Wenig macht so zufrieden wie der Geistesblitz zu einer

IDEEN ZÜNDEN
Wenig macht so zufrieden wie der Geistesblitz
zu einer bahnbrechenden Idee: Stresshormone
Gezielt
Ideen
zünden
gestoppt, Adrenalinkick eingeleitet, Freude und
Stolz fliessen, das Selbstvertrauen steigt.
Doch woher kommt der zündende Funke?
Auf den folgenden Seiten finden Sie Anzündwürfel für das kreative Feuer in Form
von bewährten Techniken.
Text Christian Kaiser Illustrationen Alice Kolb
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Das Team eines Hortes wird beauftragt,
«mehr kreative Ideen» zu entwickeln.
Und fragt sich: Was heisst das, sind Ideen
nicht immer kreativ? Das Küchenteam
einer Grossküche soll den Warenfluss
vom Einkauf bis zum Recycling verbessern. Wie können sie den Ideenfindungsprozess organisieren? Die Modedesignerin muss langsam die Winterkollektion
2018/2019 andenken. Wie packt sies an,
damit die Entwürfe rechtzeitig da sind?
Den Flow erleben
Kein Zweifel: Der Flow beim Kreieren
macht glücklich – und kreativ zu sein, ist
überhaupt nicht den Künstlerinnen und
Genies vorbehalten. Sie ist für alle der
Schlüssel zur kunstvollen Meisterung des
Alltags – beim Gärtnern, Kochen, Netzwerken, Lieben oder bei der Arbeit. Doch
immer öfter ist gerade im Job Kreativität
eben auch eine Vorgabe, ein Muss: Sie
wird in allen Branchen und auf allen Stufen gefordert. Und daneben drängen auf
dieser Erdkugel ganz aktuell auch noch
ein paar grössere und kleinere Probleme;
zu ihrer Lösung scheint quasi der Ideenreichtum der ganzen Menschheit gefragt
zu sein.
Kreativsein auf Knopfdruck, geht das
überhaupt? Ist Kreativität nicht viel eher
eine Gabe, ein Talent, das man entweder
hat oder nicht? Und ist die zündende Idee
zu etwas wirklich Neuem nicht einfach
eine Art Gnade, die irgendwie aus einer
höheren Sphäre kommt, etwas, das man
unmöglich gewollt herbeizaubern kann?
Zumindest gibt es Techniken, die den
Zustand begünstigen, in welchem einem
die Ideen zufliegen.
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Da Vincis Geheimnis
Leonardo da Vinci etwa soll den sogenannten «Bäckerschlaf» praktiziert
haben: Der Bäcker sitzt am Tisch und
legt den Kopf auf die auf der Tischplatte
verschränkten Arme. In der einen Faust
über dem Tisch hält er einen Schlüsselbund. Sobald er in den Tiefschlaf verfällt,
löst sich die Umklammerung, und der
Schlüsselbund trifft klingelnd auf dem
Boden auf – der Bäcker wacht auf. Die
Bäckerzunft soll diese Technik zur zeitsparenden Regeneration genutzt haben,
da Vinci, um sein Unbewusstes für Ideen
anzuzapfen. Ziemlich erfolgreich: Leonardo da Vinci hat u. a.skizzierend den
Helikopter erfunden, notabene über
400 Jahre bevor die ersten Hubschrauber
auch wirklich abhoben.
Die unversiegbare Quelle
Andere schwören auf den Powernap nach dem Mittag oder darauf,
den Wecker eine Viertelstunde vor
der normalen Aufwachzeit zu stellen.
Einige finden Zugang mit Tiefenent­
spannung in der Meditation. Wieder
anderen hilft es, schneller zu schreiben,
als man bewusst denken kann, um das
Unsichtbare zu Papier zu bringen
(→ Écriture automatique,
Seite 26). Kreativität scheint
irgendwo in uns zu schlummern. «Ideen sind in ihrem
Ursprung nichts anderes als
Empfehlungen unseres Unbewussten, bestimmte Dinge
miteinander zu verknüpfen»,
schreibt der erfahrene Kreativitätscoach Wolfgang A. Erharter.
