittlerweile verbessert. Bereits vor der Katastrophe von Rana Plaza hatte die ILO einen Aktionsplan auf den Weg gebracht. Denn gravierende Sicherheitsmängel hatten bereits zuvor Tote gefordert. Beim Brand der Tazreen-Fabrik im November 2012 etwa kamen 112 Menschen ums Leben – auch weil Feuerleitern und Notausgänge fehlten. Neben der Initiative der ILO, die in eine Kooperation mit den Regierungsbehörden mündete, schoben 2013 auch Händler aus Europa und den USA zwei eigene Sicherheitsabkommen an – Alliance und Accord. Das Ziel der drei Programme: Inspektionen in allen gut 4000 großen Fabriken mit dem Fokus auf Bauvorschriften und Statik, Brandschutz sowie Elektrik. Die meisten Betriebe wurden inzwischen begutachtet. Laut Steve Needham, ILOSprecher in Dhaka, mussten 38 von ihnen schließen, viele haben Auflagen erhalten. „Wir dürfen nicht zulassen, dass Menschen an ihrem Arbeitsplatz sterben“, sagt Syed Ahmed, Staatssekretär im Arbeitsministerium und Leiter der Fabrik- und Gewerbeaufsicht DIFE. Rana Plaza sei für die Regierung ein Weckruf gewesen. Statt einst 314 arbeiteten heute 993 Bedienstete bei DIFE, darunter 557 Betriebsinspektoren. Prüfberichte ver- Von Stefan Kegel Arbeiterinnen in einer Fabrik in Gazipur: Nach dem Einsturz der Fabrik Rana Plaza wurden alle großen exportorientierten Textilbetriebe inspiziert. öffentliche DIFE nun auf einer Internetseite. Außerdem werde eine Beschwerdehotline getestet. Eine Mitschuld seiner Behörde am Unglück von Rana Plaza kann Ahmed nicht erkennen. „Der Eigentümer und die Bauaufsicht tragen die Verantwortung“, sagt er. DIFE müsse nicht nur die Textilfabriken, sondern Hunderttausende weiterer Betriebe kontrollieren. „Für ein effektives Inspektionssystem bräuchten wir viel mehr Personal“, räumt er ein. Und die eigentliche Herausforderung stehe erst noch bevor: die teure Sanierung der Fabriken. An der Bedeutung der Textilbranche hat sich trotz Rana Plaza nicht viel verändert – die Export- Nur China liefert mehr Sweatshirts, Jacken und Hosen nach Deutschland zahlen steigen von Jahr zu Jahr. Rund 4,4 Millionen Menschen arbeiten in Bangladesch – das rund 160 Millionen Einwohner zählt – in der Bekleidungsindustrie, zehnmal so viele profitieren indirekt. Die Sweatshirts, Jacken, Hosen und anderen Textilien, die sie herstellen, landen am Ende auch in deutschen Kleiderschränken. Von H&M bis Hugo Boss – die meisten bekannten Marken, egal ob billig oder edel, lassen in Bangladesch produzieren. Laut deutschem Modeverband wurden allein im ersten Halbjahr 2015 Textilien im Wert von mehr als zwei Milliarden Euro aus Bangladesch in die Bundesrepublik eingeführt. Nur China liefert mehr. Der Grund für den anhaltenden Exportboom: die nach wie vor geringen Produktionskosten und hohen Gewinnmargen für die Händler. Die Löhne in Bangladesch sind niedriger als anderswo. Gleiches gilt für Umweltund Sozialstandards, auch wenn die Einhaltung von Arbeitsrechten inzwischen ebenfalls strenger kontrolliert wird. Das Branchenmindestgehalt war nach Protesten von Arbeitern zuletzt 2013 auf monatlich 5300 Taka, umgerechnet 61 Euro, angehoben worden. Vorher waren es weniger als 40 Euro gewesen. Dies sei zwar immer noch mehr, als in anderen Bereichen gezahlt werde – unterhalb