BUCHTIPPS
Wolfgang A. Erharter
Kreativität gibt es nicht –
wie Sie geniale Ideen
erarbeiten
Redline 2012
Mihaly Csikszentmihalyi
Flow und Kreativität –
wie Sie Ihre Grenzen
überwinden und das
Unmögliche schaffen
Klett-Cotta 2015
Ernst Pöppel/Beatrice Wagner
Von Natur aus kreativ –
die Potenziale des
Gehirns entfalten
Hanser 2012
Dieses Unbewusste sei kein mystisches, fremdartiges Wesen, sondern «der
Teil des Denkens und Fühlens», der
schon längst tätig ist, bevor das rationale
Denken aktiv wird. Erharter und andere
nennen die Quelle unserer Ideen das
«Vorbewusste». Die beruhigende Nachricht dazu lautet: Jede und jeder hat sie
und kann aus ihr schöpfen. Erharter: «Sie
können davon ausgehen, dass Sie immer
oder zumindest immer wieder Ideen
haben werden.» 1949 war diese Idee
noch völlig neu: «Jeder Mensch ist kreativ!», hatte Joy Paul Guilford bei seinem
Antritt als Präsident der American
Psychological Association verkündet.
Damals war das eine Sensation.
Gehhilfen durch den Ideenwald
Die Frage ist nur, wie man die Eingebungen auch dann bekommt, wenn man sie
braucht. Das Problem dabei: Da die kreativen Prozesse im Unbewussten ablaufen,
lassen sie sich auch nicht so einfach
beschreiben und vor allem schwer steuern. An diesem Punkt setzen die Kreativitätstechniken an; sie sind gewisser­
massen mentale Gehhilfen, um Probleme
in einem strukturierten Prozess zu lösen.
Frank Berzbach
Die Kunst ein kreatives
Leben zu führen
Verlag Hermann Schmidt
Mainz 2013
Ihr Zweck ist es, Ideen zu erzeugen, kreative Sprünge zu ermöglichen, Querdenken zu fördern oder zu Erfindungen und
Innovationen zu gelangen.
Kreativitätstechniken bringen gezielt
jene Faktoren mit ins Spiel, welche
gemäss den Erkenntnissen der Kreativitätsforschung neue Ideen und Lösungen
begünstigen. Neben dem Zugang zum
Vorbewussten fördern vor allem das
Staunen und Spielen, Spass und Neugier,
gezielte Perspektiven- und Rollenwechsel, bewusstes Wahrnehmen (Achtsamkeit) und die innere Bereitschaft, ganz
neue Wege zu gehen, die Originalität.
Kritiker, darunter auch Wolfgang
A. Erharter in seinem Buch «Kreativität
gibt es nicht», monieren, dass wahrhaft
kreative Menschen keine Kreativitätstechniken brauchen. Die Erleuchtung lasse
sich nicht durch die Anwendung einer
Technik herbeizwingen. Der Aha-Moment
ergebe sich erst dann, wenn man das Streben danach losgelassen habe. Doch: Wer
schöpferische Arbeit macht, kann oft nicht
warten; weder auf die Musse noch auf
den Musenkuss. Dann können Kreativitätstechniken sehr wohl von Nutzen sein.
Dann, wenn man die Ideen jetzt braucht.
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Das Team als Ideenlieferant
Marcel Delavy etwa leitet in Zürich eine
Firma für Produkt-Design. Zu seinen
Kunden gehören renommierte Firmen wie
Mettler-Toledo, Mammut, ABB, Stöckli
oder die Post. Im Entwicklungsprozess für
seine Auftraggeber setzt er mit seinem
achtköpfigen Team regelmässig bewährte
Techniken wie 635 (→ Seite40), Brainwriting (→ Seite 44) oder Design Thinking
ein. «Innovatives Design ist Teamarbeit», sagt er, «und so kann ich den Ideenpool meiner Mitarbeitenden nutzen.»