der Armutsgrenze liege der Textilmindestlohn trotzdem, sagt ÖkonomieProfessor Anu Muhammad von der Universität Dhaka. Gleichzeitig gibt er zu bedenken, dass jede Lohnsteigerung die Gefahr berge, dass sich Einkäufer ein anderes Billiglohnland suchen, Äthiopien etwa. Der seidene Faden, an dem die Wirtschaftskraft Bangladeschs hängt, hier könnte er wieder reißen. Dabei gibt es durchaus Firmen, die versuchen, die Billiglöhne mit besseren Arbeitsstandards in Einklang zu bringen, wie ein Besuch bei Epyllion zeigt. Die Unternehmensgruppe betreibt fünf Fabriken in Bangladesch. Eine davon liegt im Distrikt Gazipur. 5000 Mitarbeiter nähen dort Shirts, Strickjacken, Polohemden und mehr für C&A, S.Oliver und G-Star. Unternehmensvertreter Javed Ahmed wirft zur Begrüßung Folien mit Zertifikaten und Auszeichnungen an die Wand, die das Engagement der Firma für soziale Themen, den Umweltschutz und gegen Korruption unterstreichen sollen. „Uns geht es nicht nur ums Geld, auch um das Wohl unserer Mitarbeiter“, bemerkt er. Bei einem Rundgang durch die moderne Produktionsstätte Nach der Katastrophe: Dutzende starben beim Einsturz der Textilfabrik Rana Plaza. Foto: dpa/Abir Abdullah geht es vorbei an der kostenlosen Krankenstation, der kleinen Betriebskita und einem Tagungsraum, in dem Angestellte gerade an einer Sicherheitsschulung teilnehmen. Eine Musterfabrik, so scheint es. Mit den Näherinnen sprechen dürfen Journalisten trotzdem nicht. Und es gibt auch keine unabhängige Arbeitnehmervertretung bei Epyllion. Lediglich von der Firma eingesetzte Komitees, wie sie das Gesetz inzwischen vorschreibt. „Jeder möchte von der billigen Arbeit profitieren, die Rechte der Arbeiterinnen spielen da eine untergeordnete Rolle“, meint Nazma Akter. Die Gewerkschafterin macht sich vor allem für den 75 bis 80 Prozent großen Anteil an Frauen in der Branche stark. „Wir wollen, dass sie ihre Stimme erheben“, sagt sie. Obwohl die Zahl der Betriebsgewerkschaften insgesamt gestie- gen ist, seien noch immer vergleichsweise wenig Näherinnen darin organisiert – weil sie fürchten müssen, entlassen zu werden, so Nazma Akter, die früher selbst als Näherin gearbeitet hat. Hinzu kämen Probleme wie unbezahlte Mehrarbeit, Überstundenzwang, fehlende Unterstützung für junge Mütter, nicht rechtskonforme Arbeitsverträge oder sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz. Kinderarbeit hingegen gebe es keine, sagt Nazma Akter – allerdings nur, wenn es um die 4000 großen Modefabriken gehe. Anders sehe es in den kleinen, nicht registrierten Betrieben aus, die in Elendsvierteln und Hinterhöfen für den Binnenmarkt oder als Zulieferer produzieren und deren Zahl niemand genau kennt. In Sabhar klafft heute auf dem Gelände des einstigen Rana Plaza ein großes Loch, die Trümmer sind verschwunden. Die Auf- Foto: OGA/Thomas Gutke arbeitung der Katastrophe aber dauert an. Es gab einen Untersuchungsbericht und Gerichtsverfahren, unter anderem gegen den Eigentümer, der das Gebäude illegal um zwei Stockwerke hatte erweitern lassen. Organisationen, Unternehmen, Regierungen reagierten mit Programmen und Absichtserklärungen. Auch die Bundesregierung brachte ein Textilbündnis auf den Weg, das die Lieferketten für Verbraucher transparent