Für Delavy ist das Entscheidende, die
wesentlichen Schritte im Designprozess
im richtigen Moment zu tun; dann, wenn
es das Projekt-Management erfordert.
Phasenweise kreativ?
Verschiedene Modelle unterteilen den
Erschaffungs- und Denkprozess in Phasen. Bekannt ist das Vier-Phasen-Modell
von Graham Wallas von 1926 mit den
Phasen: 1. Präparation (Problemerkennung), 2. Inkubation (unbewusste Weiterverarbeitung der Information), 3. Illumination (Erleuchtung, Geistesblitz) und
4. Verifikation (Machbarkeit und Umsetzung). Entscheidend für den kreativen
Durchbruch in der Phase 3 scheint es,
sich davor bewusst ganz anderen Dingen
zuzuwenden (→ Kreative Pause, Seite 50).
Timo Off hat die vier Phasen von
Wallas 2008 in ein einfaches BILD flies­
sen lassen:
B eschreibung des Problems: Problem
erkennen, beschreiben, Ziele definieren
I nformationsanordnung: Informationen
sammeln, ordnen, Ursachen analysieren,
Zusammenhänge erforschen
L ösung: Querdenken, Perspektivenwechsel, Distanz schaffen zum Problem, Entspannung
D arstellung bzw. Durchsetzung: Lösungsansätze ausarbeiten, bewerten, verwerfen und umsetzen
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Denkstile kombinieren
Wesentlich ist, dass in diesen vier Phasen
zwei völlig unterschiedliche Denkarten
zum Einsatz kommen. In den Phasen 1
und 2 (B und I) sowie 4 (D) ist klares
logisch-analytisches Denken gefragt,
während in der dritten Phase das kreativintuitive Denken zum Zug kommen soll.
Für diese eigentliche Lösungsphase ist
es also zentral, einen möglichst offenen
Zugang zum Vorbewussten zu schaffen.
Jede Form von Kritik ist hier tabu. Kreativitätstechniken, die den ganzen vierstufigen Prozess abbilden (→ z. B. Sechs
Denk-Hüte-Technik, Seite 68), holen
ganz gezielt in der jeweiligen Phase den
gewünschten Denkstil ab.
Kreativität hält sich aber nicht an
phasenweise Vorgaben; nicht selten
kommt die zündende Idee, der funkenentfachende Geistesblitz genau dann,
wenn man etwas völlig anderes tut:
unter der Dusche, beim Betrachten
eines Bildes im Museum oder auf
einem Spaziergang (→ Seite 39).
Oft wird das Neue auch nicht aus
einer Struktur, sondern aus dem
kreativen Chaos geboren. Etwa in
Gärprozessen, die ganz unterschiedliches Material miteinander verknüpfen
(→ Kompostieren, Seite 31).
Das leere Lehrbuch
Dass Kreativität keinem Schema folgt,
zeigt sich insbesondere bei einer der ältesten Kreativitätstechniken der Menschheit, beim Schreiben. Hanspeter Ortner
hat in seiner Forschungsarbeit «Schreiben
und Denken» untersucht, welche Schreibstrategien erfolgreiche Schriftsteller
anwenden. Wichtige Erkenntnis:
Kein Einziger folgte dem
linearen Produktionsablauf,
wie er oft in Schulen gelehrt
wird (Orientierung, Recherche, Strukturierung, Schreiben der Rohfassung und
Überarbeitung).
Die Edelfedern fangen oft
hinten oder irgendwo in der
Mitte an. Sie hüpfen wild zwi-
2 6 Ideen für Ideen
Die Kreativitätstechniken auf den folgenden Seiten hätte man auch in
einem Worldcafé (→ Seite 54) zusammentragen können oder mit der
635-Methode (→ Seite 40). Doch das Rundum-Verfahren per Mail, das
wir nutzten, um Ideen abzuholen, war eher ein Brainwriting in der Form
200-1-20 Tage. Aus den eingegangenen Vorschlägen der Kursleiter/innen
und Mitarbeitenden der EB Zürich haben wir 26 Techniken ausgewählt,
die sich in Privatleben und Beruf als alltagstauglich erwiesen haben und
die wir zum Ausprobieren empfehlen können. Neben Klassikern (→ z. B.