machen soll. Die Internationale Arbeitsorganisation verhandelte mit Modeunternehmen und Händlern über Entschädigungszahlungen für die Verletzten und Hinterbliebenen von Rana Plaza – 24 Millionen Dollar kamen zusammen. Auch half sie Betroffenen bei der Wiedereingliederung. Gegenwärtig bemüht sich die ILO gemeinsam mit Deutschland zudem um die Einführung einer gesetzlichen Arbeitsunfallversicherung. Viele Initiativen haben tatsächlich etwas bewegt. Andere dienen vor allem der Markenpflege – sozialverträgliche Kleidung verkauft sich eben besser. Dennoch: In Sabhar war im April 2013 nicht nur eine Fabrik eingestürzt. Das Unglück hatte auch viel mit den Konsumenten zu tun. Deshalb keine Kleidung mehr aus Bangladesch zu kaufen, hält Anu Muhammad für falsch. Der Ökonom aus Dhaka plädiert für einen anderen Weg: „In westlichen Gesellschaften sollte es einen Mindestpreis für Kleidung geben, so dass die Einkäufer keine Möglichkeit mehr haben, die Produktionskosten zu drücken. Denn das geht immer zu Lasten der Arbeiter.“ Die Recherche zu diesem Beitrag hat die Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen ermöglicht. Mehr unter: www.dgvn.de. Berlin/Tel Aviv (OGA) „Narbengesicht“ nannten ausländische Zeitungen ihn oder auch den „gefährlichsten Mann auf dem europäischen Kriegsschauplatz“: Otto Skorzeny, treuer Gefolgsmann Adolf Hitlers und als SS-Sturmbannführer der Mann für Geheimaufträge des Diktators. Und dann, nach dem Krieg, soll er dem jüdischen Staat geholfen haben, einen Staatsfeind auszuschalten? Die Geschichte von „Haaretz“ klingt unglaublich. 1948 aus einem US-Internierungslager geflohen, soll der Österreicher Jahre später vom Mossad angeworben worden sein. Demnach hatte sich Heinz Krug, Geschäftsführer einer deutschen Firma für Raketenantriebe und angeblich zur NS-Zeit Mitarbeiter an der Peenemünder Raketenversuchsanstalt, 1962 mit der Bitte um Schutz an Skorzeny gewandt. Er fürchtete um sein Leben, weil sein Unternehmen Raketentechnik an Ägypten verkaufen wollte, das damals mit Israel im Kriegszustand war. Auf einige Forscher waren bereits Anschläge verübt worden. Der Mossad habe Skorzeny mit dem Mord an Krug beauftragt, schreibt „Haaretz“. Mit Krugs Mercedes seien beide am 11. September 1962 in einen Wald bei München gefahren, gefolgt von einem Wagen mit drei mutmaßlichen Agenten. Dort sei der 49-Jährige erschossen, mit Säure übergossen und verscharrt worden. Die Leiche wurde nie gefunden. Und das Motiv? Skorzeny habe sich versprochen, von der Simon-Wiesenthal-Liste der Nazi-Verbrecher gestrichen zu werden, schreibt „Haaretz“. Möglicherweise wurde er auch vom Mossad erpresst. Denn Entführungen von NS-Verbrechern nach Israel fanden des Öfteren statt. Skorzeny, der Zeit seines Lebens glühender Nazi blieb, starb jedenfalls unbehelligt 67-jährig im Jahr 1975 in Madrid an Lungenkrebs. Otto Skorzeny (1908-1975) Repro: OGA Das Ende des „Roten Bündnisses“ Vor 25 Jahren löste sich der Warschauer Pakt auf / Moskau beklagt fehlende Reform der Nato Europa wäre heute sicherer, wenn sich die Nato 1991 reformiert hätte, meinen russische Militärs. Damals löste sich der Warschauer Pakt auf. Moskau sieht darin eine vergebene Chance. Von Wolfgang Jung Sowjetische Soldaten bei Jüterbog: Hier befand sich einer der größten Stützpunkte der Roten Armee in der DDR. Foto: dpa/Roland Holschneider Moskau (dpa) Die Beteiligten sprachen von einer „historischen Beerdigung“, aber niemand trug Trauerkleidung. Alle Augen blieben trocken, als vor 25 Jahren der Warschauer Pakt in einem schmucklosen Akt per Unterschrift zu Grabe getragen wurde. Die Auflösung des östlichen Militärbündnisses sei ein „lange erwarteter Tod“ gewesen, sagte der damalige bulgarische Prä- sident Schelju Schelew im März 1991. Und sein tschechoslowakischer Kollege Václav Havel meinte: „Es war ein schmerzloses Ende.“ Nur Moskau äußerte sich kritisch. „Ich bedaure nicht das Ende des Warschauer Vertrags. Ich bedaure nur, dass es die Nato noch gibt“, sagte VizeParlamentschef Wladimir Lukin. Die Hoffnung auf mehr Frieden war groß, als sich der Warschauer Pakt als Folge der Revolutionen in Ost- und Mitteleuropa nach 36 Jahren auflöste. „Europa als Modell einer Region ohne militärischen Konflikt – diesem Ziel scheinen wir näher zu kommen“, meinte der deutsche Nato-Generalsekretär Manfred Wörner damals. Ein Trugschluss: Dem Jugoslawien-Krieg folgten wei- tere bewaffnete Auseinandersetzungen, etwa in der Ukraine. Dass sich die Nato damals ebenfalls hätte auflösen oder zumindest reformieren müssen – diese Forderung ist auch ein Vierteljahrhundert nach Ende des Warschauer Pakts in Moskau oft zu hören. „Der Westen hat es im Triumphgefühl versäumt, Russland in eine neue Friedensordnung einzubinden“, meinte die Moskauer Zeitung „Kommersant“ vor Kurzem. Eine Folge davon sei die Instabilität in Jugoslawien und der Ukraine gewesen. Aus westlicher Sicht ist Russland für die Lage verantwortlich. Seit Auflösung der militärischen Strukturen des Warschauer Pakts am 31. März 1991 hat sich die einstige Trennlinie des Kal- ten Krieges fast 1000 Kilometer auf Russland zubewegt. Wohl niemand wusste damals, dass sich die Nato innerhalb weniger Jahre bis zur Ostgrenze Polens ausdehnen würde. Die meisten Länder Mittel- und Osteuropas haben sich von Russland abgewendet. Von der früheren Sowjetrepublik Estland bis zum ehemaligen Bruderland Bulgarien sind heute ein Dutzend Staaten der Region Nato-Mitglieder. Sie fühlten sich jahrzehntelang von Moskau unterdrückt und sehen das westliche Militärbündnis als Garanten ihrer Unabhängigkeit. Zehn Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg hatten acht sozialistische Staaten am 14. Mai 1955 in Warschau das Militärbündnis gegründet. Zu den Unterzeichnern gehörten Albanien, Bulgarien, die DDR, Polen, Rumänien, die Tschechoslowakei, Ungarn und die Sowjetunion. Als offiziellen Grund für den Zusammenschluss nannten sie den Nato-Beitritt der Bundesrepublik am 9. Mai 1955. Der Pakt diente aber wohl vor allem der Kontrolle Moskaus über die kleineren Bruderstaaten. Mit Gründung des Warschauer Pakts begann auch das Wettrüsten der beiden mächtigsten Militärorganisationen jener Zeit. Zeitweise hatte der Warschauer Pakt fünf Millionen Mann unter Waffen. 25 Jahre nach der Auflösung des „Roten Bündnisses“ richten sich die Blicke in diesen Tagen wieder auf Warschau. Im Juli trifft sich die Allianz in der polnischen Hauptstadt zum Nato-Gipfel.
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