Skizzieren, Seite 42, Osborn-Checkliste, Seite 32) finden sich auch Eigenentwicklungen (→ z. B. Wahrnehmen – Assoziieren – Fragen, Seite 36,
Bisoziation mit Bildern, Seite 52) und ganz unkonventionelle Methoden
wie der dadaistische Gedicht-Generator (→ Seite 70) oder die Kritikasterei (→ Seite 64).
schen den Phasen hin und her. Vom einfachen Drauflosschreiber (→ Seite 26) bis
zur Superplanerin, die ihren ganzen Plot
auf riesigen Plakaten in Stichworten festhält, bevor sie den ersten Satz schreibt –
es gibt einfach alles. Nur: Niemand folgt
schön der Reihe nach den einzelnen
Schritten im Lehrbuch. Also sollten auch
wir das wohl gar nicht erst krampfhaft versuchen. Wichtig ist, dass man überhaupt
anfängt und dann dranbleibt – Tag für
Tag (→ Schreiben oder gar nicht, Seite 61).
Den einzelnen Kreativitätstechniken lassen sich u. a. folgende für den
Kreativitätsprozess typische Funktionen zuordnen:
– Erfindung, Innovation
– Originalität: neue Wege beschreiten
– Staunen und spielen
– Vorbewusstes hervorholen
– Probleme erkennen, wahrnehmen, beschreiben
– Ideen sammeln
– Ideen ordnen, Muster erkennen
– Ideen weiterentwickeln, optimieren
– Dinge verknüpfen, Zusammenhänge schaffen
– Perspektivenwechsel, Denkmuster durchbrechen
– Gestalten, Ideen Gestalt geben, Ausdruck verleihen
– Lösungen suchen, fühlen, finden
– Konzepte erarbeiten
Das Handwerkszeug beherrschen
Kreativität ist Arbeit, Kreativität ist Handwerk, und die besten Voraussetzungen
dafür hat, wer sein Handwerk wirklich
beherrscht. Ganz egal ob das Kreativitätswerkzeug ein Musikinstrument,
ein Pinsel, eine Kamera, eine Programmiersprache, ein Bleistift oder eine Filmschneidesoftware ist. Erst wer die Standardanwendung völlig im Griff hat, kann
sich irgendwann in ganz neue Gefilde
vorwagen, wo noch niemand war.
Auch hier gilt die Experten-Regel:
erst 10 000 Übungsstunden führen für
das Durchschnittstalent allmählich zur
Meisterschaft, an den Punkt, wo man
sich erlauben kann, die Regeln zu brechen und das Alte neu zu variieren, weil
es in Fleisch und Blut übergegangen ist.
Wunderkinder und Genies ausgenommen. Das wichtigste Erfolgsrezept für
Wir haben versucht, herauszufiltern, wie die empfohlenen Techniken
funktionieren und wozu sie taugen, sowie abzuschätzen, in welchem Verhältnis Aufwand und Ertrag zueinander stehen. In der Übersicht auf
Seite 74 lässt sich auch ersehen, in welcher Phase im Kreationsprozess
sie nutzbringend eingesetzt werden können.
Nehmen Sie dieses EB Navi doch einfach mit an die nächste Sitzung
oder auf die einsame Hütte in die Berge, wenn Sie vor Ihrem nächsten
Schöpfungsakt stehen. Und vergessen Sie nicht, Ihre Synapsen vorher
mit Neugier und Spass zu befeuern, dann gehts garantiert leichter.
Das ist wissenschaftlich erwiesen.
Kreativität ist drum simpel: lernen und
üben, ausprobieren, scheitern und neu
anfangen. So entwickelt jede und jeder
im Verlauf seines Arbeits- oder Künstlerlebens eigene Methoden, um Ideen zu
generieren oder Aufgabenstellungen zu
lösen. n
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